Читать книгу Fürstin des Lichts - Daniela Zörner - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеDrei Tage später klingelte es. Ein Fremder stand vor der Haustür, wie die Überwachungskamera zeigte.
„Bitte ihn hinein, Lilia.“
Unsicher öffnete ich dem immerhin sympathisch aussehenden Mittdreißiger.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich bin Georg, der Bruder von Golo.“
Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass er meinen Nachbarn meinte. „Kommen Sie doch herein.“
Wir setzten uns in die Küche.
„Ihr Name stand auf der Gästeliste, deshalb dachte ich, Sie waren eine Freundin von ihm.“
„Waren?“ Noch bevor er weitersprach, wusste ich, was geschehen sein musste. Wie hatten es die Sternelben nüchtern prophezeit: Das Problem würde in naher Zukunft verschwinden.
„Mein Bruder ist Samstagnacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
„Das muss schrecklich für Sie sein, mein Beileid“, antwortete ich aufrichtig.
„Ehrlich gesagt, wir standen uns nie nahe, hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen“, brachte er erklärend hervor. Der Tod seines Bruders traf ihn trotzdem, denn dieser Mann stellte dessen komplettes Gegenteil dar.
„Jedenfalls, die Beerdigung findet am Freitag statt, falls Sie kommen möchten.“
„Sag zu.“
„Danke, das werde ich selbstverständlich tun.“
Die Party mit ihren Folgen hinterließ bei mir zwei Lektionen: über das Urvertrauen und über das Schicksal.
Am Freitag, kurz vor elf Uhr, betrat ich in Erwartung eines Menschenauflaufs die Kapelle des Westfriedhofs. Irritiert blinzelte ich in das schummrige Licht, bis sich ein kleines Häuflein herausschälte.
Georg löste sich aus der Gruppe und kam auf mich zu. „Wenigstens eine, die ihr Versprechen hält. Na ja, irgendwie nicht verwunderlich. Waren Sie eigentlich eine enge Freundin von Golo?“
Er überspielte seine Nervosität, ich lächelte ihm beruhigend zu. „Nein, bloß seine neue Nachbarin.“
Aus welchem Grund auch immer gefiel ihm meine Antwort spürbar. „Dann wollen wir die Zeremonie hinter uns bringen, Golo war ja kein gläubiger Mensch.“
„Und Sie?“, fragte ich unverschämt neugierig.
„Offen gestanden, meistens weiß ich nicht, was ich glauben soll. Ich bin Wissenschaftler“, fügte er halb entschuldigend hinzu. Sein Blick zuckte an mir vorbei. „Mensch, wo bleibst du denn?“, rief er einem jungenhaft aussehenden Mann entgegen.
Was war der süß, schlaksig, mit hellbraunem Lockenschopf. Aus der Nähe schätzte ich ihn unwesentlich jünger als Georg.
„Ich konnte keinen Parkplatz finden, Schorsch“, verteidigte er sich atemlos.
„Darf ich vorstellen, mein Lebensgefährte Jay. Und das ist Lilia, unsere baldige Nachbarin.“
„Interessant!“
Wenn das Wetter es zuließ, ging ich neuerdings wieder am frühen Morgen joggen. Der zwingend notwendige Ausgleich zu dem Übermaß an Kopfarbeit. Seit der Party befand sich mein Innerstes in einem gewaltigen Prozess des Wandels. Erstens wusste ich die gruselige Erfahrung mit dem Dämon kaum zu verdauen. Zweitens nährte sich beständig die Furcht, mich selbst zu verlieren. Nach meinem Empfinden schlichen Monster um mein Heim, während sich ein fremdes Wesen in meinem ebenso fremden Körper ausbreitete. Da kam mein Kopf nicht annähernd mit.
Elin half und ermutigte, wo sie es vermochte. „Das Elbenkind in dir wächst. Selbst wenn es dir fremd erscheint, war es doch immer ein Teil von dir.“
Direkt am Tag nach der Party hatte sich die drastischste Veränderung gezeigt. Meine Magie floss in Strömen, völlig ohne Konzentration oder den bestärkenden Handschlenker.
„Meine Güte“, hauchte Elin, „wahrhaft beeindruckend“.
Doch in Wahrheit benötigte ich die Elbe mehr denn je – als Anker, Ratgeberin und Schutz vor mir selbst.
Gerade brütete ich an einer vagen Idee. „Was meinst du, Elin, sollte ich in die Kirche gehen und die Sternelben bitten, mir meine Furcht zu nehmen?“
Sie stimmte mit Bedacht zu: „Aber unbedingt nur den überflüssigen Teil, denn gesunde Furcht ist ein wichtiger Ratgeber.“
Aus dem Buch „Inghean“
Die sehenden Sternschwestern wissen weit mehr, als sie einer Dienerin wie mir mitteilen. Verborgene Kräfte wirken in dem Menschenkind. Die Seelenschmelze naht, und mit ihr die Rückkehr meiner Fürstin.
Zu frühzeitig erreichte ich Santa Christiana, glaubte ich angesichts der fleißig werkelnden Orgelbauer. Sie begannen jedoch gerade, für den Feierabend aufzuräumen. Die Männer grüßend, fragte ich nach dem Stand der Dinge.
„Da liegen noch etliche Monate harter Arbeit vor uns, schon wegen der komplett neu zu fertigenden Teile“, meinte Meister Janes. „Wie ich dem Herrn Pfarrer schon sagte, vierhunderttausend Euro werden vorne und hinten nicht reichen, wenn die Orgel hinterher originalgetreu klingen soll.“
Bestürzt, weil ahnungslos, bat ich den Meister um eine neue Schätzung.
Nach kurzer Überlegung brachte er vor: „Nochmal gut die Hälfte des Betrags oben drauf, das sollte in jedem Fall reichen.“
Höchst erstaunt nahm er mein Versprechen entgegen, die Sache umgehend zu regeln.
„Priester, dir lese ich die Leviten!“
Nachdem die Orgelbauer gegangen waren, setzte ich mich neben dem Altar auf das neue große Kissen. Ein Geschenk von Raimund. Das Licht strahlte mittlerweile um ein Vielfaches intensiver als zu Anbeginn. In der Folge speicherte mein Körper immer größere Mengen an Energie. Aber ich besaß nicht den Schimmer einer Ahnung, wie viel Macht dadurch bereits in mir steckte, geschweige denn, was damit anzufangen wäre. „Bald strahle ich wie ein Leuchtturm“, bemerkte ich scherzhaft gegenüber den Sternelben.
