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Daniela

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Die Auseinandersetzung mit dem Tod führt mich hin zum Leben.

A.-M. Tausch

In meiner Kindheit war der Tod für mich kein Thema. Ich kann mich nicht erinnern, daß er mit einem Tabu versehen war. Nein, es gab ihn einfach nicht. Ich weiß auch nicht mehr, wie wir mit dem Tod unseres Hamsters oder des Kanarienvogels umgegangen sind.

Der erste Tod, an den ich mich erinnere, war der Tod meiner Großmutter, die durch einen Autounfall starb. Es war die Mutter meiner Mutter, und ich weiß, daß meine Mutter eine sehr enge Verbindung zu ihr hatte. Aber wir redeten weder über ihre Trauer noch über die Grausamkeit dieses plötzlichen Todes. Auch der Tod der anderen Großmutter löste in mir keine Fragen aus, rüttelte mich nicht im Inneren wach.

Dies geschah erst mit der Krebserkrankung meiner Mutter. Als mir damals meine Schwester die Diagnose mitteilte, sagte ich nur: „Ja, ich weiß es.“ Ich wußte nichts, aber ich konnte nicht über mein Entsetzen und die Angst sprechen. Wahrscheinlich hatte ich früh gelernt, immer die Tapfere und Starke zu sein.

Doch, jetzt beim Schreiben kommt mir, daß ich indirekt dem Tod schon früher begegnete. Ich war zwei Jahre zuvor magersüchtig gewesen und kann mich sehr deutlich an eine Situation abends im Bett erinnern, wo ich einfach nicht mehr konnte, keine Kraft mehr zum Leben hatte. In der Situation hörte ich eine innere Stimme, die eindringlich zu mir sagte: „Wenn du jetzt nicht wieder anfängst zu essen, wirst du sterben.“ Nicht, daß ich akut gefährdet war, aber ich spürte: „Wenn ich jetzt den Weg weiter gehe, dann gibt es für mich kein Zurück mehr.“ Das war das erste Mal, daß ich so intensiv die Verknüpfung von Tod und Leben spürte. Die Nähe des Todes zeigte mir sehr deutlich: „Ich will leben!“ Vielleicht habe ich darum auch die Nähe des Todes so intensiv gesucht, weil ich diesen Lebensimpuls, diesen Lebenswillen in mir aufspüren wollte.

Nach der Diagnose der Krebserkrankung meiner Mutter begannen wir in der Familie über den Tod, über ihre und unsere Ängste zu sprechen, auch Fragen zu stellen, was nach dem Tod kommt. Angesichts des Todes erfuhr ich mit meiner Mutter eine sehr große Nähe und Vertrautheit. Sie hatte nun viel Zeit, und da ihr die Arbeit unwichtiger wurde, bekamen Begegnungen und die Suche nach der Spiritualität mehr Raum. Für mich verband sich die Nähe des Todes mit der Erfahrung, Nähe zueinander leben zu können, Zeit füreinander zu haben, zu reden, Gefühle zu leben, Da-Sein dürfen, ohne leisten zu müssen, ohne gut sein zu müssen, ohne perfekt zu sein. Dadurch öffnete sich in mir eine Tür zu meinem Inneren und die Gewißheit: „Es reicht, da zu sein, du mußt nichts Besonderes tun“. Angesichts ihrer Endlichkeit hatte ich das Gefühl, daß die Liebe einen weiten Raum einnehmen durfte. Es entstand eine große Verbundenheit, und ich glaube, diese Nähe und Intensität der Begegnung habe ich später immer wieder in den Sterbebegleitungen gesucht. Ich hatte das Gefühl: „Ja, hier darf ich lieben, hier darf ich meine Liebe zum anderen Menschen in seinem So-Sein zeigen, hier durch das Brennglas des Todes geschaut, zählt eigentlich nur, wie weit wir fähig sind zu lieben.“

