Читать книгу Fürstin des Lichts - Daniela Zörner - Страница 13
Kapitel 9
ОглавлениеDie sogenannten Tagstunden servierten ein ebenso deftiges Programm. Im frostigen Morgengrauen startete ich mit Überlegungen, wie all jene am Weihnachtsfest zu beglücken wären, die mir im Laufe des Jahres in ihrer Not begegneten. Etwa die frustriert-verhuschte Designerin, die es einfach nicht fertig brachte, ihren alten Studentenjob aufzugeben. Statt Werbung für ihre todschicken Entwürfe zu machen, fristete sie als Garderobenfrau im Volkstheater ihr ärmliches Dasein. Kurz bevor der letzte Lebensfunke erlöschen wollte, zündete ich flammenden Mut in ihr. Oder der arbeitslose Verkäufer von Obdachlosen-Zeitungen, den ich in der S-Bahn traf. Ein talentierter Kopf voller Ideen, der sich mit Suff und Drogen selbst den Boden unter seinen Füßen weggedröhnt hatte. Mit festem Wohnsitz und geringem Startkapital beförderte ich ihn auf eine neue Zielgerade. Jeder noch so winzige Anschub bedeutete ein gerettetes Leben. Und jedes erneut geschenkte Leben versprach wiederum, dass ein weiterer Mensch mit wachen Augen und helfenden Händen durch die Stadt ging. Die Chancen, marodierenden Dämonen ihre Hölle unter den Füßen zu vereisen, mussten eben bloß genutzt werden. „Aber wieso kapiere ich die Zusammenhänge erst jetzt?“
Die Sternelben kappten meine ausschweifenden Gedanken, indem sie noch vor dem Frühstück weitere Arbeit anmeldeten. „Raimund quält sich, besuche ihn bitte am Nachmittag.“
„Was treibt ihn nun wieder um?“
„Er sah abermals Licht in der Kirche und hat eine Erklärung verdient.“
„Finden die Fragen meiner Mitmenschen denn nie ein Ende?“, maulte ich.
„Frag dich selbst!“
„Haha, überaus witzig.“
Im Kommissariat saß Katja ebenfalls auf vor Neugierde glühenden Kohlen.
„Du siehst ziemlich alt aus“, bemerkte sie in ihrer direkt-schmeichelhaften Art, als ich auf ihren Schreibtisch zusteuerte.
„Danke, die Gnade herrlichen Schlafes wurde mir leider verwehrt.“
Sofort besorgt, übte sie mütterliche Kritik: „Du treibst es mit deiner Maloche echt ziemlich auf die Spitze.“
„Klar, der super Aussicht wegen“, hielt ich flapsig dagegen.
„Du, sag mal, was ist denn jetzt mit Konny und der Weihnachtsfeier?“
„Och, der ist inzwischen mein größter Fan.“
„Lilia!“
„Katja!“
„Nun sag schon“, quengelte sie wie auf Schokoentzug.
„Hab ich doch!“
Sie machte auf Rumpelstilzchen, biss bei mir jedoch auf Granit. Schmollend blieb sie hinter ihrem Schreibtisch zurück.
Am Ende unserer morgendlichen Teamrunde schwärmten die Kollegen in Zweiergrüppchen zu ihren Einsätzen oder zumindest entsprechenden Vorbereitungen aus.
Der Gebrauch von Headsets war mir schlicht ein Gräuel. Aber Vierteilung war nun mal keine machbare Option, um überall gleichzeitig mitzumischen. Folglich mussten die Trupps bei überlanger Arbeitsliste, so wie heute, aus dem Konferenzraum heraus von mir dirigiert werden.
Die Kommissare hingen bereits halb in ihren Urlaubsseilen. Freie Bahn für geistige Aussetzer.
„Lilia, wir haben den Kerl festgesetzt.“
„Und seine Komplizin?“
„Häh?“
„Ich hatte John doch gebrieft, dass sie zu zweit arbeiten.“
Jan brüllte in mein Ohr: „John, du Vollidiot!“
Axel und Katja bewältigten ihren Zugriff erst im dritten Anlauf. Der getürkte Dealer wollte auf sehr spezielle Art selbst mal den Racheengel spielen. Also verschenkte er reines, todbringendes Heroin an seine besonders zahlungssäumigen Kunden. Da der Mauerpark sein angestammtes Revier war, kannte er jedes Versteck, jede Fluchtachse. Und außerdem roch er Bullenpack bereits 100 Meter gegen den Wind.
Mit Wucht hätte ich sie allesamt in den Allerwertesten treten mögen.
Letztlich ging auch dieser Tag vorüber.
Total genervt begab ich mich auf den Weg zur geistigen Baustelle im Pfarrhaus.
Die mit jedem städtischen Staukilometer anwachsende Vorfreude auf frisch gebackenen Trostkuchen wurde herb enttäuscht. Raimunds wunderbare Backgöttin weilte im Urlaub und so öffnete er selbst die Haustür.
„Na, Weihnachtspredigten fertig?“, begrüßte ich meinen Freund, der ungesund fahl im Gesicht wirkte. Ein leises Schnuppern an seiner Gefühlslage katapultierte mich auf Trockeneis.
Tonlos antwortete der Priester: „Nicht mal angefangen.“
Mit gebeugten Schultern klebte Raimund in den Abgründen einer Sinnkrise fest. Ich hakte mich bei ihm unter und bugsierte meinen Seelenpatienten ins Wohnzimmer an den runden Tisch.
„Na komm, erzähl, gib dir einen Ruck.“ Nebenbei ersetzte ich heimlich den abgestandenen Tee in der Kanne, das ausgebrannte Teelicht im Stövchen und beugte mich zuletzt noch unter den Tisch. Eine Tüte gezauberter Schokoladenplätzchen kam aus dem Shopper zum Vorschein. „Hier, greif zu, hilft prima gegen Gedankentriefen.“
„Ach Lilia, wo soll ich überhaupt beginnen?“
„Bei dem unbekannten Verursacher des Lichts?“
Seine Miene hellte sich geringfügig auf. „Weißt du denn die Antwort?“
„Sicher kenne ich die Antwort. Wir beide sprachen neulich sogar darüber.“
Erstaunt schaute er auf. „So, tatsächlich?“
„Elben, lieber Raimund.“
Mit vollem Mund brachte er nur ein gekeuchtes „Wos?“ hervor.