Ihre Antwort haute mich um.
„Nur, wenn du es willst.“ Noch immer taktierten sie mit rätselhaften Andeutungen. „Jedes zu seiner Zeit!“
Dennoch sandte ich ihnen meine Gedanken über die Furcht.
Sie erkannten die unnötige Quälerei und versprachen Abhilfe. „Lass es geschehen, das Elbenkind wird dich sicher führen“, forderten sie eindringlich.
Nackte Angst kam als Antwort. Dann, ganz langsam, zog sie sich zurück.
Wir schwiegen eine geraume Weile.
„Lilia, wir möchten dir eine Aufgabe übertragen.“
Total überrumpelt zuckte ich zusammen.
„Keine Sorge, es ist kaum mehr als eine Übung.“ Sie weihten mich in ihren Plan ein.
Erleichtert, mehr noch erstaunt, verließ ich zwei Stunden später die Kirche. Welches Rad dadurch in Bewegung gesetzt würde, vergleichbar einem Schneeball, der zur totbringenden Lawine mutiert, wussten selbst die Sternelben nur vage.
Das Schicksal ist voller Fallstricke und Abzweigungen.
Als ich am nächsten Morgen vom ausgiebigen Jogging aus dem nahen Stadtwald zurückkehrte, stand ein enorm großer Umzugswagen vor dem Haupthaus.
„Lilia!“ Hinter zwei kräftigen Kerlen, schwer an einer mir bekannten ledernen Scheußlichkeit schleppend, tauchte Schorsch auf. Sein Spitzname klang wirklich cooler als Georg.
„Hallo, das sieht mir mehr nach Auszug denn Einzug aus“, bemerkte ich enttäuscht.
„Na, in den Möbeln kann doch kein normaler Mensch wohnen. Das wird alles verschenkt.“
„Die Gemälde nicht vergessen“, witzelte ich.
Schorsch erwiderte grinsend: „Wie könnte ich! Morgen fangen die Maler an, am Samstag wollen wir dann einziehen.“
„Super! Falls ihr Hilfe benötigt, einfach klingeln“, verabschiedete ich mich erleichtert.
Aus Vorfreude strahlend wie eine Schneekönigin, wetzte ich heim unter die Dusche. Mit Jay und Schorsch würde sich das Vorderhaus von seinem düsteren Dasein verabschieden. Und ich bekäme bestimmt tolle Freunde. Die Augen während meiner Haarwäsche schließend, kehrte augenblicklich meine Erinnerung an die Sternelben zurück. „Richtig, ihr Auftrag, gleich nach dem Frühstück.“
Vor der PC-Tastatur fand ich ihre Aufgabe doch ziemlich knifflig. Ich sollte eine eMail an Kriminalhauptkommissarin Katja Rainer schreiben. Wie sie mir erklärt hatten, ging es zunächst darum, ihr Vertrauen zu gewinnen. „Und wie stellt man das bei einer Kommissarin an? Mit Fakten!“ In meinem Gedächtnis befanden sich sämtliche ekelerregenden Details über einen Mord, begangen vor knapp drei Monaten. Die Ermittler tappten völlig im Dunkeln, der Fall würde ungeklärt bleiben. Es sei denn, ich half nach. Von Polizeiarbeit verstand ich null. Einschlägige Fernsehkrimis kamen mir grundsätzlich nicht auf den Bildschirm. Und die vor Jahren zeitweilig in Unmengen verschlungenen Kriminalromane lagen sicher weitab der Realität. Jedoch konnte ich mir zusammen reimen, dass Genauigkeit den entscheidenden Schlüssel darstellte. Am vernünftigsten also, ich schrieb eine Liste. „Mal sehen. Erstens alles über den Täter, zweitens über den Mord, drittens existierten noch unbekannte Zeugen. Und das Wichtigste wären ja wohl die Beweise. Okay, los geht’s.“
Das Projekt verschlang Stunden. Irgendwann schaute Elin vorbei und sagte etwas von Mittagessen. Da ich unten nicht auftauchte, stellte sie die Müslischale auf meinen Schreibtisch.
„Essen, oder ich ziehe den Stecker raus“, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger.
„Ja, ja, gleich.“
Eine Stunde später wollte sie Ernst machen, deshalb riss ich mich kurz von der Arbeit los. Müsli kauend guckte ich die bislang fünf ordentlich gegliederten Seiten nochmals durch. „Name – du hast die Adresse des Mörders vergessen!“
Als ich endlich auf „Senden“ klickte, ging bereits die Sonne unter.
Katja Rainer warf einen kurzen, ungnädigen Blick durch ihr schmales Bürofenster auf eben jenen Sonnenuntergang, während sie ihre eMails durchging. Sie würde wahrscheinlich mal wieder bis Mitternacht im Kommissariat über den Akten brühten müssen.
Kaum hatte sie sich widerwillig umgedreht, sah sie den Eingang in ihrem persönlichen eMail-Konto. „Wer zum Kuckuck … woher hat die Absenderin meine geheime eMail-Adresse?“, ärgerte sie sich laut.
In der Betreffzeile stand: Infos zum Mordfall Emma Steiner.
Sie öffnete den Anhang, eine PDF-Datei mit sieben Seiten, und scrollte automatisch den Text herunter. „Verdammt, für solche dämlichen Scherze bin ich die Falsche.“ Die Kommissarin wollte schon auf die Löschtaste gehen – und stutzte: „Das kann niemand wissen, die Infos zur Tatwaffe haben wir zurückgehalten.“
Rasch stand ihr instinktiv gefasster Entschluss fest, am Samstagmorgen einen einzigen Versuch zu starten. Lag die Tatwaffe nicht an der detailliert beschriebenen Stelle im Schlachtensee, würde sie die Absenderin ausfindig machen und ihr den Marsch blasen. Ihr unbestechlicher Instinkt glaubte etwas anderes.