Durch die Auseinandersetzung mit dem Tod, durch die Nähe des Todes verlor ich etwas von meiner Angst vor dem Leben. Ich war vorher jemand, die mit viel Angst im Leben stand: Angst vor der Dunkelheit, Angst, keinen Beruf zu bekommen, Angst, keinen Ort zum Leben zu finden, Angst vor Menschen, vor Begegnungen. Sehr viel Unsicherheit war in mir und hielt mich gefangen. Durch die Lupe des Todes weitete sich dieser Angstring, bekam Löcher. Durch die Bewußtwerdung der Endlichkeit öffnete sich für mich eine Tür zur Spiritualität. In mir wuchs Vertrauen: „Das, was dir passiert, wird stimmen. Es geschieht nichts mit Willkür.“ Ich begann zu vertrauen, daß ich in meinem Leben geführt werde, von Gott begleitet bin, nicht allein und verlassen. Zum anderen verloren durch den Gedanken an den Tod manche Angstvorstellungen an Kraft, z. B. was macht es angesichts des Todes, wenn ich mich jetzt blamiere oder mich lächerlich mache? Was macht es angesichts des Todes, ob ich dies nun schaffe oder nicht? Die Gewißheit wuchs in mir, daß angesichts des Todes vor allem die Momente zählen, in denen ich gewagt habe, mich offen zu zeigen, mich für die Natur geöffnet habe und Begegnungen und Berührtwerden zugelassen habe.

So begann ich die Hospizarbeit, und ich erfuhr damals, was meine Mutter in ihren letzten Lebensjahren sagte: „Die Auseinandersetzung mit dem Tod führt mich hin zum Leben.“ Ja, ich wollte leben, brach in mein eigenes Leben auf.

Dies brach jäh in sich zusammen, als mein Mann sehr plötzlich durch eine Gehirnblutung starb. Ich erlebte den Satz, daß mich die Auseinandersetzung mit dem Tod zum Leben hinführt, als Hohn. Der Tod war grausam und sonst nichts! Mein Lebenswille brach in sich zusammen. Nicht, daß ich an Suizid dachte, damals nicht, aber ich hatte keine Kraft, keinen Willen zum Leben, war viel zu müde und mürbe vom Leid und vom Leben, was sich darin zeigte, daß ich in dieser Zeit viel krank war.

Erst durch seinen Tod kam auch der Tod meiner Schwester, die sich sieben Jahre zuvor das Leben genommen hatte, gefühlsmäßig in mir hoch. Damals, als sie starb, hatte ich nicht die Kraft dazu, da hätte mich die Auseinandersetzung zu sehr in meiner eigenen Person bedroht. Mir scheint es, als ob ich damals einfach die Luft angehalten und die Augen zugemacht hätte, so als ob ich es dadurch ungeschehen machen könnte. Nun öffnete ich mich für meine Trauer um sie, konnte um sie weinen und auch meinen Neid und meine Eifersucht sehen, die es mir damals unmöglich machten auf sie zuzugehen, obwohl ich ahnte, daß es ihr nicht gut ging. Ihr Tod zeigte mir, daß die Trauer keine Zeit kennt und ihren eigenen Zeitrhythmus hat und mir sehr deutlich meine eigenen Schattenseiten spiegelte.

Der Tod meines Mannes zog mich vom Leben weg. In meiner Sehnsucht nach ihm wäre ich ihm am liebsten nachgestorben. Geholfen hat mir damals der Satz von Bert Hellinger: „Du bist tot. Ich lebe noch ein bißchen und dann folge ich Dir“. Ich darf ihm irgendwann folgen gab mir Kraft, noch einmal eine Lebensrunde einzulegen, an der ich jetzt, heute, neun Jahre nach seinem Tod, sehr viel Freude habe. Halt gaben mir damals auch Freundschaften. Für mich war es, als ob ich zwar meine große Liebe verloren, aber viele Freundschaften gewonnen hätte. Das war für mich neu, weil ich zuvor kaum Freundschaften gelebt hatte. Und ich fand viel Halt in der Arbeit, in der Leistung, im Wirken für andere. Das war damals für die erste Zeit für mich sicherlich sehr wichtig, aber irgendwann verselbständigte sich dieser Kreislauf von Arbeit, Bestätigung, Leistung, Erfolg. Mich selbst, die Daniela, gab es immer weniger, und ich glaube, wenn ich nicht in der Hospizarbeit gewesen wäre, also nicht immer auch herausgefordert gewesen wäre, mein Leben durch den Tod zu betrachten, ich wäre weiter den Weg des Erfolges und der Karriere gegangen. So aber spürte ich: „Nein, das ist nicht mehr das Leben, auf das ich im Tod zurückblicken möchte. Ich könnte zwar sagen, ich habe viel Wichtiges getan, aber die Frage, ob ich Daniela, ich selbst gewesen wäre, hätte ich mit Nein beantworten müssen, und ich spürte, daß mich all der Erfolg nicht wirklich erfüllte.“ Aber wie oder was möchte ich dann leben? Ich wußte es nicht, fühlte mich in einer großen Lebenskrise und begegnete dem Tod wieder auf eine andere Weise, indem ich immer häufiger an Suizid dachte, der Gedanke immer mehr Macht über mich bekam, mir in manchen Zeiten als einziger Ausweg erschien. Heute wo ich das aufschreibe, scheint mir dieser Gedanke sehr weit weg. Zum Glück, und ich bin sehr dankbar, daß ich in dieser Zeit Freunde und meine Therapeutin hatte, die mit mir an diesem Abgrund standen und mich festhielten.

