Читать книгу Fürstin des Lichts - Daniela Zörner - Страница 11
Kapitel 7
ОглавлениеBei meinem Eintreffen in Santa Christiana wirbelte der Priester geschäftig in der Kirche herum.
Überrascht sah er mich eintreten. „Ich glaubte dich schon verschollen. Geht es dir gut?“
„Ja doch, sicher. Und bei dir alles okay?“, fragte ich Raimund aus purer Nettigkeit.
Er strahlte über das ganze Gesicht. „Hervorragend! Unsere Orgel ist pünktlich zum Weihnachtsfest fertig geworden.“
Das nannte ich mal supertolle Neuigkeiten. Und sie verpassten meinem Stimmungsbarometer einen hübschen Schubs. „Komm, wenn du ein wenig Zeit erübrigen kannst, wollen wir sehen, wie sie klingt.“
„Leider bin ich kein Organist, Lilia. Wenigstens für die Weihnachtstage konnten wir noch eine zwar willige, doch recht unerfahrene Schülerin finden.“
Kurzerhand setzte ich Raimund auf eine Bank und strebte zu der Treppe, die auf die Orgelempore führte. Oben angelangt, floss meine Konzentration zu dem Instrument mit seiner Registratur, den Tasten und Pedalen. Auf die Schnelle fiel mir nur eine Komposition ein, die diesem ersehnten Augenblick gerecht würde: Johann Sebastian Bachs „Toccata und Fuge in D-Moll“.
Als klarer, schallender Lockruf entwichen den ersten Pfeifen kraftvolle Töne. Sie erfüllten den Kirchenraum mit erschauernder Wucht. Immer höher hinauf wie ein explodierender Geysir rauschte der Klang gegen die Mauern, in schnellen Kaskaden wieder hinunterstürzend. Abgelöst von zart ziselierten Zwischentönen, dem fulminanten Ende zustrebend. Dann elektrisierend rein die Fuge in himmelsstrebender Leichtigkeit, sich abwechselnd mit nachdenklichen Passagen. Und zum Schluss folgte ihr traurig irdisches Finale. Eine Ekstase aus Kompositionskunst und Akustik.
Am Ende stand Raimund da und reckte seine Arme euphorisch gen Himmel. „Wärst du ein Engel, würde ich auf Knien vor dir niedersinken“, verkündete er ergriffen.
„Wenn du mich jetzt ein bisschen allein lässt, darfst du mir für Heiligabend eine Wunschliste zusammenstellen.“
„Wirklich?! Du würdest für uns spielen?“
Dem Kerl kamen doch glatt Tränen der Rührung!
Kaum strebte Raimund dem Ausgang entgegen, betrat ich die Stufen zum Altar, kickte mit einem Fuß das Sitzkissen beiseite und verschränkte angriffswütig meine Arme. „Ihr schuldet mir eine Erklärung“, eröffnete ich unumwunden das Verhör.
Die Sternelben zeigten sich gut vorbereitet. „Lilia, wenn du zu Beginn die Wahl zwischen Elin und Leya gehabt hättest, für welche Elbe hättest du dich entschieden?“
Interessante Frage. Die strenge und anfangs sehr distanzierte Elin oder die burschikos warmherzige Leya? Wahrscheinlich wäre damals meine Wahl auf Leya gefallen. Ich spann die Vorstellung weiter. Wohlbehütet in einem „Glaskasten“ mit Dauerferien und seltenen Besuchen in Santa Christiana. Möglicherweise kein Erwachen des Elbenkindes und vor allem keine Hilfe für niemanden. „Wertlos für euch, aber glücklich. Ihr hättet mir die jeweiligen Konsequenzen vor Augen führen können.“
„Wir fürchteten, dies würde dich überfordern.“
„Warum haltet ihr mich andauernd für dermaßen beschränkt?“
„Darum geht es nicht, Lilia. Dein bislang schwerster und bedeutendster Kampf findet in dir selbst statt.“
„In der Tat“, antwortete ich mit unheilschwangerem Unterton, „und ich sehe kein Ende. Die Mischung aus Elbe und Mensch birgt mehr Katastrophengeläut als zweieiige Zwillinge.“
Kein himmlischer Widerspruch.