Der Samstag startete mit strömendem Regen. Mit einem Teebecher in der Hand stand ich nachdenklich im Wintergarten und schaute den hinabperlenden Tropfen zu. „Wie abscheulich, bei solch einem Sauwetter umziehen zu müssen. Ich wünschte von Herzen, die Sonne würde für Schorsch und Jay herauskommen.“
Sie tat es eine Viertelstunde später, ohne dass mir aufging, warum. Kurz entschlossen zog ich meine Joggingsachen an und spurtete zum Stadtwald los. Keine zwei Straßenecken weiter goss es wie aus Kübeln. „Na super, also gebe ich heute mal wieder die Freilaufschwimmerin, nörgelte ich.“
Eine gute Stunde später bog ich triefend nass um die Ecke unserer Straße und lief in strahlenden Sonnenschein hinein. „Verrückt!“
Nach der heißen Dusche erzählte ich Elin beim Frühstück von den Wetterkapriolen.
Sie schalt mich wie ein Kind. „Wirklich, Lilia, inzwischen müsstest du das doch besser wissen. Kapriolen! Dann mach es halt sorgfältiger, wenn du dich schon einmischst.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen!?“
„Das widerspräche meinen Umgangsgepflogenheiten“, gab die Elbe trocken zurück.
„Ich soll die Sonne hervorgelockt haben?“
Mit verärgertem Kopfschütteln verschwand Elin. Mein Kopf hingegen gab die rote Laterne. Scheibchenweise schwante mir, wieviel Verantwortung und noch mehr Risiken elbische Magie mit sich brachte. „Lilia, die Wetterhexe“, spottete mein Alter Ego.
Mittags parkte Katja Rainer ihren Privatwagen ein Stück entfernt. Offensichtlich fand in dem Haus gerade ein Umzug statt. „Protzbau“, dachte sie beim Anblick des Vorderhauses. „Passt wie angegossen zu dem exzentrischen Namen. Wer sonst nennt seine Tochter Lilia Joerdis!“ Die Möbel sahen allerdings ziemlich schick aus, stellte sie beim Blick in den Lkw fest, unerschwinglich schick.
„Wollen Sie nachschauen, ob Ihre Truppe ordentlich arbeitet?“ Ein verdammt gutaussehender Mann stand im Hauseingang und sah ihr erwartungsvoll entgegen.
„Äh, nein, ich suche Frau van Luzien.“
„Ach, Lilia! Da sind Sie hier falsch“, deutete Schorsch nach links, „sie wohnt im Gartenhaus“.
Katja klingelte am Tor, das sofort geräuschlos aufschwang. Und selbstverständlich registrierte sie die gut getarnte Überwachungskamera.
Die Sternelben warnten rechtzeitig vor meiner Besucherin. Gespannt saß ich nun am Küchentisch, wo Tee und Sandwiches bereit standen. „Katja, der Name kommt aus dem Russischen von Katharina, ‚die Reine‘. Und Raimund bedeutet ‚Schützer nach dem Rat der Götter‘“, fuhr ich grinsend fort. Georg ist ‚der Wachsame‘.“ Weiter kam ich mit dem merkwürdigen Befund über die Namen meiner neuen Bekanntschaften nicht.
Der Monitor zeigte eine mittelgroße, durchtrainierte, ungefähr dreißigjährige Frau. Praktischer kurzer Haarschnitt, wachsame braune Augen. „Na dann!“
„Hallo, ich bin Lilia.“
Zögernd ergriff sie meine ausgestreckte Hand. „Hauptkommissarin Rainer.“
Sie folgte mir in die Küche.
„Bitte, setzen Sie sich doch.“
Die Kommissarin registrierte den gedeckten Tisch. „Anscheinend erwarten Sie Besuch, dann will ich es kurz machen“, meinte sie widerstrebend.
„Nein, ich habe Sie erwartet“, erwiderte ich lächelnd und schenkte Tee ein. „Probieren Sie die Sandwiches, eine Spezialität des Hauses.“
Meinen Gast beschlich ein beunruhigendes Gefühl. Die Kommissarin versuchte, mir fest in die Augen zu schauen, konnte ein irritiertes Blinzeln aber nicht verbergen. „Sie – Sie haben mir eine eMail geschickt.“
Geduldig wartete ich ab, bis sie herausplatzte: „Woher stammen diese Informationen, Frau van Luzien? Taucher haben heute Morgen die Tatwaffe geborgen.“
Klar hatten sie das. Und in diesen Minuten suchte ihr Team gezielt nach den anderen Beweisstücken von meiner Liste. „Bitte, nennen Sie mich einfach Lilia.“ Auf zum schwierigeren Part. „Ich muss Sie um einige Zeit und reichlich Geduld bitten, bevor ich Ihre berechtigte Frage beantworten werde.“
Die Kommissarin wollte protestieren, beschwichtigend hob ich die Hand. „Würde ich Ihnen in diesem Moment die Wahrheit an den Kopf werfen, nähmen Sie mir kein einziges Wort davon ab.“
Wieder wollte Katja protestieren, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen. „Deshalb möchte ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten: Nennen Sie mir einen oder auch mehrere Ihrer ungelösten Fälle der Vergangenheit. Im Gegenzug erhalten Sie weitere Listen per Mail.“
„Sind Sie Privatdetektivin?“ Misstrauisch versuchte sie eine rationale Erklärung zu finden.
„Nein, nichts dergleichen“, versicherte ich, stand kurz auf und kam umgehend mit Schreibzeug zurück. „Also?“
Innerlich hin und her gerissen über die unwirkliche Situation, siegte zuletzt Katjas starker Instinkt. „Vor zwei Jahren wurde der neunjährige Ralf Bregen getötet. Der Täter konnte nie ermittelt werden. Im Juni letzten Jahres verschwand die vierjährige Eva Trinkhardt. Wir wissen nicht, ob sie noch lebt.“ Bleischwer lasteten die Fälle auf Katjas Seele. Monatelang hatte sie unermüdlich beinahe rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche gearbeitet. Vergeblich. „Wenn Sie das schaffen, werde ich Ihnen glauben, wer auch immer Ihre Quelle sein mag.“
„Nein, so schnell nicht“, war ich mir aus eigener Erfahrung sicher, „aber für den ersten Schritt sollte es allemal reichen“.
Hinterher benötigte ich dringend frische Luft und schlenderte kurz entschlossen zum Vorderhaus.