Heute kann ich sagen, daß die Begegnungen mit dem Tod mich immer wieder ins Leben, in mein eigenes Leben hineingeschickt haben. Durch die Begleitung sterbender Menschen, durch meine eigene Begegnung mit dem Tod in seinen verschiedenen Formen ist mir das Leben wieder hell und lebenswert geworden. Jetzt beim Schreiben habe ich das Gefühl, daß ich in meinem Leben immer wieder zwischen Tod und Leben hin und her gewandert bin.

Schaue ich auf mein Leben zurück, so empfinde ich manchmal: „Oh, es war so unsagbar schwer. Es war zu sehr geprägt von Krankheit, Schmerz und Verlust“, und zu anderen Zeiten: „Ich bin sehr gesegnet und begnadet in meinem Leben, daß mich all das Schwere nicht hat verbittern lassen, sondern ich immer wieder zur Liebe und zum Leben gefunden habe. Ich bin der göttlichen Kraft zutiefst dankbar für dieses Leben.“ Und die letzte Stimme höre ich immer häufiger in mir.

Von meinem Leben habe ich das Gefühl, daß ich es eher „andersherum“ lebe wie andere: Es scheint mir, als ob ich zuerst durch Krankheit, Leiden und Tod gehen mußte, sehr, sehr alt war und jetzt immer jünger werde und zum Leben hingehe. Es erinnert mich an das Zitat von Erich Fromm:

„Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang.

Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, daß die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind.

Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden.“

Von daher stimmt auch dieses Buch jetzt zu dieser Zeit sehr für mich, stimmt mit meinem Weg überein: vom Tod zum Leben, Leben wollen, zur Lebensfreude.

Dieses Buch hätte nicht ohne die heilende Begegnung mit vielen Menschen geschrieben werden können, weil ich ohne sie nie die wäre, die ich heute bin. Es gäbe viele zu nennen, und ich wünsche mir, daß sich viele angesprochen fühlen, aber einigen Personen möchte ich meinen Dank aussprechen.

Der erste Dank geht an meine Mutter, durch die ich den Weg fand, mich mit dem Tod auseinanderzusetzen und darin Leben wachsen konnte.

Danken möchte ich meinem verstorbenen Mann: Auch wenn es mir schwer fällt es auszudrücken, weiß ich, daß ich ohne seinen Tod nicht zu diesem Selbstvertrauen und zu dieser Lebenskraft gekommen wäre.

Lis, ich möchte dir ganz innig danken. Du hast mir in Zeiten, in denen der Tod einen Sog auf mich hatte, durch deinen Lebenswillen immer wieder den Blick zum Leben hin ermöglicht, hast mich anfangs zum Leben verführt, bis ich selbst wieder diese Freude entdeckte. Du hast vieles in mir wachgeliebt und wachgelebt. Nicht nur das so leichte gemeinsame Schreiben der Bücher, auch in den gemeinsamen Seminaren, aber besonders auch immer wieder in der tiefen emotionalen Begegnung spüre ich, daß wir uns schon seit Urzeiten auf dem Weg begleiten.

Danken möchte ich meiner Therapeutin Marion Battke. Sie war mir wie eine Mutter. Ich habe die Therapie für mich wie einen Brutkasten für mein wahres Selbst erlebt: Vieles, was zu kurz gekommen war, durfte nachreifen, bekam Zeit, Nähe und Fürsorge.

Mein letzter Dank gilt Wolfgang Merz. Durch seine Person und seine Seminare habe ich gewagt, viele Grenzen zu überschreiten, meine Lebendigkeit zu leben, die Liebesweite und Lebensvielfalt auszuloten und mich zu weiten. Manche Übung in diesem Buch stammt aus seinem Training „Reifung und Wachstum“.

Jeder Tag ist kostbar

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