Die Gunst der Stunde nutzend, begann ich, sie mit einem Stapel unbeantworteter Fragen vor mir her zu treiben. „War es zur Fürstenhochzeit überhaupt statthaft, dass sich die Elbenfürstin mit einem Menschen einließ?“
„Belian trug wenig menschliches Erbe in sich, seine elbische Kühnheit wie Schönheit waren der Fürstin durchaus ebenbürtig.“
Plötzlich sah ich das magische Buch vor Augen. „Wieviele Elben befinden sich gegenwärtig auf der Erde?“
„Mit Leya sind es 28.“
„Wann wird ihr Bann aufgehoben?“, fiel mir eine dringliche Frage außer der Reihe ein.
„In der Neujahrsnacht.“
„Wieviele Mischwesen existieren heute?“
„Uns sind 15 bekannt.“
„Und wo befindet sich das Nächste?“
„In Schottland.“
„Und muss Elins Tod zwangsläufig kommen, weil ich ihn voraussah?“
„Ja und nein.“
Wie ich diese Auskunft liebte!
Die Sternelben hoben zu einem langatmigen Vortrag über die Spielarten des Schicksals an, bis ich kapitulierte.
„Was nützt die Gabe des Sehens überhaupt?“, fragte ich bockig weiter.
„Du siehst wahre gegenwärtige Ereignisse. Dagegen kann die nahe Zukunft beispielsweise durch Dämonen gestört werden. Ferne Ereignisse erscheinen dir als Traumwarnung.“
Zu den Dämonen sollte ich den Sphärenchor ebenfalls löchern, doch für heute langte es. „Habt ihr noch Fragen?“
„Bist du nun gnädiger gestimmt, Lilia?“
„Gnädiger?“ Ich lachte bitter auf. „Euer Nimbus als Unfehlbare und Hüterinnen der reinen Wahrheit ist hinüber. Ihr müsst schleunigst lernen, wie ein Mensch tickt, sonst mündet euer Projekt in einer, zumindest irdischen, Vollkatastrophe.“
Hörte ich da tatsächlich ein vielstimmiges Seufzen?
Auch nach unserem Disput blieb mein Seelenschaden ungeflickt.
Aus dem Buch „Inghean“
Das Menschenkind beginnt, die richtigen Fragen zu stellen. Bald muss Lilia den einen, vorbestimmten Weg des Schicksals wählen.
Von meinem Ausflug nach Santa Christiana zurückgekehrt, wurde ich abermals mit der kalten Atmosphäre meines Gartenhauses konfrontiert. Aufmüpfig machte ich kurzen Prozess. Um die zwei Eingangssäulen wanden sich Tannengirlanden mit silbernen Leuchtsternen in den Zweigen. Die Tontöpfe rechts und links der Treppenstufen erhielten Gestecke mit silbernen Laternen darin. Auch die Balkonbrüstung oberhalb bekam eine Girlande mit roten Schleifen und weißen Lichtern, ebenso diverse Fensterbänke. Dann ging ich um das Haus herum und verpasste der Terrasse weitere Gestecke. Große Laternen mit dicken, roten Kerzenstumpen beleuchteten nun die dünne Schneedecke darauf.
Elins silbernes Lachen erklang. „Willkommen daheim!“
Mühsam schluckte ich einen Kloß im Hals hinunter „Warte erst mal ab, bis ich im Haus fertig bin.“ Und fügte automatisch hinzu: „Nach dem Essen.“
„Du hast sie ins Kreuzverhör genommen“, merkte Elin ernst an, während ich eine Schüssel voll Salat bearbeitete.
„Nun, wenn du es so nennen willst. Jedenfalls ist die Zeit ihrer Winkelzüge und Märchenstunden vorbei – hoffe ich. Sie wissen, dass ich ihr Handeln gründlich hinterfrage. Und ebenso, dass ich sie im Stich lassen werde, wenn die Karten ab sofort nicht offen auf dem Tisch liegen. Egal, wie hoch mein Preis dafür sein sollte.“
Die Elbe erschrak über meine Worte. „Lilia, verkenne niemals ihre Macht!“
„Nein, im Gegenteil, die Macht der Sternelben versagt auf der Erde. Wir drei allein werden hier in der Stadt auf dem Schicksalsseil balancieren.“
„Wir drei?“, fragte sie verwirrt.
„Ja. Leya, du und ich.“
Elin guckte komisch.