„Hallo, Lilia, gut, dass du kommst. Wo kann man denn hier etwas Essbares kaufen? Unsere Mägen hängen schon in den Zehenspitzen“, lachte Jay.
„Lass mich das übernehmen, ich habe Zeit. Wieviel Mann seid ihr denn?“
„Sechs, aber lass man, Getränke brauchen wir ja auch noch.“
„Keine Widerrede, wird schon erledigt.“
Eifrig flitzte ich zurück.
In der Küche wartete meine magische Bestellung: zwei große Tabletts mit Bergen an Sandwiches, dazu drei Körbe mit kalten Getränken, Kaffee und dem benötigten Zubehör. „Das musst du jetzt wohl selbst schleppen. Jay fällt glatt in Ohnmacht, wenn ein Korb aus dem Nirgendwo vor seinen Füßen landet.“
In der Tat traute er selbst so seinen Augen kaum, als er mich postwendend mit dem ersten Tablett kommen sah. „Ach so, du wolltest uns überraschen“, fand er schnell eine Erklärung für sich – und half mir unwissentlich erst aus der magischen Bredouille und dann beim Schleppen.
Zehn Minuten später saßen die Männer um den großen Küchentisch herum und lobten mit vollen Mündern meine Sandwiches. Belustigt zog ich Leine, weil unterschwellig innere Unruhe aufkeimte. „Ab in die Kirche! Ach nein, die Orgelbauer arbeiten ja auch samstags um diese Uhrzeit noch.“
„Komm ruhig, Lilia, sie haben heute in ihrer Werkstatt zu tun.“
Während ich den Schlüssel aus seinem Versteck pulte, kamen meine Gedanken über die Orgel zu dem ungenutzten Klavierflügel im Wohnzimmer. „Ob ich das Spiel erlernen darf?“ Eigentlich wollte ich die Sternelben gleich darum bitten. Doch vorrangig stand das beinahe vermasselte Treffen mit Katja auf der Tagesordnung. Mich in andere Menschen hinein versetzen, das barg neuerdings explosives Katastrophenpotenzial.
„Lilia!“, schmetternd entrissen sie mich der Grübelei und erteilten sogleich einen Tadel wegen der unbedachten Anwendung von Sandwich-Magie. „Erst denken, dann zaubern!“
„Ja-a. Und der Flügel?“, bettelte ich sehnsuchtsvoll.
Erheitert sangen sie: „Ja-a-a.“
Dann begann der wahrlich grauenhafte Teil unseres Treffens. Eine gewaltige Flut an Informationen über Katjas ungelöste Mordfälle ergoss sich in meinen Kopf.
Geraume Zeit später wollte ich abschließend von den Lichtwesen wissen, ob Katja hinterher erneut vor der Tür stehen würde.
„In Zukunft ist sie dein häufigster Gast.“
„In Freundschaft?“
„Das hängt von deinem Geschick ab.“
„Und eurer tätigen Mithilfe, hoffentlich.“ Stöhnend rutschte mir der Kommentar heraus: „Hattet ihr nicht kürzlich gemeint, das Ganze sei lediglich eine Übung?“
Funkstille.
Eben wollte ich den Heimweg antreten, da meldeten sie sich nochmals. „Möchtest du eine Aufgabe bekommen, die dir Spaß bereitet, wie die Menschenkinder es nennen?“
„Aber immer!“
„In der Rachmaninow-Straße droht der Musikschule aus Geldmangel die endgültige Schließung. Du spendierst doch so gerne“, neckten sie mich.
„Die Schule liegt auf meinem Rückweg!“, rief ich begeistert.
„Nein, Lilia, es dämmert bereits, warte bis morgen Vormittag.“
Die Sternelben wollten, dass ich die Nacht fürchten lerne.
„Guten Morgen. Sind Sie der Leiter dieser Schule?“
„Wir nehmen keine Schüler mehr an“, wies er mich sichtlich zerstreut ab, „wir schließen“.
„Ich weiß, deshalb bin ich hier.“
Nun völlig verwirrt, nahm er mich erst richtig zur Kenntnis. „Warum das?“
„Sie benötigen ungefähr zweihunderttausend Euro zur Fortsetzung des Lehrbetriebs. Ich möchte schauen, ob eine Spende hier gut investiert wäre.“
Entgeistert fragte er: „Sie wollen spenden?“
„Wie wäre es, wenn Sie mich durch Ihr Haus führen und mir unterwegs Ihre Sorgen schildern?“
Eine lange Pause entstand, bis seine tief sitzende Resignation in vorsichtigen Optimismus umschlug.
Ermutigend hakte ich mich bei ihm unter. „Kommen Sie, was haben Sie alles auf dem Herzen?“
Zwei kleine Jungs tobten die breite Treppe hinauf, der vordere blies pausbackig in seine Trompete, der andere antwortete mit seiner Querflöte. Lächelnd drohte ihnen der Schulleiter mit dem erhobenen Zeigefinger.
„Und Sie wollen wirklich diese gewaltige Summe spenden?“ vergewisserte er sich.
„Ja, allerdings“, bekräftigte ich, „nichts heilt so wundervoll die Seele, wie Musik es vermag“.
Jetzt über das ganze Gesicht strahlend, stellte er sich vor: „Ich bin übrigens Gernot.“
Bei unserem Rundgang schwoll die geschätzte Summe für den dringendsten Bedarf auf mindestens das Doppelte an. Nur die Lehrergehälter bezahlen zu können, griff bei weitem zu kurz. Überall blätterte die Wandfarbe, verkalkte Wasserhähne tropften in maroden Toilettenräumen, das Klavier ein uraltes Wrack, zu wenige Instrumente, Noten, Stühle und so weiter und so fort.
„Anfang kommender Woche sollte das Geld auf dem Schulkonto eingegangen sein“, verabschiedete ich mich. „Aber eines müssen Sie mir versprechen“, fügte ich im Hinausgehen hinzu, „eine riesige Sommerparty mit Pauken und Trompeten“.
Sein herrliches Lachen, durchbrochen von „Ja, ja, ja!“-Rufen, schallte hinter mir her.
Meinen Namen würde Gernot niemals erfahren, so wollte ich es. Die Sternelben hatten nicht zu viel versprochen, glücklich zog ich von dannen.