„Einige wenige befinden sich auf der Erde.“
„Großer Gott“, entschlüpfte es ihm, begleitet vom nächsten Gefühlsschwall.
Aus Selbstschutz zog ich eine innere Wand dagegen hoch. „Nein, falsch“, korrigierte ich Raimund. „Das Licht ist göttlich, gut und weiblich, die Finsternis ist göttlich, böse und männlich. Ergibt in der Summe also Götter, wie du dich vielleicht erinnerst.“ Am Ende meiner Geduld angelangt, gab ich schnodderig hinzu: „Brate dir daraus, was du willst für deine Predigten.“
„Lilia!“, pfiff es misstönend aus der Sphäre.
„Ruhe da oben!“
„Was tun sie hier?“, fragte Raimund jetzt ratlos.
„Okay, weiter im Takt“, seufzte ich still und ergeben. „Dasselbe wie ich, sie nehmen in der Kirche ihre lebensnotwendige Lichtenergie auf.“
Ungeduldig fuchtelte er mit den Armen. „Ja sicher, aber was tun sie?“
„Sie kämpfen gegen Dämonen.“
Zusammenhanglos stieß Raimund unvermittelt bitter aus: „Du darfst sie sehen!“
„Aha, das ist also sein Casus Knacktus. Und ich kann seine Sehnsucht niemals lindern. Fremde Menschen mit einem neuen Leben beschenken, aber dann den eigenen Freund hängen lassen.“ Verstohlen wischte ich mir Verzweiflungstränen aus den brennenden Augen. „Liebster Freund, bitte glaube mir, spätestens bei den Dämonen ist ‚dürfen‘ die falsche Umschreibung. Sei froh, dass sie vor euch verborgen bleiben. Im Angesicht ihres teuflischen Treibens fühlst du dich als Mensch echt miserabel. Jedenfalls, sofern sie dich dafür lange genug am Leben lassen.“
Weder in meinen eigenen Ohren noch in Raimunds aufgeputschtem Geist klang das Argument überzeugend. Eben dies stand auf seiner gefurchten Stirn. Fieber bekämpfte man nicht mit Ratio, sondern mit Eis.
„Hat euer Lichtgeschwader da oben rein zufällig eine Eisbombe für mich?“
„Seinen vermeintlichen Gott bekam er niemals zu Gesicht!“
„Das ist knallhart gefühllos!“, warf ich ihnen entrüstet vor.
„Dann mach es besser, Lilia“, erwiderten die Sternelben pikiert.
„Pah, geht euch etwa tatsächlich auch mal die Puste aus?“
„Mäßige dich!“
Ich hatte kein bisschen ein schlechtes Gewissen.
Raimund wartete noch immer auf mehr.
„Eine vernünftige Eingebung, bitte!“
Was ich etliche Sekunden später absonderte, war weit entfernt von hitverdächtig: „Fast dein gesamtes Leben glaubst du an einen Gott, ohne ihn jemals gehört, geschweige denn gesehen zu haben, Raimund. Und ausgerechnet jetzt, wo du von mir exklusiv mehr Erkenntnisse über das Göttliche bekommst als jeder andere Priester, was sage ich, jeder andere Mensch auf diesem Planeten, läuft deine demütige Wissensaskese regelrecht Amok.“
Damit traf ich voll ins Schwarze. Mein Priester machte mit reuiger Miene und erhobenen Händen das Peace-Symbol.
„So, nun schreibst du brav eine Predigt über das Seelenleuchten in der Finsternis. Das passt zum Fest, zur Jahreszeit, zum Stadtmoloch und überhaupt. Noch Fragen?“
„Aber …“
„Was noch?“, stöhnte ich auf.
„Warum existieren dann überhaupt unsere Religionen?“
„Diese Frage musst du bitte an die versammelte Menschheit richten“, kam meine prompte Antwort aus dem Bauch heraus.
„Ich gebe mich geschlagen, Einstein.“
Für meinen Hinterkopf war Raimunds spannende Frage dagegen alles andere als abgehakt.
Ausgebrannt sprang ich ohne Kirchenbesuch ins Auto. „Genug! Keine Ergüsse menschlicher oder göttlicher Gehirnwindungen mehr in meine bemitleidenswerten Ohren.“
Sie gaben sich und mir für die Abkühlungsphase noch weitere neun Minuten.
„Lilia.“
„Nein!“
„Wir bitten dich“, säuselten sie.
„Also wirklich! Jetzt kommt ihr mir auf die Tour?“
„Ein Kinderheim?“
Ergeben steuerte ich den Wagen in die nächste Haltebucht für Linienbusse. „Also schön. Wie, wo, was, warum und so weiter, schießt los.“
Keine zwei Minuten danach empörte ich mich: „So eine Sauerei! Wenn ich die alte Hexe zu fassen kriege, klaut das Geld für die Weihnachtsgeschenke der Heimkinder. Erst Hexe einbuchten oder erst Geschenke organisieren?“
„Lass Konrad die Übeltäterin schnappen, du hast Einiges gut bei ihm.“
„Auch wieder wahr.“ Sofort griff ich zum Handy. „Hallo, Konny. Könntest du für mich eine Hexe fassen?“
„Bist du betrunken?“
„Sie ist Leiterin des Kinderheims Bärwald.“ Atemlos spulte ich die Fakten herunter, bis er einlenkte.
„Wir rücken ihr auf den Buckel.“
Offensichtlich besaß er doch ein klitzekleines bisschen Humor.
Einen Kleintransporter, vollgepackt mit Geschenken, mal eben in die Nähe des Lankwitzer Kinderheims zu zaubern, kostete mich eine geballte Ladung an Energie. Augenblicklich bereute ich den starrsinnigen Aufbruch von Santa Christiana. Doch meine Sorge, der interne Akku könnte warnblinken, erwies sich als grundlos.