„Was ist denn?“
„Ich dachte gerade an das naive Mädchen vor kaum einem Jahr. Aus meiner Schülerin ist meine Meisterin hervorgegangen.“
„Ach, hör auf! Du bist Jahrhunderte ohne mich zurechtgekommen. Im Gegensatz zu mir benötigst du weder Ausbildung noch Rat.“
„Was macht dich da so sicher, sehende Schwester?“ Sie erhob sich. „Die Arbeit ruft.“
„Gib auf dich acht, Elin!“
Nach vollendeter Mahlzeit zauberte ich, wie angekündigt, die Innendekoration. Frisches Tannengrün, rote und blaue Weihachssterne, Dufthölzer, Kerzen in jeder Größe, was immer das Sortiment an plastikfreien Zutaten hergab. Zur Belohnung winkte ein Schaumbad.
Anschließend trat ich, quasi um Buße zu tun, eine Nachtschicht am Schreibtisch an. Eingekuschelt in meinen Bademantel, stürzte ich mich auf die ellenlange Liste unerledigter Fälle für Katja. „Die Arme muss inzwischen schier verzweifeln“, gestand ich mir reumütig ein.
Mehrere Stunden später fehlte zum Schluss noch die mörderische Vorhersage für den kommenden Tag. Dieses Instrument entspannte die Lage zwischen den übrigen Kommissaren und mir deutlich. Meine anfängliche Praxis, ihnen allmorgendlich einen blutigen Prognosevortrag zum Kaffee zu servieren, hatte unausweichlich zu kollektivem Pulsrasen geführt. Schlicht zu ungesund. „So, fertig und senden.“ In meinem Geist hörte ich die Kriminalchefin über den unerwarteten eMail-Fund gleichzeitig lachen und weinen.
Bald würde die Morgendämmerung anbrechen.
Ich rief die Sternelben. „Wenn ich in diesem Augenblick wissen möchte, wo in der Stadt üble Machenschaften vor sich gehen, wie stelle ich das an?“
„Dies ist dir unmöglich. Das Sehen all der Gewalt und Not zugleich würde dich in den Wahnsinn treiben. Hüte dich!“
„Und die Alternative?“, maulte ich ob der neuerlichen Einschränkung.
„Du bekommst das Wissen von uns, wie gehabt.“
Autonomie ging anders. „Euer Rapport, bitteschön.“
Die alljährlich wiederkehrende Häufung von Diebstählen und Einbrüchen in der Vorweihnachtszeit produzierte aggressive Anspannung bei Dieben wie Ladenbesitzern.
Verständlich, dass der Inhaber eines Elektronikgeschäfts, vor dessen Laden ich eben aus dem Wagen stieg, nach der zweiten Totalplünderung seinem drohenden Ruin nicht länger tatenlos zusehen wollte. Aber deswegen gleich mit illegaler Pistole und Schlafsack in seinem Laden zu nächtigen, nun ja. Jedenfalls besaß der Einbrecher, der den Auftrag zur neuerlichen „Räumung“ ausführen sollte, ebenfalls eine Knarre. Mein Job, logisch: Blutvergießen verhindern, Täter festnageln.
Leider stellte sich der Inhaber als das größere Problem heraus. Ein ausgegorener Macho mit Phobie gegenüber Frauen – nur den intelligenten, versteht sich. Um vor dem Einbruch mit diesem Idioten rechtzeitig in die Pötte zu kommen, mussten unverschleierter Augenkontakt und obendrein Leuchteinsatz nachhelfen.
Äußerst knappe zehn Minuten später lagen Einbrecher und Inhaber derb fluchend nebeneinander.
Bis zum Sonnenaufgang sammelten sich auf der Habenseite vier unberechenbare Kriminelle, ein ausgebüxter Teenager, zwei vor dem Erfrieren gerettete Obdachlose, eine liebeskranke Selbstmörderin und ein im Pyjama umherirrender Rentner mit Alzheimer.
Millionenstädte kennen keine Pause.
Ohne eine einzige Stunde geschlafen zu haben, saß ich hinterher hellwach am Küchentisch. Nacheinander tanzten sieben verschiedene Weihnachtskarten an, bis die Letzte endlich meine Gnade zur Vervielfältigung fand. An den Fingern zählte ich durch: Raimund, Katja und Konny, Jan und John, Jay und Schorsch. Jede Einladung enthielt ein fett unterstrichenes Geschenke-Mitbringverbot. Den Spaß des Beschenkens wollte ich exklusiv für mich.