„Lilia, vor dem Gartentor wartet Katja auf dich.“
Soviel zum Haltbarkeitsdatum des Spaßfaktors.
Die Kommissarin tigerte am Tor entlang, anders ließ sich ihr Verhalten kaum nennen. Ihre braunen Augen huschten unruhig von hier nach dort, bis sie mich entdeckte und streng fixierte.
„Hallo, was gibt es so Dringendes?“
„Wir haben den Mörder dingfest gemacht“, knurrte sie.
„Gut. Wollen wir reingehen?“
Da sie auf dem Weg zum Haus schwieg, organisierte ich schnell ein Mittagessen. Keine gute Idee, wie sich umgehend zeigte.
Kaum in der Küche, fragte Katja mit scharfem Blick auf die zwei Gedecke: „Wohnt hier eigentlich noch jemand?“
„Nein“, spielte ich die Ahnungslose.
Doch sie krallte sich fest. „Besuch?“
„Ja, Sie“, lautete meine ehrliche Antwort, innerlich leicht schwitzend.
„Sie konnten nicht wissen … ich wusste ja selbst nicht … bis vor dem Tor.“
„Langsam, Lilia, sie ist ein Mensch!“ Sphärische Ermahnungen waren zum jetzigen Zeitpunkt ziemlich überflüssig.
„Setzen Sie sich erst mal hin und nehmen Sie einen ordentlichen Schluck.“
Zu meiner Erleichterung gehorchte die Kommissarin, wenn auch kopfschüttelnd.
Kurze, hochkonzentrierte Denkpause, dann fasste ich einen Entschluss. „Katja“, redete ich sie mit Vornamen an, „du spürst instinktiv, dass bei mir einige Dinge auf eine Weise ablaufen, die sich deinem Kopf verschließt“.
Sie stimmte kaum merklich zu.
„Dein Instinkt liegt richtig. Aber bevor dein Verstand bereit ist, dies ebenfalls zu akzeptieren, braucht er Zeit. Das deutete ich bereits bei unserem ersten Treffen an.“
Erneutes Nicken. Große Pause.
„Kannst du so etwas wie Hellsehen?“ Die Frage musste aus ihr raus.
„Meinst du?“, fragte ich sachte, „mit einem ‚Ja, so ähnlich‘ würdest du irgendwann klarkommen?“
Ihre Hände zitterten leicht, schließlich rang sie sich ein heiser gehauchtes „glaube schon“ ab.
Der Rest des Sonntags verging rasend schnell. Wie an einer Perlenkette aufgereiht, fanden stetig neue Mordslisten ihren Weg in den PC.
Am Abend trat der erste Fall seine Reise in Katjas Büro an. Traurig würde sie lesen, dass das kleine Mädchen längst tot in einem brandenburgischen Waldstück lag. Wenigstens ihre Leiche würde die Polizei nun für die verzweifelten Eltern bergen und den Mörder festnageln. „Wie gut, mich nur als unbeteiligte Dritte mit solchen Gräueltaten befassen zu müssen.“ Das versuchte ich mir zumindest einzureden. Heftiges Gähnen und knurrender Magen brachten mich zu der Überzeugung, für heute genug geleistet zu haben.
Es klingelte.
„Och nö, was denn nun noch?“
Jay grinste auf dem Monitor. Erleichtert öffnete ich ihm die Tür.
„Hallo, Lilia, ist zwar ein bisschen kurzfristig, aber hast du Lust auf Abendessen bei uns? Wir weihen die Küche ein.“
„Klasse! Eine Sekunde, wir nehmen ein paar Flaschen Wein mit.“
„Wie war das gleich mit den Namen und ihrer Herkunft? Jay heißt laut Geburtsurkunde eigentlich Corentin, wie er in einem schwachen Moment verriet. Corentin bedeutet ‚Freund‘.“ Ich strahlte vor guter Laune. Wie der Namensreigen wohl weitergehen mochte?
Als wir die Treppenstufen vor meinem Gartenhaus hinunter gingen, blieb Jay abrupt stehen. „Äh, Lilia, ich will ja nichts sagen, aber du bist noch barfuß.“
Verdutzt schaute ich auf meine nackten Füße. Das Elbenkind fühlte sich pudelwohl so. Grinsend zuckte ich mit den Schultern. „Egal.“
Früh am Dienstag weckte Elin mich erbarmungslos auf.
„Was’n los?“, nuschelte ich verschlafen.
„Raus mit dir, Schlafmütze. Wenn du Tee willst, bevor Katja anruft, dann solltest du dich sputen.“
„Puh. Schläft Katja denn nie?“
„Doch, aber viel zu wenig“, versetzte Elin streng.
Mein prompt schlechtes Gewissen verleitete mich zu dem Gedanken: „Vielleicht kann ich sie ja etwas entlasten.“
„Ja, das kannst du allerdings“, bekräftigte die Elbe, während sie die Fenster aufstieß.
„Brrrrh!“ Schleunigst verschwand ich im warmen Badezimmer. Das war auch so eine Geschichte. Elin konnte wirklich alles mit Magie bewerkstelligen, doch mit dem größten Vergnügen nahm sie manche Dinge selbst in die Hand.
„Hallo, Katja. Was gibt es?“
„Sie – du hast als Adresse des Täters eine Tulipanstraße angegeben. Die existiert gar nicht“, kam von ihr säuerlich zurück.
„Ups, tut mir leid, die liegt in dem großen Marzahner Neubaugebiet, hat dein Navi wahrscheinlich noch gar nicht auf dem Schirm.“
„Das Gebiet kenne ich“, stellte sie erleichtert fest, „alles klar, danke“.
Mir drückte auch etwas auf die Seele. „Katja, tust du mir bitte einen großen Gefallen? Nenne niemals meinen Namen, sag einfach, du müsstest deine anonyme Quelle schützen. Geht das?“
„Versprochen!“ Bislang wäre es ihr ohnehin nie im Leben eingefallen, einem Kollegen oder gar ihrem Vorgesetzten von mir zu berichten.
Am späten Abend beendete ich den dritten ungelösten Fall für die Mordkommission. Noch eine halbe Stunde für die Essensvorbereitung, dann würde Katja läuten. Ihr Faible galt der italienischen Küche, also zauberte ich Minestrone, Ciabatta und überbackenes Fischfilet mit Penne, dazu Rucola.