Beim Entladen der vielen bunt verpackten Pakete mangelte es keineswegs an hilfreichen Händen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde über das Wundermobil unter den kleinen Bewohnern ausgebreitet. Logisch, dass sie am liebsten auf der Stelle ihre Bescherung wollten. Darauf war ich vorbereitet. Zum Schluss kam ein mächtig großer Karton, beklebt mit funkelnden Sternen, zum Vorschein. Daraus verteilte ich lauter kleine Überraschungen, die die ungeduldigen Kinderseelen bis Heiligabend besänftigen würden.
„Bist du ein Weihnachtsengel?“, erkundigte sich ein braungelockter Dreikäsehoch mit gewichtiger Miene, als er sein Päckchen bekam.
„Und falls ja?“
„Dann wünsche ich mir von dir statt Geschenke ganz liebe neue Eltern.“
Am liebsten hätte ich den Bengel einfach unter den Arm geklemmt und mitgenommen. Doch genauer hinschauend, stand in den viel zu ernsten Augen all der anderen Kinder derselbe Wunsch geschrieben – in Großbuchstaben. Das tat schrecklich weh.
„Die neue Heimleitung wird sich gut um sie kümmern, Lilia.“
Lächelnd blickte ich reihum in ihre zarten Gesichter. „Alles wird gut.“ Zu mehr als dieser blöden Floskel sah ich mich außerstande. Dann winkte ich zum Abschied.
Mit verdächtig feuchten Augen wieder hinter meinem Lenkrad hockend, vergaß ich den Motor zu starten. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Kleinen glücklich werden. All diese bösartigen Menschen, wo kommen die bloß her? Das Christentum appelliert doch pausenlos an das Gute im Menschen, von Kindesbeinen an.“
„Du kennst die Antwort darauf, Lilia.“
Innerlich ausgequetscht wie eine Zitrone, verschob ich unter heftigen Gähnattacken das Thema. Vor allem mochte ich keinesfalls daran denken, wieviele Kinderheime noch in dieser Stadt existierten. Egal in welches Fass die Lichtwesen meinen Kopf steckten, grundsätzlich fehlte der Boden. Energisch wischte ich mir über die Augen, bevor ich endgültig den Motor anwarf.
Sechs Stunden geschlafen, welch ein Luxus. Beinahe wäre Katjas neues Schlachtmenü für den letzten Arbeitstag vor der Weihnachtspause verspätet in ihrem Postfach gelandet.
„Was ist das für eine merkwürdige Geschichte mit Amelie?“, begehrte ich von den Sternelben während des Frühstücks zu erfahren.
„Die Kommissarin hat an einem Beichtstuhl gelauscht.“
„Unsere tugendhafte Amelie?“
„Leider fehlen ihr die Beweise, um einer mordsmäßigen Heiratsschwindlerin das Handwerk legen zu können.“
„Aber ihr habt Beweise?“
„Eine heikle Aufgabe für die Spurensicherung. Nur ein falsch gesetzter Fuß, und aus.“
„Ach so, das ist deren Spielwiese.“
„Irrtum, Lilia. Denn Katja erhält von dir den Wohnungsgrundriss mit eingezeichneten Nummern. Eine Liste schlüsselt die dazugehörigen Beweisstücke auf.“
Ich lachte rau. „Ihr klingt inzwischen wie die Rentner-Gang der Kripo.“
Meist traf ich eine halbe Stunde vor meinen Kollegen im Kommissariat ein. Dann saßen Katja und ich in ihrem Chefbüro zusammen. Wir tranken Tee beziehungsweise tintenschwarzen Kaffee und besprachen dabei ihre Detailfragen zum Tagesmenü.
Heute dagegen blieb ich mit dem Wagen im „Blitzeisberufsverkehrschaos“ stecken, wie es der Radiomoderator nannte.
Gemeinsam mit Jan und Axel traf ich erst zehn Minuten nach dem regulären Beginn unseres Meetings ein. Doch es hatte noch gar nicht begonnen, als wir schnell unsere Plätze einnahmen.
„John hängt mitten in der Vollsperrung der Stadtautobahn, also fangen wir an“, bestimmte Katja.
Zunächst ließ sie Amelie ihre Zufallsentdeckung mit der Heiratsschwindlerin schildern.
„Die wollte sich doch nur beim Priester wichtigmachen, vielleicht steht sie auf den.“ Thomas, Oberschwafler vom Dienst und Experte für Handfestes, verpasste mal wieder als Einziger, dass ich Amelie bestätigend zunickte. Die Verständigung per Mimik unter Kollegen endete regelmäßig mit seinem Einwurf: „Kann mir mal einer sagen, was gebacken wird?“
Doch siehe da, Axel machte ihn rund. „Mann, Thomas, halt die Luft an. Je schneller wir fertig werden, desto eher fängt der Urlaub an. Oder, Lilia?“
Innerlich schmunzelnd dachte ich an seine freudig-erregte Vorstellung von Urlaub, nämlich komplexe Programmierarbeiten bei den Wirtschaftskollegen. Laut forderte ich: „Ihr müsst bewerkstelligen, dass kein noch so winziger Beweis vernichtet wird.“
„Das bedeutet Zugriff auf die Tatverdächtige außerhalb ihrer Wohnung“, zog Katja die richtigen Schlüsse aus meinen Unterlagen. „Lil, kannst du die Frau aufspüren?“
„Klar.“
Katja erteilte Amelie zum ersten Mal das Kommando.
Bildfetzen, wie aus einem unscharfen Clip, funkten meine grauen Zellen an. „Was ist das denn?“ Mich aus der Besprechung abkoppelnd, schien es, als säße ich vor einer Kinoleinwand. „Der Jungenstrich am Bahnhof Zoo?“ Jugendliche steigen ein und aus …
„Lilia. Lilia?“
Verwirrung, das Bild verzerrte, löste sich auf.
„Lilia, wann soll es losgehen?“
„Lilia, du musst zurück in deinen Geist, schnell! Die Heiratsschwindlerin in zwei Stunden“, kommandierten die Sternelben im Marschgesang.
Hektisch rief ich: „In zwei Stunden. Stellt sofort ein weiteres Team auf. Absolute Funkstille für mich!“
Die aufkeimenden Frustgesichter im Konferenzraum verblassten, je stärker sich mein Blick nach innen richtete.