Als die Elbe kurz auftauchte, dämmerte mir die Kehrseite des Festes. „Aber, Elin, was machst du denn dann an Weihachten?“
„Oh, ich habe mich in Leyas Sommerparadies eingeladen.“
Befreit lachend war ich einen Augenblick versucht, ihr die Schote mit den Gnomen zu erzählen. „Nein, das wäre gemein gegenüber Leya.“ Stattdessen bot ich ganz harmlos an: „Du kannst ihr mein Weihnachtsgeschenk überbringen.“
„Was denn?“
„Ihr Bann wird in der Neujahrsnacht aufgehoben!“
Elin purzelten vor Staunen fast die Augen heraus. „Ja, ja, von wegen keine Meisterin“, murmelte sie im Entschwinden. Dann fiel ihr noch etwas ein und sie sandte folgende Botschaft: „Die Dämonen ziehen sich jedes Jahr zu Heiligabend zurück, sie hassen das pausenlose Glockengeläut. Erst nach Neujahr endet die himmlische Ruhe.“
Dämonen machten Ferien? „Echt skurril.“
Am späten Vormittag des Sonntags meldete sich Katja aus ihrem Büro und feuerte direkt eine krisendurchschüttelte Kanonade ab. „Verdammt, Lil, wo hast du gesteckt? Was meinst du eigentlich, was hier los ist?! Konntest du dein Verschwinden nicht mal vorher ankündigen? Mich einfach so im Stich zu lassen!“ Und der vorerst letzte Satz, flehentlich: „Kommst du morgen wieder?“
„Ja und nein.“
„Was jetzt?“
„Ich konnte nicht Bescheid sagen und ich bin morgen wieder dabei.“
„Na, wenigstens etwas.“
„Sei fair, letzte Nacht habe ich für dich stundenlang Fleißarbeit geleistet.“
„Ja-a, aber das Team.“
Wut und Frust der Kommissare summierten sich mittlerweile zu einem veritablen Tornado.
„Katja, behalte zwischen Weihnachten und Neujahr eine dünne Notbesetzung aus zwei Freiwilligen. Für alle anderen kündigst du morgen früh Urlaub an.“
„Bist du verrückt?“
„Tu es!“
„Unmöglich, ich …“
„Tu es einfach.“
„Aber die ganze Stadt kocht!“
„Katja, vertrau mir und mach.“
Zur Friedensinitiative am Montagmorgen im Kommissariat steuerte ich Leyas Spezialkuchen plus eine ehrliche Entschuldigung, das Team im Stich gelassen zu haben, bei. Keine Begründung, stattdessen die bauchgefühlte Vorwarnung, dies könne jederzeit erneut passieren. Kaum dadurch besänftigt, aber mit zaghaft aufkeimender Urlaubsstimmung, schritten wir zur Tagesordnung.
Das Stimmungsbarometer wurde ausgerechnet durch die Sternelben zurück in den Sturzflug katapultiert. Ergeben angelte ich Block und Kuli aus meiner Handtasche, schob beides Amelie nebenan zu und meldete mich energisch zu Wort.
Katja unterbrach sich mit unwilligem Schnauben, alle anderen schauten stirnrunzelnd auf.
Den Blick nach innen gerichtet, begann ich: „Vor fünfundzwanzig Minuten stieg eine 13-jährige Ausreißerin aus Potsdam an der Auffahrt Babelsberg in ein Fahrzeug nach Berlin. Ihr niedlicher Anblick hat dem Fahrer seinen Verstand verklebt.“ Hintendran diktierte ich sämtliche für die Fahndung notwendigen Daten.
Katja donnerte Befehle, zwei Leute sprangen auf.
Mich an den Ort des Geschehens versetzend, schilderte ich monoton: „Der Fahrer biegt auf den leeren Parkplatz an der Spanischen Allee ein. Er überwältigt sie. Er schließt sie im Kofferraum ein. Er fährt weiter. Er steuert die Ausfahrt ‚Hüttenweg‘ an. Er biegt in den Grunewald ein, sucht nach einem menschenleeren Weg. Er hält an. Er wird sich verschwommen seines Tuns bewusst, glaubt, er kann nicht zurück. Er steigt aus, öffnet den Kofferraum. Das Mädchen springt ihn verzweifelt an, entreißt sich seinen Armen, läuft los.“
Von einer Sekunde auf die andere schlug das Schicksal derart unerbittlich zu, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Wie in Zeitlupe sehe ich das rennende Mädchen sich an sein kränkliches Herz fassen. Mit panisch aufgerissenen Augen fällt sie nieder. „Zu spät, sie ist tot“, flüsterte ich tränenüberströmt.
Grabesstille im Raum.
