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1IM JETZT LEBEN Von der Zeit

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Es gibt ein großes und doch ganz ganz alltägliches Geheimnis.

Denn Zeit ist Leben.

Und das Leben wohnt im Herzen.

Michael Ende, in: Momo

Vielen Menschen begegnet die Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit, wenn sie sich mit Sterben und Tod konfrontieren müssen. Sie spüren dann, wie wesentlich die Zeit unsere menschliche Existenz bestimmt. Immer wieder haben wir staunend erfahren: Im Umkreis des Sterbens verändert sich das Empfinden von Zeit. Mit einer schweren Erkrankung, mit der Information darüber, daß ich nicht mehr lange zu leben habe, verändert sich die Zeit, das Verhältnis zur Zeit ganz wesentlich.

–Es ist mir nun bewußt, daß meine Zeit begrenzt ist.

–Zukunftspläne verändern sich, heben sich auf.

–Das Verlagern des Lebens auf ein Morgen wird unrealistisch. „Was weiß ich, wie es mir morgen geht?“

–Die vergangene Zeit wird aus einer anderen Perspektive betrachtet.

–Das Zeiterleben der Gegenwart verändert sich durch das Wissen um die Begrenzung.

–Zukunft wird unter Umständen etwas, das die anderen haben, z. B. der Baum oder der Partner.

–Die Frage nach der Zeit steht von nun ab im Zusammenhang mit ihrem Ende und den damit verbundenen Fragen nach der Ewigkeit oder der Zeitlosigkeit.

Eine Patientin antwortete auf die Frage, ob ihr die Zeit nicht zu lang würde:

„Wissen Sie, endlich habe ich in meinem Leben einmal Zeit. Ich habe das Gefühl, noch nie so viel Zeit für mich gehabt zu haben wie jetzt.“

Zwei Begriffe aus dem Bereich der Zeitbetrachtung können uns die ganz unterschiedlichen Dimensionen des Phänomens Zeit klären.

Da gibt es einmal den Begriff des Chronos. Von diesem Wort leiten sich verschiedene Benennungen her, die sich auf das exakte Messen der Zeit beziehen. Da ist das Chronometer, ein Apparat, der Zeit mißt; dann kennen wir die Begriffe chronologisch und auch chronisch. All diese Worte beziehen sich auf das messende, logische, geordnete Behandeln von Zeit.

Diese Art der Zeitmessung setzt uns oft unter Druck, veranlaßt uns dazu zu hetzen und durchs Leben, durchs Erleben zu eilen und es nur oberflächlich wahrzunehmen. Es gibt viele, viele Menschen, die fast ausschließlich nach dem Diktat dieser chrono-logischen Zeit leben und manchmal ganz unbestimmt empfinden, daß etwas mit ihrem Leben nicht in Ordnung ist, daß sie eigentlich gar nicht richtig leben. Sie haben dann ein schales, leeres, unbefriedigendes Gefühl dem Leben gegenüber und gehen oft in eine stille Resignation oder benutzen einen anderen Fluchtweg aus der Öde und Leere, wie zum Beispiel irgendeine Form der Sucht.

Die Griechen kannten den Begriff des Kairos, den Namen eines Gottes, der den „günstigen Augenblick“ oder „die rechte Stunde“ schenken konnte. In der frühchristlichen Philosophie sprach man vom Kairos als der „Fülle der Zeiten“.

Meister Eckhart schreibt: „Wo es die Zeit nicht mehr gibt, da ist die ‚Erfüllung‘ der Zeit. Dann ist der Tag voll, wenn vom Tag nichts mehr übrig ist. Soviel ist sicher, alle Zeit muß fort sein, wo diese Geburt (Gottes in der Seele) anheben soll!“ (lit.: Franz, Marie-Louise. Zeit. Strömen und Stille, Insel Verlag, Frankfurt, 1981)

Wir möchten Sie an einigen Erlebnissen teilnehmen lassen, die zeigen, wie dieser anderer Aspekt der Zeit erlebt wird:

„Als ich dich damals das erste Mal sah, hatte ich das Gefühl, die Zeit bliebe stehen, und ich erlebte etwas, das über alle Beschreibbarkeit hinausgeht. Es war mir, als würde ich dich schon immer kennen, und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, dich durch und durch zu kennen. All das dauerte nur einen kurzen Augenblick, der mir aber weit und zeitlos vorkam und mich mit einem stillen Glück und einer Art Gewißheit erfüllte.“

„Vor etwa fünfzehn Jahren hatte ich eine äußerst schmerzhafte Nervenentzündung. Die Medikamente milderten den Schmerz nur für kurze Zeit. Die krampfartigen Schmerzen kamen in Intervallen von etwa zehn Minuten immer wieder. Wenn ich heute daran zurückdenke, weiß ich, daß sich mein Zeitempfinden während dieser Erkrankung drastisch veränderte. Die Gegenwart damals kam mir sehr intensiv und lang andauernd vor. Die Zeiteinheit, in der der Schmerz da war, war von einer ‚dunklen, weiträumigen Dauer‘. Die Zwischenzeiten der Schmerzlosigkeit erschienen mir ‚kostbar, intensiv, lang und stark‘.“

In den Berichten begegnen wir einer Zeitqualität, die sich an der normalen Uhrenzeit nicht messen läßt. Es ist das Zeitempfinden, das von einer besonderen Lebens- oder Seinsqualität erfüllt ist und die in uns deshalb auch ein Gefühl von tief erlebter und erfüllter Zeit hinterläßt. Zeit ist eine relative Größe. Wir können in einem Augenblick mehr erleben als während eines ganzen Lebens. Gorch Fock sagt: „Wir können das Leben nicht verlängern, nur vertiefen.“ Den Augenblick ohne Vorstellung, ohne analysierenden Verstand genießen, heißt eigentlich, für Momente Ewigkeit zu erfahren.

Vielleicht mögen Sie beim Lesen dieses Textes für einen Moment innehalten und sich folgenden Fragen an ihr Leben zuwenden:

–Kann ich mich an Lebenssituationen, Lebensperioden oder auch an kurze Momente meines Lebens erinnern, von denen ich fühle und weiß, daß sie sich von meinem sonstigen „Alltagsleben“ durch eine andere Wahrnehmung der Zeit herausheben?

–Welche Gefühle hatte ich?

–Wodurch kam es zu diesem ganz anderen Erleben der Zeit?

–Haben die gefundenen Beispiele und Situationen meines Lebens Gemeinsamkeiten?

–Wie oft erlebe ich in meinem gegenwärtigen Leben diese andere Zeitqualität? Kann/will ich sie öfters erleben? Was kann ich dafür tun?

Die Zeit, die am Ende des Lebens als wesentlich und erfüllt dasteht, ist nur die, die wir intensiv erlebt haben. Viele Zeitperioden, die eher mechanisch wiederholend dahingingen, schrumpfen zusammen, sind nicht mehr erinnerbar und versinken damit in die Nichtexistenz. Was zählt, was bleibt, sind die bewußt, gegenwärtig gelebten und erlebten Augenblicke des Lebens. Wenn wir uns fragen, wie viel Zeit des Lebens wir wirklich gelebt haben, wird uns das möglicherweise tief erschüttern.

Jeder Tag ist kostbar

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