Der Junge, kleinwüchsig und dürr, beugt sich in ein geöffnetes Wagenfenster, feilscht um den Preis. Er steigt ein. „Ist das bereits Vergangenheit?“ Sofort fährt der SUV los und verlässt die City. Der Fahrer lenkt seinen Wagen in ein Neuköllner Wohngebiet und steuert dort eine Tiefgarage an. Oben drüber befinden sich Eigentumswohnungen aus den 80ern.
Unterirdischer Filmriss für anderthalb Minuten.
Die Zwei tauchen aus dem Fahrstuhl im Dachgeschoss auf. Es enthält lediglich eine einzige Wohnung.
Mit gespielt lässiger Neugier betritt der Junge, sicher höchstens 15 Jahre alt, die fremde Wohnung. Der kräftig gebaute, etwa 50-jährige Freier holt aus seiner Küche zwei Gläser Bier. Das geübt präparierte Glas in seiner linken Hand reicht er dem Jungen. Gemeinsam setzen sie sich auf die rustikale Couch. Plötzlich hebt der Junge mit verwirrtem Blick seinen Kopf, der nur Sekunden später vornüber sackt. Sein Freier trägt ihn in das schallisolierte Hinterzimmer. Dort wirft er den Jungen auf das Bett, zerrt ihm sämtliche Kleider vom Leib und fesselt ihn an das Geländer des massiven Bettgestells.
Jan, Thomas sowie der mittlerweile eingetroffene John saßen, geduldig wartend, mir gegenüber.
„Lilia, ihr müsst in 25 Minuten dort sein, sonst ist es zu spät.“
„Keine Zeit für Erklärungen. Wer kann Türen aufbrechen?“
Thomas hob den Arm.
Die Kollegen spurteten hinter mir her zu den Fahrzeugen.
In allerletzter Minute hob ich diesen schmächtigen Körper, der sich sofort in purer Verzweiflung an mich klammerte, hoch. Der Servierwagen neben dem Bett, vollgepackt mit penibel sortierten Folterinstrumenten, zeigte erst geringe Blutspuren. Schiere Verzweiflung packte mich.
„Lilia, verschließe deine Augen, du marterst sie.“
„Entschuldigt bitte“, flüsterte ich und kümmerte mich um die Schnittwunden des Jungen.
Jan kämpfte mit ihren Tränen, John starrte eine Wand an. Thomas führte das Schwein ab.
Mit dem vor Schock zitternden Jungen betrat ich kurz darauf das Wohnzimmer. Krampfhaft versuchte ich zu witzeln: „Na dann, veranstalten wir mal Tütentango.“ Von der Couch aus dirigierte ich das Team durch die Wohnräume.
„Was wird nun aus dem Jungen? Er soll nie wieder auf den Straßenstrich!“
„Fahre den Jungen nach Bärwald.“
„Ist er für das Heim nicht zu alt?“
„Keine Sorge. Erzähle ihm unterwegs die Geschichte von dem gestohlenen Geld.“
„Wieso?“ Wo war jetzt der Zusammenhang?
Ihre kryptische Ansage: „Darin steckt seine einzige Chance, den neuen Schicksalsweg für sich zu erkennen.“
Am frühen Abend versammelte sich nach und nach die komplette Mannschaft im Konferenzraum. Der Duft von Kerzen, Kuchen und Punsch hing schwer in der Luft.
Auf meinem Platz stapelten sich Geschenke zu einem beachtlichen Haufen. Sehnsüchtig wartete ich auf Santa Christiana, aber das Team verdiente Vorfahrt. Für ihre Aufmerksamkeit klopfte ich resolut mit dem Teelöffel gegen meinen Becher. „Einige, die nichts Besseres vorhaben, feiern das Fest bei mir. Euch übrige“, verkündete ich auf die Pakete deutend, „beschert schon vorab der Weihnachtsengel“.
„Hey, wenn ich das geahnt hätte, läge deine Einladung jetzt in der Tonne“, protestierte John zwinkernd.
„Pech für dich, her mit den Geschenken“, lärmten die Kollegen fröhlich durcheinander und schmatzten mir großzügig Küsschen auf die Wangen.
„Übermorgen ist Silvester!“ Kaum zu fassen, wie schnell mir die herrlich normal menschlichen Urlaubstage durch die Finger glitten. Allmählich verstärkte mein ausgeruhter Hinterkopf seine grüblerischen Aktivitäten. Etliche gewichtige Fragen tauten auf seiner Eisschicht an. Zum Beispiel, ob es den Menschen erheblich besser ginge, wenn sämtliche Dämonen erledigt wären. Nein, daran glaubte ich keinen Fingerbreit mehr. Und bestand das einzige Ziel der Elben im Dämonenkampf? Auch das würde keineswegs sämtliche Vorgänge erklären. Welches Ziel, quasi als persönlichen Leitstern, wollte ich mir für das kommende Jahr selbst stecken? „Austauschen müsste frau sich können.“ Warum trudelte erst jetzt der Einfall herein, dass ich dafür im Urlaub nach Schottland hätte düsen können? „Gelaufen, na toll.“ Als Nächstes fiel mir Leya ein. „Die verstreuten Elben kommunizieren doch bestimmt untereinander? Ob auch Halbelben das, genauso wie den Umgang mit Magie, während ihrer Ausbildung erlernen?“ Jede Frage poppte eine neue Frage auf, Fragenpopkorn, Fragensalat, Quizfrage. „Mensch, hör auf mit dem Mist!“, keifte mein Alter Ego. „Spreng deiner ewigen Fragerei mal die Abschussrampe weg.“ „Ja, ja. Was hältst du von folgendem Vorschlag? Erst frühstücken und danach im Feenhaus eine Runde brauchbarer Antworten einsammeln.“ „Wenn’s unbedingt sein muss.“
Den Bauch erheblich zu vollgestopft für die weite Strecke, kam ich im Jogger-Outfit schliddernd bis zum Gartentor. Die Nachtfröste, kombiniert mit sonnigem Tauwetter am Tage, hatten den allerorts festgetretenen Schnee in spiegelglatte Eispanzer verwandelt. „Spikes müsste frau haben. Niemand in Sichtweite?“ Abwechselnd hielt ich die Schuhsohlen zwecks magischer Nachrüstung in die Luft. Blieb nur noch zu hoffen, dass auf den Waldwegen keine Schneeverwehungen lagen.