Von weitem vernahm ich Katjas belegte Stimme. „Schnappt ihn euch.“
Sämtliche Augen ruhten auf mir, einige verstanden endlich, andere kämpften mit ihren Gefühlen.
Katja brüllte: „Holt mir den Scheißkerl! Sofort!“
Der Konferenzraum füllte sich unerträglich mit Ausdünstungen ihrer Emotionen, die die ganze Palette von Mitleid bis zu blankem Grauen abdeckten. Mühsam schaffte ich es, meinen Geist davor zu verschließen.
Elendig langsam begannen sich die Kollegen zu rühren. Mit schockstarrer Stummheit schrammten sie ihre Stühle überlaut zurück.
Ausgerechnet der stille Björn legte mir im Hinausgehen eine Hand behutsam auf die Schulter und meinte: „Damit würde ich nicht leben wollen.“
Vielleicht vermochte der tragische Tod des Teenagers jenes Bündnis zwischen uns allen zu schmieden, das ich mir so sehr wünschte.
Kurz danach kam Katja, nahe an der Schwelle zum Ausrasten, ratlos mit dem nächsten drängenden Problem an. Eigentlich hatte sie es bei unserer Morgenrunde thematisieren wollen. „Wir brauchen endlich Ersatz für Kai, und zwar eine Frau.“
„Soll ich mich darum kümmern?“
„Wenn du kannst, wäre das eine echte Entlastung.“ Sie blickte mir beinahe schüchtern in die Augen und krächzte schließlich: „Verdammt, Lil, wie hältst du das bloß aus?“
Nachdem sich der Raum geleert hatte, wandte ich mich mit hängendem Kopf meinen Grünpflanzen auf den Fensterbänken zu. Geistesabwesend griff ich nach der Gießkanne. Die Sternelben summten voller Trost. Solch eine Geste von ihnen lag weit zurück.
Doch die nächste Aufgabe drängte.
„Wo finde ich eine Ersatzfrau für Kai?“
„In Hamburg. Reise selbst dorthin, um sie zu überzeugen.“
„Wann?“
„Heute Nachmittag.“
Umgehend informierte ich die total überraschte Katja. „Ach, und noch etwas. Ich habe nicht nur dich, sondern Konny ebenfalls zum Fest am 1. Weihnachtstag eingeladen. Der Haken ist Konny.“
„Du willst einen Tipp, um ihn gnädig zu stimmen?“
„Kluges Mädchen.“
„Sein frustriertes Team beißt sich an einem miesen Fall die Zähne aus. Nach den super Erfolgen bei uns sieht Konny jetzt echt alt aus. Vielleicht macht ihn dieser Umstand ja zugänglicher für deine speziellen Fähigkeiten.“
Meine nachfolgende Schalte zu den Lichtwesen dauerte keine zehn Minuten. Die Einspeisung ihrer Informationen in mein Workpad erforderte ungefähr die doppelte Zeitspanne.
Entschlossen klemmte ich das Workpad unter meinen Arm und marschierte los zu Konnys Büro, Dezernat Wirtschaftskriminalität, im anderen Gebäudeflügel.
„Darf ich reinkommen?“
Die Überrumpelungstaktik funktionierte, der Kommissar wies auf einen Stuhl. „Soll ich raten? Katja hat Sie geschickt.“
„Falsch, ich suche einen Weg, Sie zur Anwesenheit bei meinem Weihnachtsfest zu bewegen.“
Entspannt lehnte er sich zurück. „Sie können doch angeblich in den Sternen lesen. Was steht denn dort so über mich?“
Ich grinste dreist. „Nichts Gutes! Sie sind ein Dickschädel, ein Arbeitspferd, ein Ignorant und vor allem ein gnadenloser Herzensbrecher.“
Er lachte schallend los. „Und solch einen Unhold wollen Sie einladen?“
„Katja steht leider auf Unholde.“
„Arbeiten Sie jetzt auch noch als Kupplerin?“
„Nur für meine liebste Freundin.“
Amüsiert kam er auf den entscheidenden Punkt: „Wie sieht denn nun Ihre Strategie aus?“
„Erst bringe ich Sie zum Lachen, Sie vergessen Ihre Furcht vor mir, ich öffne meinen Zauberkasten, Sie buchten endlich Ihre cleveren Täter ein. Als Happy End feiern wir ausgelassen Weihnachten.“
Pause.