Sie aß so genießerisch konzentriert, dass ich schmunzeln musste. „Möchtest du noch Wein?“
„Nein danke, ich muss leider noch fahren. Aber hättest du eventuell einen Espresso?“ Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück.
„Ups. Was jetzt?“
„Frag sie“, ermunterten mich die Lichtwesen.
„Wenn du dafür mutig genug bist, kann ich Espresso magisch ordern. Ansonsten müsste ich probieren, irgendwie eigenhändig Kaffee auf die Reihe zu kriegen.“ Forschend blickte ich Katja an. Sie hatte eindeutig das Zeug zu dieser Mutprobe.
„Hast du gerade ‚magisch ordern“ gesagt?“ Ihre Augen spiegelten den inneren Kampf zwischen sich verhört haben wollen und der glasklaren Gewissheit, richtig verstanden zu haben.
„Habe ich.“
Halb gespannt, halb angespannt kam: „Na, mach schon.“
Absichtlich erschien der Espresso mit einigem Abstand drüben auf der Anrichte. Katja keuchte. In beruhigendem Ton erklärte ich den Unterschied zwischen Zauberei im Zirkus und magischer Lichtenergie.
„Aber wieso kannst du das?“
Gute Frage, nächste Frage. „Das ist eine sehr lange, komplizierte Geschichte“, wich ich unbeholfen aus. „Ich verspreche dir, du wirst sie später einmal erfahren.“
Denn dafür würde Katja ein anderes Kaliber von Mut brauchen. Immerhin, bislang schlug sie sich tapfer.
In den folgenden Wochen mailte ich der Kommissarin etliche Aufklärungsarbeiten. Beispielsweise zu einem Bandenkrieg im Wedding mit tödlichem Ausgang, einem Raubmord in der City West und einer Wasserleiche im Wannsee. Meine detailreiche Dauerbeschäftigung mit Gewalt, Hass und Mord mündete in beinahe allnächtlichen Albträumen über bluttriefende Messer, Mörderfratzen oder Wasserleichenzombies. Schweißgebadetes, manchmal von Schreien begleitetes Aufwachen wurde fast notorisch. Stück für Stück blieb meine Lebensfreude auf der Strecke.
Allmählich erregten die spektakulären Erfolge der Kriminalpolizei ein größeres Interesse bei den Medien. Katja erwies sich als besonnen genug, ihrem Chef und dem Team sämtliche Lorbeeren zuzuschieben. Die Achtung, besonders der männlichen Kollegen ihr gegenüber, stieg dadurch beträchtlich. Gut so. Leider schwollen deren Fragezeichen bezüglich ihrer anonymen Quelle genauso beträchtlich an. Eine tickende Zeitbombe.
Nach Ansicht der Sternelben näherte sich rasch der Zeitpunkt für den nächsten, heiklen Schritt: ein Mord, der bereits geplant, aber noch nicht geschehen war. Das sollte ich Katja begreiflich machen.
Die Lichtwesen wirkten geradezu nervös und beschieden mich mehrmals, äußerst behutsam vorzugehen. „Achte auf Katjas Verstand“, bläuten sie mir ein.
Zuletzt wurde ich selbst richtig kribbelig.
Am Sonntag sollte unser brisantes Frühstück über die Bühne gehen. Doch die Fallstricke des Schicksals zerschlugen meine Pläne. Katjas Chef überrumpelte alle Beteiligten mit seinem spontanen Entschluss, vor meinem Gartentor auf Katja zu warten. Die Adresse kannte er aus der ersten eMail. Ihm schwante, dass die Sache mit der offiziell anonymen Quelle stank. Also bog der Kommissar kurz entschlossen ab und opferte der akribischen Recherche seinen heiß geliebten Segeltörn auf dem Wannsee.
Mit solchen Kurzschlusshandlungen, lernte ich genervt, war der langsame Schicksalsfluss überfordert. Eine später stets wiederkehrende, boshaft lauernde Gefahrenquelle.
Jetzt blieben mir knapp zwanzig Minuten, mich darauf einzustellen. Plan B kam nie gut, andernfalls hätte er ja auch die A-Note erhalten müssen. Wenigstens reichte die Zeit, um Katja vorzuwarnen.
Das dreisame Frühstück geriet, gelinde ausgedrückt, ungemütlich. Die Spannung ließ sich kaum ertragen. Oberflächlichen Smalltalk verkniff ich mir von vornherein. Katja erzählte recht monoton vom Auffinden der entscheidenden Puzzleteile des letzten Falls, erstarb aber nach und nach. Jeder würgte an seinem Brötchen.
Irgendwann war es wiederum Katja, die die Faxen dicke hatte, wie sie das hinterher nannte. Der andere Grund, so erkannte ich: Sie musste ihr bizarres Geheimnis schlicht mal ausspucken. Also ballerte die Kommissarin ihrem Chef hemmungslos einige schwer verdauliche Tatsachen über mich um die Ohren.
Mit versteinerter Miene stand er wortlos auf und ging.
„Was soll ich tun?“, bat ich die Sphäre um Rat.
„Lass ihn, er wird das Gesagte verdrängen und danach so tun, als kämen die Informationen ausschließlich von Katja selbst.“
Mehr umständlich denn behutsam erklärte ich es der Kommissarin. Sie zeigte sich fürs Erste einverstanden. Dabei schwang noch etwas anderes, Zartes in ihrer Seele mit.
„Ups, Katja beginnt sich in ihren Chef zu verlieben. Da werde ich mich hübsch heraushalten.“
„Sie wird deine Hilfe benötigen, Lilia.“
„Oh nein!“
„Oh ja“, brummten sie im tiefsten Bass zurück.
Befreit genossen wir Frauen unser Frühstück nun doppelt. Nach dem ersten Glas Sekt wagte ich mich an meine eigentliche Mission. „Katja, was wäre, wenn du schon vorher von einem Mordkomplott wüsstest?“
„Na, das wäre echt cool. Jedenfalls, wenn der Täter trotzdem hinter Gittern verschwindet“, erwiderte sie herzhaft. Ganz langsam folgte der schräge Blick in meine Richtung. Ich sah ihr Gehirn förmlich rattern. „Du meinst, du willst sagen, also…“
„Nicht nur tolles Essen und verschwundene Leichen, genau.“
Drückende Unsicherheit musste in ihrem Inneren aufkeimender Angst weichen, flackernder Mut griff an, bevor ihr Instinkt zögerlich das Rudern durch unbekannte Gewässer übernahm. Die Kommissarin würde es schaffen. Sie musste es schaffen!