Bald lief ich, die klare Luft tief inhalierend, mit Wonne durch die winterstille Landschaft. Hier und da wurde sie von einem rötlich-goldenen Sonnenstrahl beleuchtet.
„Och nö, sie sind fort!“ Das Feenhaus lag verlassen da. Erschöpft machte ich mich im Garten breit und grinste vergnügt über Leyas skurriles Kontrastprogramm. Im Haus hatte ich ein Übermaß höchst ausgefallener Weihnachtsdekoration bestaunt. Etwa tönerne Gnome, denen gläserne Engel mit dem Nudelholz drohten. Oder rote Filzteufel, die auf Eisschollen bibberten. Draußen wie immer flirrende Sommerzeit. „Eiskrem-Wetter mit Blues im Gehirn.“ Über diesen komischen Gedanken schlief ich ein.
„Nun seht euch diese Faulenzerin an“, empörte sich Leya, als ich von dem Duft heißen Kakaos aufwachte.
„Na, eine muss ja nach dem Rechten sehen, ihr Rumtreiberinnen“, konterte ich. „Wo wart ihr denn?“
„Wir haben bei Tageslicht die Fresken in Santa Christiana bestaunt.“ Leichthin bemerkte die Elbe: „Unsere Fürstin ist ausnehmend gut getroffen.“
Entgeistert stand mir der Mund offen. „Sie hängt unter der Decke?“
Die Zwei amüsierten sich königlich. So gegensätzlich waren sie in ihrer Art, dass sie einander wie Magnete anzogen.
„Wieso sagt mir das keiner?“, nörgelte ich und rief die Malerei in meinem Gedächtnis auf. „Welche ist es denn?“
„Die Elbe mit der winzigen Krone“, half Elin.
Die Krone war mir völlig entgangen. „Oh, Joerdis ist … ihre Augen sind …“ Mir fehlten die Worte für das Sehen und Fühlen beim Anblick der überirdisch schönen und stolzen Elbenfürstin. „Aber, sah sie denn wirklich so aus?“
Beide bestätigten es. Nun konnte ich gar nicht genug von ihrem Antlitz bekommen.
„Reiß dich mal los, du brauchst doch bloß in den eigenen Spiegel zu schauen“, polterte Leya ungeduldig.
Das Bild verflog.
„Du bist echt doof, niemals könnte ein Mensch so wundergeheimschön aussehen.“
Elin und Leya guckten sich an und brachen in trällerndes Gelächter aus.
Doch genau mit dieser fatalen Reaktion, so dämmerte Elin wenige Augenblicke später, hatten sie die nächste Chance verspielt, mich von dem real existierenden Double zu überzeugen.
„Lässt sich mit euch heute noch vernünftig reden? Ich müsste ein paar Fragen loswerden.“
Ergeben hockten sich die Elben vor mir auf den Rasen und wir begannen unseren Gedankenaustausch.
„Ja, Lilia, die Dämonen sprechen unsere universelle Sprache, denn wir besitzen einen gemeinsamen Stamm“, beantwortete Elin meine erste Frage.
„Und ihr verstreuten Elben, wie könnt ihr untereinander Kontakt halten?“
Überraschend traurig erklärte Leya, dies sei einzig über die Sternelben möglich.
Das war mir echt zu hoch. „Aber ihr besitzt doch die Fähigkeit, da zu erscheinen, wo immer ihr wollt.“
„Die Grenzen der Kontinente begrenzen auch unsere Fähigkeit des Seelensprungs von Ort zu Ort. Wir müssten wie die Menschen reisen. Doch ist es uns untersagt, unseren Wirkungsort zu verlassen.“
Wehmütig fuhr Elin fort: „Du bist Trägerin des letzten verbliebenen Amuletts. Vor langer Zeit dienten diese vor allem unserer Verständigung. Aber sie gingen in den Dämonenschlachten und Menschenkriegen verloren. Die Suche nach verschollenen Amuletten bleibt uns verwehrt, wie Leya dir gerade erklärte.“
Ein inneres Bild flackerte auf. Es zeigte mich vor einer Festung oder gewaltigen Mauer stehend. Mit spontaner Begeisterung verkündete ich: „Aber ich kann sie suchen!“
„Nein! Du würdest in unkalkulierbare Gefahren rennen, das ist die Sache nicht wert“, wiegelte Leya energisch ab.
„Nicht wert? Die wenigen für uns Menschen unschätzbar wertvollen Elben zusammenführen? Das nennst du wertlos?“
Elin ergänzte beschwichtigend, ich selbst sei für sie wertvoller als die Amulette. Dahinter keimte jedoch ihre Erkenntnis, dass dieser Zug bereits unaufhaltsam rollte.
„Absolut, Elin! Wenn die Sternelben wissen, wo die Amulette verborgen liegen, hole ich sie.“ Die Gelegenheit, mich mal zu revanchieren, musste beim Schopf gepackt werden.
„Dickköpfig wie ein Teenager …“, grummelte Leya.
„… und stur wie ein Maulesel“, vollendete Elin klagend den Satz.
„Na und?“, zuckte ich bloß mit den Schultern. „Falls ihr mich sucht, ich fahre vom Gartenhaus aus sofort nach Santa Christiana.“
„Wie umständlich“, murmelte Leya deutlich hörbar.
Selbstverständlich wusste der Sphärenchor etliches über den Verbleib der Amulette. Bloß wollten sie zum x-ten Mal keine Arie über ihre Geheimnisse singen. Ihre vorgeschobene Furcht um meine Sicherheit fand ich zwar nett, mir selbst war sie jedoch total egal.
Letztlich rang ich ihnen einen einzigen Versuch in Italien ab. Das Land war uralte Heimstätte der Dämonen, kam nebenbei heraus. Und da dachte jeder halbwegs gebildete Mensch bei Italien zuallererst an Kunstschätze, Kirchen und Kardinäle.
Neben italienisch trichterten mir die Lichtwesen noch ein gerütteltes Maß an guten Ratschlägen ein. Außerdem stellten sie die nicht verhandelbare Bedingung, die komplette Prozedur müsse binnen Tageslichtfrist bewältigt sein. Das bedeutete jetzt im Winter ein arg knappes Zeitbudget.