Konny saß mit aufgestützten Ellenbogen hinter seinem hässlichen achtziger Jahre Furniertisch und ließ seine gespreizten Finger aneinander tippen. „Gans oder Truthahn?“
„Truthahn.“
Richtige Antwort.
„Na, dann zeigen Sie mal Ihren Zauberkasten her.“
Später fragte Konny zum Abschied leicht spöttisch: „Und Sie spielen den Racheengel? Können Sie überhaupt schießen?“
„Ich trage keine Waffen.“
Das stimmte zwar nur für irdische Verhältnisse. Aber ich genoss seine, leider kaum in Worte fassbare, komplett entgleitende Mimik, als ich ohne weitere Erklärung davonging.
Spiel, Satz und Sieg!
Die Zugfahrt nach Hamburg nutzte ich, um über passende Geschenke für meine Kollegen und Weihnachtsgäste zu grübeln. Jeder sollte etwas ganz Besonderes bekommen. Ungeniert spannte ich die Lichtwesen mit ein. Die Abwechslung schien ihnen sogar zu gefallen.
Zumindest bis zu der Frage: „Und was wünscht sich Elin?“
Erst wollten sie mal wieder nicht mit dem Sound heraus. Unwirsch erinnerte ich die Sternelben an unsere Vereinbarung. Wobei es sich dabei ehrlicherweise um meine einseitige Forderung nach Offenheit und Ehrlichkeit handelte, egal.
„Elin möchte den Unterricht mit dir fortführen.“
„Ach! Und wieso verschweigt sie mir das?“
„Weil wir dich pausenlos in Beschlag nehmen.“
„Der Unterricht ist wichtig, oder?“
„Ja, ausgesprochen wichtig.“
„Also, dann strengt euch mal an, dass wir nach Neujahr irgendwie Zeit dafür finden.“
„Sehr wohl, Lilia!“
Auf den letzten Drücker besprachen wir hintendrein noch hastig meine Vorgehensweise in Hamburg.
Nach Ankunft des ICE in Hamburg-Altona gegen 18 Uhr lotsten mich die Lichtwesen durch ein Gewirr unbekannter Straßen bis zu einer Bar. Deren Eingangstür erinnerte an einen riesigen Fassdeckel. Unschlüssig blieb ich davor stehen. „Eine Bar? Um diese Uhrzeit?“
„Sie gehört ihrem Vater. Du hast gerade noch Zeit, um Katja die Aufklärung des tödlichen Unfalls mit Fahrerflucht zu übermitteln, der sich zwischenzeitlich ereignete.“
Ich hörte kaum, mein Hinterkopf dafür umso präziser zu. Während ich die Fasstür anstarrte, klickten in meinem Gehirn einige Denksteine aneinander. „Machen die Dämonen das? Treiben sie die Menschen zu solch perversem Handeln?“
„Ja, Lilia, daraus saugen sie ihre Befriedigung – sofern sie satt sind.“
Die wichtigste Info unseres Gesprächs überhaupt, nämliche ihre Anmerkung „sofern sie satt sind“, landete zu meiner Schande direkt im Langzeitspeicher.
„Aber wussten die Dämonen im Gegensatz zu euch schon vorher von der hirnlosen Fahrerflucht?“
„Nein, sie greifen ein, wenn sie zufällig in der Nähe lauern.“
„Am Nachmittag?! Bedeutet das, im Winter mit seinem ständigen, wolkenverhangenen Zwielicht und seinen ewig langen Nächten laufen die Monster zur Hochform auf?“
„Gut mitgedacht.“
„Aber wie manipulieren sie die Menschen?“
„Die Dämonen hauchen ihre Opfer an.“
Eine widerlich abartige Vorstellung, die mir Brechreiz verursachte. „Kann das jeden treffen?“, fragte ich würgend und betrat dabei sichtlich überstürzt die schummrige Bar.“
„Nein, nur jene Menschen mit sehr wenig Gutem in ihrer Seele.“
Über die Horrormonster vergaß ich glatt Katja anzurufen. Und bevor ich das ebenfalls vergesse: Die Bar bot keinerlei Schutz vor Dämonen.
Trotz der frühen Uhrzeit bestellte ich an der Theke einen Gin Tonic.