Was vom Sonntag für mich allein übrig blieb, investierte ich in ein zukünftiges Mordkomplott. Einmal ist immer das erste Mal. Oder?
Zur Belohnung gönnte ich mir hinterher als verspätetes Abendessen eine Pizza der Größe L, belegt mit frischem Gemüse. Der Vorteil, wenn man allein lebte, war, hemmungslos mit den Fingern essen zu können. Mein Bauch nahm unterdessen die Form einer Melone an, sozusagen von der Honig- zur Wassermelone anschwellend. „Ein wenig Bewegung könnte jetzt nicht schaden.“
Aber draußen herrschte längst die Nacht über das Firmament.
Aus einem unergründlichen Nichts ließ mein Kopf in seine Stille hinein Clara Pontys „Melancholy“ erklingen. „Der Flügel!“ Ich ging ins Wohnzimmer, entzündete Kerzen und öffnete ihn. Bedächtig setzte ich mich auf den Schemel, ließ meine Augen über die Tasten gleiten. Mit leicht gespreizten Fingern legten sich meine Hände sacht darüber. Zaghaft wiederholte ich „Melancholy“. Von dem akzeptablen Resultat ermutigt, versuchte ich mich an Chopins „Nocturne“. „Ah, welch eine Wonne!“ Verborgene Sehnsüchte glitten durch meine Finger hinaus wie Freudentränen. Darin versinkend, erklang die „Mondschein-Sonate“. Nun mit geschlossenen Augen wogend, verlor ich jedes Gefühl für Zeit und Raum.
„Lilia! Lilia!“ Mit donnernder Macht riefen die Sternelben.
Verwirrt wusste ich mich kaum in die Realität zurück zu befördern.
„Lilia, komm zu dir!“
„Warum, was ist?“
„Elin, du musst sie retten!“
Ihre Botschaft sprengte sämtliche Träumereien mit Lichtgeschwindigkeit aus meinem Kopf. „Wo ist sie?“
„Schnell, wir führen dich, benutze den Wagen.“
Die Sternelben lotsten, nein, scheuchten mich quer durch die nächtliche Stadt in Richtung Osten, bis eine große Industriebrache auftauchte.
„Spute dich, Lilia, ihr müsst schleunigst fort.“
Ich sprang aus dem Wagen, hastete über Steinbrocken, verrostete Drähte und abgekippten Sperrmüll, begleitet von beißendem Güllegestank. „Ist hier ein Abwasserrohr geplatzt?“ Würgend presste ich eine Hand vor die Nase. Meine Augen schossen hektisch hierhin und dorthin, bis ich ein schwächliches Glimmen zu erkennen glaubte.
Elin lag halb verborgen unter einem zerbeulten Blechstück. Behutsam hob ich sie auf. Die Elbe wog – nichts. Ihr Licht schien beinahe erloschen.
„Elin, Elin, bitte halte durch, ich bin bei dir, alles wird gut.“
Kaum mehr wahrnehmbares Flüstern: „Lilia, in die Kirche.“
Die Sternelben drängten mit brausendem Gesang zur Eile. Im stolpernden Laufschritt trug ich die Elbe zum Auto, legte sie auf die Rückbank und sprang zurück auf den Fahrersitz. Mit Vollgas ging es über rote Ampeln nach Santa Christiana.
Vorsichtig mit dem linken Arm Elin haltend, tastete ich nach dem Schlüssel für die Kirchentür. Die Lichtwesen erleuchteten bereits den Altarraum. Langsam ließ ich mich auf das Kissen sinken, zog Elin auf meinen Schoß und richtete ihre offenen Handflächen zum Licht aus. Mein Herz stolperte vor Kummer, Furcht und Erschöpfung, doch meine Gedanken gehörten allein ihr. „Werdet ihr sie retten? Bleib bei mir, Elin!“
Das Licht erstrahlte heller, immer heller um uns. Aber ihr leiser Gesang schläferte mich bald ein, friedlich gegen die Seitenwand des Altars gelehnt. So wurde niemand Zeuge des ungeheuerlichen Geschehens. Inmitten ihres grellen Lichtkegels erschien ein feiner, silberner Strahl. Er zielte auf meine Seele, verharrte, und verschwand in mir.
Genau diese Horrornacht wählten die Sternelben aus, um klammheimlich die Seele ihrer Elbenfürstin Joerdis in meinen Körper zu geleiten.
„Lilia, aufwachen, die Morgendämmerung beginnt!“
Benommen gewahrte ich meine Umgebung. „Wie geht es ihr?“
„Das Elbenvolk ist zäh, sorge dich nicht länger.“
Die Elbe bewegte sich.
„Elin! Bist du okay? Was ist eigentlich passiert?“
Abwehrend verschloss sie ihren Geist. „Vielleicht später.“
„Aber jetzt bleibst du nachts erst einmal zuhause, bis du wieder richtig fit bist“, forderte ich streng.
Ein kleines Lächeln als Antwort. Doch mir zog sich der Magen zusammen bei dem Gedanken, wie knapp die Elbe ihrem Tod entronnen sein mochte.
„Danke, Elbentochter.“
Raimund öffnete im ungünstigsten Moment den Vorhang seines Schlafzimmerfensters, nämlich als wir über den Kirchhof gingen. Noch bevor er in seinem Kopf die Frage, was ich zu der frühen Uhrzeit dort tat, zu Ende formulieren konnte, sah er mich leuchten.
Gemeinsam mit Elin hatte ich eine so enorme Energiedosis abbekommen, dass trotz des Tagesanbruchs ein unübersehbarer Lichtschein um mich schimmerte.
Raimund stierte. Ruckartig zog er den Vorhang wieder zu, nur um ihn fünf Sekunden später erneut beiseite zu zerren. Eine bockige Stimme in seinem Innern tönte: „Und sie ist doch ein Engel!“
Da saßen Elin und ich bereits im Wagen und fuhren davon.