Am nächsten Morgen flog ich von Berlin-Tegel aus mit der ersten Maschine nach Rom.
Die Aktion verlief dermaßen unspektakulär, sprich Amulett am Ufer des Tibers aus dem Schlick aufrufen und wieder zurückfliegen, dass weitere Worte darum nur Papier verschwenden würden.
Elin und Leya erwarteten mich halb irre vor Sorge und Ungeduld im Feenhaus. Ich glaube, sie hätten mir am liebsten bei Jubelgesängen den blanken Hintern versohlt. Ehrfürchtig brachten sie das blütenförmige, mit Rosenquarz besetzte Schmuckstück wieder auf Hochglanz.
Übrigens umklammerte mich das Jagdfieber von diesem Tag an so fest wie zusammengeschmiedete Ketten. Doch wie das echte Leben so herumspielt, folgte zunächst eine harte Geduldsprüfung.
Am heutigen Abend allerdings feierten wir im Feenhaus ausgiebig die Aufhebung von Leyas ewigem Bannmartyrium. Sprich, wir steckten all unsere geballte Frauenpower an Magie in die Wahnsinnsarbeit, ihr Sommerparadies über das Verschwinden des Bannwalls hinaus zu retten.
In der Silvesternacht hingen wir Drei völlig erledigt, umflattert von Nachtfaltern, in unseren Gartensesseln.
Am Neujahrstag legten die Sternelben für mich drei elbische Unterrichtstage pro Woche fest. Nämlich montags, mittwochs und samstags von fünf bis sieben Uhr – morgens, versteht sich.
„Könnte jemand für meine Wenigkeit das Schlafdoubeln übernehmen?“
„Du warst einverstanden“, summte die Lichtschar.
„Aber die Amulette …“
„… gehören an das Listenende deiner Aufgaben.“
Kleine Prioritätenverschiedenheit unter Freunden.
Wenn überhaupt, kamen ausschließlich Sonntage für Abenteuertrips infrage, passende Flugverbindungen vorausgesetzt. Wodurch das schwierig zu erreichende Albanien schon mal flach fiel. Um in Nordnorwegen herumzustochern, reichte das dortige Tageslicht nicht aus.
„Sind das bereits alle erreichbaren Plätze?“, löcherte ich die Sternelben trotz ihrer Planvorstellungen erbarmungslos.
„In Schottland findest du ein weiteres Amulett.“
Ihre Auskunft kam im Rückblick sowohl zu freiwillig, als auch zu schnell.
Klar biss ich fiebrig den Köder ab. „Erste Sahne. Wo?“
Aus dem Buch „Inghean“
Die Schicksalsfäden sind in unheilvolle Schwingungen geraten. Weder Lilias menschlicher Seelenteil noch ihr Herz wollen sich unterwerfen.
Katjas Team startete ausgeruht in das neue Jahr. Die Kollegen brachten mir nie dagewesene Sympathie oder zumindest Anerkennung entgegen. Ein wundervoller Silberstreif, endlich gehörte ihre misstrauisch-ängstliche Passivität der Vergangenheit an. Frohgemut trat ich meine wachsame Anspannung in die Tonne.
„Eine Leiche und ihr verzweifelter Henker warten“, las Katja aus dem Tagespensum vor. Der brutale Vater malträtierte seinen sensiblen Sohn solange, bis der ihm vergangene Nacht an die Gurgel gegangen war. Inzwischen bereute der Junge seine Tat und überlegte, auf welche Weise er sich selbst dafür mit dem Tod bestrafen könnte.
Gedankenverloren aus dem Fenster in den Schneegriesel schauend, hing mir der Winter zum Hals heraus. Jedes Mal, wenn wir im Auto zu Einsätzen jagten, schlitterten wir dermaßen durch die Kurven, egal ob vereist oder zu dick bestreut, dass mir schlecht wurde. Inzwischen konnte ich die elbische Abneigung gegen den Winter vollkommen nachvollziehen.
Erst drei Wochen später jettete ich über London nach Inverness, in die schottischen Highlands. Mit einem dieser urigen englischen Taxis gelangte ich nach stundenlanger Fahrt zu dem jahrhundertealten Castle. Es lag gut verborgen in einem langgestreckten, von Wald umgebenen Tal.
Während ich das schmiedeeiserne Tor durchschritt, spürte ich einen Wall aus Schutzmagie. „Seltsam, hier müssen noch uralte elbische Kräfte wirken.“ Aufkeimende Unruhe veranlasste mich, aufmerksamer hinzuschauen. Verwahrlost wirkte der Park keinesfalls, den ordentlichen Kiesweg säumten kunstvoll gestutzte Koniferen. „Ob hier noch Menschen leben?“
So nahe wie möglich pirschte ich mich an das trutzige Gemäuer heran. Es sah exakt so aus wie in der kurzen Vision, die ich Silvester hatte.
Ausgerechnet als ich das Amulett aufrief, öffnete sich die riesige Eichentür des Haupteingangs.
„Was wollen …?“
Unsere Augen prallten aufeinander, unsere Körper wichen reflexartig zurück. Allein mein Herz tat ein paar wilde Glückshüpfer.
„Hier war er also! Diese Sternelben! Hatten sie gehofft, wir würden einander nicht begegnen?“
Der schottische Halbelb fasste sich zuerst und schnauzte: „Was wollen Sie hier?“
Wie charmant. „Ich stehle das Elbenamulett.“
Er lachte hart. „Das können Sie sich abschminken.“
„Männer!“ Das runde, mit Rubinen besetzte Amulett hoch ins Licht haltend, bekundete ich: „Eine Tasse Tee käme jetzt goldrichtig.“
Wortlos drehte sich der Mann um, unaufgefordert heftete ich mich an seine Fersen.
Zu seinem Rücken sagte ich: „Mein Name ist Lilia. Und wie heißt du?“
Ohne stehen zu bleiben, geschweige denn sich umzudrehen, knurrte er: „Alexis Albin, Lord of Lightninghouse.”
„Komische Kombination“, fuhr es mir durch den Kopf. „Alexis stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚der Abwehrende‘. Albin dagegen ist Althochdeutsch und bedeutet ‚Elbenfreund‘.“ Der Lord musste tiefsinnige Eltern gehabt haben. Oder aber die Lichtwesen steckten dahinter.