„Achtung, Lilia, deine Kandidatin betritt die Bar.“
Rachel, eine rothaarige Mittzwanzigerin, schlenderte lässig auf den Tresen zu. „Hi Paps.“
„Na, wieder erfolgreich Verbrecher gejagt?“
„Geht so. Im Grunde genommen bräuchte man dafür einen siebten Sinn. Dann müssten wir nicht pausenlos hinter solchen Typen her humpeln.“
Ungeniert mischte ich mich in ihr Gespräch ein. „Siebter Sinn? Und wenn Sie den besäßen?“
Cool abschätzend guckte sie herüber. „Verstehen Sie einen Funken von Polizeiarbeit?“
„Kripo Berlin“, gab ich ebenso lässig zurück.
„Ach nee, die mit dem Racheengel! Stimmen die Gerüchte?“
Die Story zog anscheinend langsam Kreise.
„Ja, absolut.“
Sie blinzelte irritiert und rückte zwei Barhocker näher. „Eher weniger gesetzestreu, euer Treiben, was?“
Ich sah ihr direkt in die grünen Augen. Prompt begann ihre coole Fassade zu bröckeln.
„Der Racheengel arbeitet erstens unbewaffnet, zweitens verübt er, anders als der Name behauptet, niemals Rache.“
„Und wer steckt hinter dieser mysteriösen Person?“
„Ich.“
Rachel schnappte verärgert nach Luft. „Sie sind doch höchstens mal 20 Jahre alt. Verarschen kann ich mich selber!“
„Rufen Sie an“, forderte ich die Kommissarin auf und hielt ihr mein Handy hin.
Unwillig raunzte sie: „Weiß die Nummer nicht.“
„Chefin ist Katja Rainer, für die Durchwahl drücken Sie einfach auf ihren Namen im Adressbuch.“
„Und wie heißen Sie?“
„Lilia.“
Drei am Telefon gelauschte Minuten später hatte sich eine gewisse Blässe in Rachels sommersprossigem Gesicht breitgemacht.
„Können wir uns in Ruhe unterhalten?“
Langsam wies sie auf eine halbrunde, plüschrote Couch in einer düsteren Ecke der noch leeren Bar. „Möchten Sie einen Kaffee?“
„Danke, ich bin versorgt“, deutete ich auf mein halb volles Glas.
„Paps, bist du so lieb und machst mir einen Espresso?“
„Kommt sofort.“
Kaum saßen wir, fragte Rachel mit spürbarer Verwunderung: „Warum sind Sie überhaupt hier?“
„Um Sie für Katjas Team abzuwerben.“
Erstaunt schossen ihre Augenbrauen hoch. „Wieso ausgerechnet mich, eine Anfängerin?“
„Sie sind jung, engagiert und verfügen über einen wachen Instinkt. Aber vor allem besitzen Sie eine ausgeprägte Antenne für Mystizismus.“
Erschrocken wollte sie wissen: „Wie haben Sie das herausbekommen?“
„Reine Begabung, tut hier nichts zur Sache. Entscheiden Sie sich für Berlin, werden Sie garantiert mehr Geheimnisvolles oder Irrationales erleben, als Sie sich im Moment vorstellen können.“ Mit voller Absicht stellte ich den Mut der blutjungen Kommissarin auf die Probe.
„Ich – muss mir Ihre Geschichte erst mal durch den Kopf gehen lassen.“ Wie ein Stehaufmännchen schwankte sie zwischen krasser Neugier und unbestimmter Furcht.
Beschwichtigend unterbreitete ich Rachel einen Vorschlag. „Nutzen Sie Ihren morgigen freien Tag und erscheinen Sie im Berliner Präsidium. Um Punkt 9 Uhr beginnt unsere Teambesprechung.“
Die Adresse kritzelte ich auf einen Bierdeckel und erhob mich. Ernst fügte ich hinzu: „Sie sind unsere erste Wahl.“
„Wird Rachel kommen?“
„Natürlich.“
Vom Zug aus informierte ich Katja – auch über den flüchtigen Todesfahrer. Sie war mit ihrem Kopf ganz woanders und schimpfte: „Wir machen uns gerade für die Operation Supermarkt startklar. Warum müssen die bis Mitternacht geöffnet haben? Irgendwann wollen wir auch mal schlafen.“
Kein normaler Mensch kam, so wie ich mittlerweile, auf Dauer mit maximal drei Stunden Schlaf aus. Über diesen Gedanken schlief ich ein.
Die Sternelben hetzten mich erneut los, kaum dass ich wieder im Berliner Hauptbahnhof einlief. Mein angeschwollener Lichthunger musste noch länger warten.