Aus dem Buch „Inghean“
Die Seelenschmelze wurde in der vergangenen Nacht vollzogen. Noch ist das Menschenkind ahnungslos, wen es nun in sich trägt und welche Bürde damit verbunden ist.
Die Hiobsbotschaft über Raimunds morgendliche Beobachtung erwischte mich beim Frühstück. „Du musst zu ihm“, befahlen die Sternelben.
Irrsinnige Kopfschmerzen malträtierten mich.
„Rufe nach Elin, sie kann den Schmerz lindern.“
„Doch nicht deswegen, sie soll sich erholen.“
„Lilia, tu es.“
Das war mir wahnsinnig peinlich, aber die Elbe winkte ab und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch. „Ein klarer Fall von Energiemissbrauch. Leg deine Hände auf meine.“
Vertrautes Kribbeln erfasste meine Hände.
„Ich zapfe dich ein wenig an“, erklärte Elin.
Zum Zeitvertreib sang sie ein Elbenlied über die Sterne. Der Schmerz verschwand.
„Bitte, kann ich dir jetzt vielleicht helfen?“
„Möchtest du das wirklich?“
Mutig bejahte ich.
„Dann will ich mich mit den Sternelben beraten.“
Im selber Einbrocken hielt ich die einsame Spitze.
Raimund wartete in schierer Seelennot auf mich, berichteten die Sternelben auf dem Weg zum Pfarrhaus. Einmal vor der Tür noch tief Luft holen. Klingeln. Die Haustür wurde derart schnell aufgerissen, als hätte der Priester dahinter gestanden.
„Lilia.“ Er musterte mich von oben nach unten und rückwärts, begleitet von einer lupenreinen Gefühlskakophonie. Dank Elin gab ich zwar keine Leuchtboje mehr, was Raimund dennoch keineswegs beruhigte. Im Gegenteil, jetzt traute er seiner eigenen Beobachtung vom Morgen kaum mehr über den Weg.
„Darf ich trotzdem hereinkommen?“
„Äh, ja natürlich.“
Kaum saßen wir an dem runden Tisch, redete ich Klartext – wie üblich ohne gründliche Überlegung. „Raimund, ich bin kein Engel. Ein Teil von mir ist elbisch, deswegen habe ich heute Morgen geleuchtet.“
„Elbisch?!“
„Engel sind …“
„Elbisch?“
„Sekunde, lass mich ausreden. Also, es hat nie Engel mit Flügeln und all dem Zeug gegeben, sondern es sind Elben. Ein alter Übersetzungsfehler der Mönche. Verstehst du? Der Rest ist einem Übermaß an menschlicher Fantasie geschuldet.“
Ein einziges, gigantisches Fragezeichen saß mir gegenüber.
„Raimund“, nahm ich den nächsten Anlauf, „die Elben sind nicht aus Fleisch und Blut. Sie benötigen zum Leben die Energie des Lichts“. Nochmal tief Luft holen. „Da ich nun mal weder ganz Mensch noch ganz Elbe bin, benötige ich beides, Essen und Licht. Vergangene Nacht bekam ich sozusagen von Letzterem eine Überdosis ab und deshalb habe ich geleuchtet.“
„Sind?!“
„Himmel, an welcher Stelle ist er denn jetzt?“, fragte ich verzweifelt in die Sphäre.
„Lilia, er hat vernommen, dass es noch immer Elben gibt.“
„Verd… !“ Nächster tiefer Atemzug. „Mensch, Raimund, du weißt es doch längst, hör auf dein Herz, deine Seele!“
Mit hängendem Kopf saß er da, minutenlang. Geduldig trank ich Tee.
„Du hast Recht, bis auf meinen Verstand habe ich es erkannt. Aber wo sind sie?“, fragte er flehentlich.
Traurig sah ich ihn an und schüttelte nur meinen Kopf.
Er glaubte zu verstehen. „Wir Menschen sind schuld. Richtig?“
„Ja und nein. Doch diese Geschichte mag ich jetzt nicht über meine Lippen bringen. Die vergangene Nacht war grauenerregend.“
Mitleidig schaute er mir in die Augen. Eine Frage lag jedoch so glühend auf seiner Seele, dass sie hinaus musste: „Sprichst du in der Kirche mit diesen Elben?“
„Ja, mit Sternelben. Sie lehren mich, damit ihr Erbe in mir wachsen kann. Denn sie benötigen meine Hilfe.“ Beinahe hätte ich sarkastisch angefügt: weil der Teufel los ist.
„Lilia!“, trillerte die Sphäre tadelnd.
„Schon gut, ich bin still.“ Trotzig fügte ich hinzu: „Elin und ich benötigen mal Ferien von dem ganzen Horror.“
Nach dem verpatzten Gespräch mit dem Priester trottete ich in die Kirche, auf ein Donnerwetter gefasst.
Ihr Licht schien diesmal kaum stärker als ein Sonnenstrahl. Die Sternelben gingen jedoch über meine Hitzköpfigkeit gnädig hinweg. Stattdessen sangen sie mir ein Lied über den Kampf zwischen Elben und Dämonen. Ich lauschte aufmerksam.
„Lilia, du weißt, lediglich zu Anbeginn kämpften sie mit Blitz und Feuer. Diese gewaltige Macht ist ihnen genommen.“ Dann erzählten sie mir, wie die Elben lernten, aus ihrem inneren Licht eine Waffe zu formen. Zudem ersonnen sie die Kunst des Schwertkampfes. Die tückischen Dämonen benötigten weit weniger Zeit als gedacht, um die neuen elbischen Fähigkeiten in Schwarz zu kopieren. Das Gemetzel zwischen ihnen ging weiter.
Ihre Geschichte klang für mich so lange wie von einem anderen Planeten, bis dies kam: „Dein Mut ist noch wankend, doch soll dich Elin im Gebrauch des Lichts und in anderen Fertigkeiten unterrichten.“
Warum beschlich mich das untrügliche Gefühl, dass sie mit ihrer Entscheidung haderten?
In der Tat wendete sich das Blatt allzu schnell, der Dämonfürst spielte mit Elin – noch. Von dem wahren Ausmaß der vor mir liegenden Geschichte kannte ich damals kaum mehr als den Buchdeckel.