„Was willst du mit dem Amulett?“, unterbrach der Lord meine flirrenden Gedanken und stieß dabei die Tür zu einer Wohnhalle auf.
Ich folgte seiner übertrieben einladenden Geste hinein. „Brrrh, soll das hier sein Wohnzimmer darstellen? Wieviele Jahrhunderte alt ist das gruftig-gammelige Zeugs darin?“
Das vernehmliche Räuspern des Lords erinnerte mich an seine gestellte Frage.
Also hockte ich mich vorsichtig auf eine Sesselkante und erklärte ihm mein Vorhaben.
Daraufhin lachte er nur wieder grimmig, wobei er mir kein einziges Wort zu glauben schien. „Da haben die Elben ja eine willige Dienerin aufgetan.“
„Na super, so ein sarkastischer Knochen gleich bei der ersten Misch-Zusammenkunft. Okay, mal wieder vorher das Denken vergessen.“ Laut wollte ich wissen: „Und womit vertreibst du dir so die Zeit hier draußen?“
„Das Übliche, Dämonenjagd“, log Alexis mit lauerndem Blick.
Ganz offensichtlich traute er mir keine Liveanalyse seines Hartschädels zu. Lässig schlug ich die Beine übereinander. „Und, wie steht’s damit?“
„Ab und an sickert einer über den Schiffsverkehr ein.“
„Na, absolut überschaubar. Wenn dich die Langeweile quält, komm nach Berlin. Da spuken noch einige Hundert mitsamt ihrem Oberboss herum.“
„Ha, kalt erwischt!“ Seine rechte Augenbraue ging in die Steilkurve, bevor er sie zur Aufrechterhaltung seines arroganten Faltengesichts kontrollieren konnte. Dieser hochgewachsene etwa Fünfzigjährige besaß mehr Dunkles an sich, als bei einem Mischwesen vorstellbar war. Seine langen schwarzen Haare, schwarze Augenbrauen, eher dunkler Teint und die im düsteren Licht seiner Wohnhalle beinahe schwarz wirkenden Augen. Und nicht zu vergessen, er trug ausgerechnet schwarze Klamotten.
Wahrscheinlich hatte ich Mylord angestarrt, so dass er unvermittelt bemerkte: „Du bist reichlich neugierig.“
In meinem Kopf erfand ich dafür die Bezeichnung „unflätiger Tadel“. Laut konterte ich: „Magie allein macht wohl kaum glücklich.“ Mein Alter Ego befand: „Seltsamer Satz, irgendwie schräg.“
Nun sollte ich aber schleunigst aufbrechen. Die Lichtzeit erwies sich wegen des ungeplanten Smalltalks als denkbar knapp. „Wäre es zu viel verlangt, darum zu bitten, mich zum Flughafen zu fahren?“
Immerhin verstand er, wo mein dämonisches Problem lag.
Unterwegs, und zwar in einem Oldtimer namens Morris Roadster, lud ich den Lord nach Berlin ein.
Zwar fühlte er sich geschmeichelt, lehnte jedoch ab. „Mein Platz ist in Schottland.“
„Wieso sind immer alle dermaßen unflexibel?“ Aus reinem Bauchgefühl heraus fasste ich einen Entschluss. „Hier, behalte das Amulett für den Notfall.“
„Damit lässt sich rein gar nichts anfangen, nimm es ruhig mit.“
Mit beiden Händen zog ich mein Gegenstück unter dem Pullover hervor und hielt es ihm seitlich hin. „Jetzt klar? Die Elbe Elin schenkte es mir.“
Beinahe wäre sein Wagen schlingernd im Straßengraben gelandet. Und das ohne Sicherheitsgurte. Erschrocken klammerte ich mich an das Armaturenbrett.
„Du … Nenne mir deinen vollständigen Namen“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
„Lilia Joerdis van Luzien.“
Kein weiteres Wort fand den Weg über seine Lippen, sein Gesicht glich einer Totenmaske. Seine Hände krallten sich weiß um das Lenkrad.
Erst am Flughafen sprach Mylord düstere Abschiedsworte. „Lerne, so schnell du kannst.“
Mit diesen dürren fünf Worten ängstigte mich Alexis zu Tode.
Daheim angekommen, war ich dermaßen eingeschüchtert, dass ich vergaß, die Sternelben wegen Alexis in den Senkel zu stellen. Präzise gesagt, tauschten wir keine einzige Silbe miteinander aus.
Weil die letzte vernünftige Mahlzeit in Form von Frühstück 16 Stunden zurücklag, reihten sich trotz fortgeschrittener Abendstunde vor mir auf dem Küchentisch kleine griechische Köstlichkeiten aneinander. Doch mein Magen machte rücksichtslos den Eingang dicht. „Ich bin noch immer die Dümmste von allen, korrekt?!“ Vor die Füße geworfene Brocken aus Warnungen, Ermahnungen und Andeutungen, davon konnte niemand klug werden. Und dann dämmerte mir etwas richtig Schlimmes: Im vergangenen Jahr bat ich doch die Sternelben, den überflüssigen Teil meiner Furcht zu bannen. „Wie ist es möglich, durch den Lord dennoch solch schreckliche Angst zu empfinden?“ Das konnte nur eins bedeuten: Diese Angst war richtig und wichtig!
Mit aufflammendem Zorn strebte ich zu meinem Auto. Eine Kirchturmuhr sandte zwei helle Schläge für halb Zwölf über das schläfrige Stadtviertel.
Noch bevor ich den Wagen auf dem Parkplatz von Santa Christiana überhaupt verlassen konnte, pfiffen die Sternelben den Alarmzustand heraus. „Lilia, zwischen den Gräbern treibt sich ein Dämon herum!“
„Mir egal, die Gräber befinden sich auf der Rückseite“, knurrte ich und stieg kampfbereit leuchtend aus.
„Lilia!“
Das streunende Monstrum bot genau jenes Ventil, das ich jetzt zur Triebabfuhr benötigte.