„Lilia, der Überfall auf den Supermarkt hat eine dramatische Wendung genommen. Sie brauchen dich.“
Noch vom Bahnsteig aus unterrichtete ich Katja. „Bin auf dem Weg. Ruf sofort Krankenwagen und Notarzt.“
Wie eine Furie raste ich aus der Tiefgarage des Hauptbahnhofs, nahm auf dem Großen Stern einem Lieferwagen die Vorfahrt, trat auf der Straße des 17. Juni das Gaspedal bis zum Anschlag durch, als mein Fahrstil der Besatzung eines Streifenwagens übel aufstieß. Mit jaulendem Blaulicht zwangen sie mich auf die Bremse.
„Katja, zwei Streifenkollegen wollen meinen Führerschein kassieren.“
„Gib dein Handy weiter.“
Kostbare Minuten gingen verloren. Endlich forderte mich der ältere Kollege auf: „Fahren Sie dicht hinter mir!“
Mit Blaulicht und Jauline trafen wir am weiträumig abgesperrten Supermarkt in der Schützenstraße ein.
„Bereiten Sie sich auf einen Bauchschuss vor“, befahl ich dem desinteressiert dreinblickenden Sanitäter des Krankenwagens im Vorbeilaufen. Katja kam mir entgegen gesprintet. Mit abwehrenden Händen keuchte ich: „Keine Zeit, alle in Deckung, sofort. Wartet, bis ich rauskomme.“
Kurz vor der gläsernen Eingangstür aktivierte ich ohne Stopp meinen Körperschutz und formte eine Blendkugel. Schon stürmte ich ins Innere des Supermarktes, pfefferte dem überraschten Täter die Kugel ins Gesicht, setzte nach, entwand ihm die Pistole und rammte fast gleichzeitig mein spitzes Knie in seinen Magen. Atemlos zauberte ich Handschellen für Hände und Füße herbei. Vorsichtshalber bekam seine Waffe einen Tritt gen Tür.
Der Filialleiter lag in seiner Blutlache, genau zwischen den zwei Kassen. Mit meinem jämmerlichen Restposten magischer Kraft mussten gut achtzig ohnmächtige Kilo behutsam auf die Arme genommen werden. So stolperte ich, Zähne zusammen gebissen, hinaus zum Krankenwagen.
„Wird er es schaffen?“
„Ja, gut gemacht, Lilia.“
„Lil?“ Katja steuerte, aschfahl im Gesicht, auf mich zu. „Du bist ein Engel! Aber du brauchst unbedingt Dienstausweis und Blaulicht.“
„Könnte mich irgendwer nach Santa Christiana bringen?“, flüsterte ich matt durch heftigen Schwindel.
Katja fing mich geistesgegenwärtig auf.
Als Björn mit seinem Dienstwagen den Parkplatz der Kirche erreichte, hing ich bewusstlos im Sicherheitsgurt. Ein Segen, dass Raimund just in diesem Moment ebenfalls sein Auto abstellte.
Mein Kollege stieg aus und sprach ihn ebenso ratlos wie hoffnungsvoll an. „Lilia sitzt ohnmächtig im Wagen.“
„Ich kümmere mich um sie, alles in Ordnung.“ Raimund trat an die Beifahrertür, löste meinen Sicherheitsgurt und hob mich heraus. „Fahren Sie ruhig, Lilia wird länger hier bleiben.“
Bei Björn stauten sich immer neue Fragen über mich auf, mehr noch als bei anderen Teammitgliedern. Restlos ausgepowert zog er kopfschüttelnd Leine.
Tief in der Nacht kam Raimund nochmals nach mir sehen. In bedauernd gebührendem Abstand zum sternelbischen Lichtkegel blieb er stehen. „Was machst du bloß für Sachen, Lilia? Als Racheengel durch die Stadt ziehen, du bist doch keine Superwoman.“
So, so, selbst bei ihm war der Groschen gefallen. „Raimund, ich habe keine Wahl. In dieser Stadt findet eine Schlacht statt, bei der Menschen die ersten Opfer sind.“
„Aber du bist selbst ein Mensch“, mahnte er voller Sorge.
„Ich fürchte, würdest du mich in Aktion erleben, dann kämst du zu einem anderen Schluss.“
Seine wichtigste Frage kam mit gärender Verzweiflung unterlegt heraus: „Sind sie gar keine Friedensstifter, sondern kriegerische Wesen?“
„Glaub mir, sie wünschen sich Frieden auf der Erde. Doch ihr mächtiger Feind vertritt nun mal gegensätzliche Ansichten“, lächelte ich verkrampft.