Anstatt in die sichere Kirche zu schlüpfen, schlich ich im Stockdunklen dicht an ihr entlang. Das Stinktier witterte mich mit Lichtgeschwindigkeit, eigentlich ein Wunder bei dessen eigenen Ausdünstungen. Rasend schnell schoss der Dämon aus dem undurchdringlichen Schatten der Kirchenmauer hervor. Er warf seinen Speer, noch bevor ich ihn erblickte. Aber die Klinge prallte in Bauchhöhe ab, brachte mich nur kurz aus dem Gleichgewicht. Mit Tornadogeschwindigkeit wich er meinem ersten Lichtschuss aus. Als Antwort schleuderte das Monster einen Würgering. Diesmal war ich schnell genug. Meine Lichtkugel traf das Geschoss mitten im Flug. Geblendet durch den funkensprühenden Aufprall sah der Dämon dummerweise den linkshändig befohlenen Pfeil nicht heran sirren. „Wieder einer weniger!“
Schweißgebadet in der Kirche angelangt, brach ein absurdes Wortgetöse los. Wir ereiferten uns wie von Sinnen. Als ich angenervt die Augen verdrehte, fielen sie zufällig genau auf die Elbenfürstin unter der Decke. Abrupt herrschte Ruhe in den weibischen Zankreihen. Joerdis schaute weltentrückt und doch voller Ernst auf mich herab.
„Was tätest du an meiner Stelle?“ Ein abgespeicherter Gedanke beendete die kurze innere Stille. „Die Kunst besteht darin, die richtige Frage zu stellen.“ Eine echt gigantische, aber zwingend zu meisternde Herausforderung für eine Oberchaotin wie mich.
Langsam ließ ich mich auf dem Kissen neben dem Altar nieder. Zunächst wollte meinen Denkkanälen kein klarer Gedanke entspringen. Lauter ausgefranste Enden. Versuchsweise stellte ich einen Rundumschlag in den sphärischen Raum. „Was wollt ihr eigentlich wirklich von mir?“
Die Sternelben verweigerten sich stur.
„Haltet ihr euer Schweigen auf Dauer für sinnvoll und ungefährlich?“
Kein Ton.
„Dann jagte mir Alexis also aus purem Spaß solch eine Angst ein?“
„Alexis spricht nicht mit Sternelben.“
„Das ist keine Antwort“, keifte ich. Prompt entging mir über den eigenen Gefühlsschaum mal wieder eine entscheidende Botschaft. Stattdessen erregte ich mich gedankenblind weiter. „Außerdem weiß der Lord offensichtlich mehr über mich als ich selbst. Seit einem Jahr lasst ihr mich kreuz und quer alle möglichen Sachen lernen und erledigen, die für mich keine logische Summe, geschweige denn ein Ziel ergeben.“
„Lilia, sie dienen deiner Vorbereitung“, summten sie zur Beschwichtigung.
„Ja, ja, euren leeren Standardsatz kenne ich auswendig.“
Nach einer Denkpause säuselten sie allen Ernstes, gemäß einer Prophezeiung würde ich Regentin der Stadt des Lichts sein. „Bedenke, Lilia, lassen wir dich in die Zukunft schauen, droht unwillkürlich dein Scheitern. Prophezeiungen bergen keine absolute Wahrheit, sie fließen und verändern sich stetig, genau wie die unberechenbaren Fäden des Schicksals.“
Zielsicher verpasste ich erneut das Hauptthema und protestierte stinksauer: „Regentin? Was soll denn der Mist? Ich lebe hier in einer Demokratie, verdammt nochmal!“
Die Lichtwesen entgegneten lahm, das eine habe mit dem anderen keine Berührungspunkte.
„Heißt das, ihr wollt, dass ich kopflos so weitermache?“
„Dein Tun und Lassen folgt dem wahren Weg, sofern deine Dickköpfigkeit es zulässt.“
Hitzig entgegnete ich: „Wollt ihr ein Lämmchen?“
„Wir warten darauf, dass du deinen Verstand und dein großzügiges Herz sinnvoll einsetzt.“
„Sinnvoll oder in eurem Sinne?“, schnaubte ich eine bissige Retourkutsche.
Funkstille von himmelwärts.
Mit imaginären Wuthörnern auf meinem Kopf machte ich mich wieder auf den Weg. Die Geheimniskrämerei der Elben hier wie dort strapazierte permanent meine Nerven. Selbst mit diesem Alexis ließ sich anscheinend kein normales Gespräch führen. „Shit! Ob der Lord in seinem Tal eventuell eMails empfangen kann?“ Erstklassige Steilvorlage für mein Alter Ego. „Glaubst du etwa, ausgerechnet der gruftige Typ würde dir schriftlich deinen Mischkopf inklusive Weltall erklären?“, höhnte es. Meine beiden Fäuste bearbeiteten im Stakkato das Lenkrad. „Was heißt hier Kopf? Elben, Dämonen, Magie und all das Zeug dazu!“ „Da empfehle ich doch mal Selberdenken.“ Das stachelte mich noch mehr auf. „Ach ja? Und was ist mit der ominösen Regentin? Total abstrus, durchgeknallt, meschugge und so weiter und so fort.“
Nachdem wirklich alles heraus war, entwich meiner Kehle zum krönenden Schluss ein selbstmitleidiges Schluchzen. Hinter meinem Wagen hupte jemand. Ich stand vor einer grünen Ampel. „Krieg dich ein!“, brüllte ich. „Empfehle ich dir ebenfalls“, brummte mein Alter Ego. Widerwillig versuchte ich es mit tiefem Luftholen. Der Effekt fiel minimal aus.
Kurz vor meiner Toreinfahrt zündete aus nächtlichem Himmel die vorerst letzte Eskalationsstufe.
„Ich kann dir vieles erklären“, erklang eine sanfte fremde Stimme in meinem Kopf.
„Scheiße nochmal!“, schnauzte ich. „Wer bist du jetzt wieder?“
„Ich bin Joerdis, deine Seelenschwester. Die Fürstin der Elben und Gebieterin über das mächtige Lichtschwert.“
Elbensilber
Unaufhörlich trieb die junge Erde
Durch das siebenfache Licht des Himmels.
Flüchtig nur wie einer Wolke Schatten
Lag auf ihrem Angesicht die Nacht.
Marie Luise Kaschnitz