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Kapitel 2
ОглавлениеMit Hilfe eines zerfledderten Stadtplans, S-Bahn und Bus gelangte ich fast bis vor die Tür von Santa Christiana. Vielleicht sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass ich zwar eine Niete in Geschichte war, dennoch alte Gemäuer innig liebte. Ganz einfach, weil Schlösser, Speicher, Wohnhäuser, Kirchen oder andere erhaltene Bauwerke mit etwas Fantasie greifbare Geschichten erzählten.
Santa Christiana lag, teils umrahmt von hohen Pappeln, etwas zurückversetzt. Davor befanden sich Parkplätze, nebenan das Pfarrhaus. Zwar erwartete ich keinen Dom, aber auch keine fast winzige, spätgotische Kirche mit schlichten Glasfenstern. „Wie alt mag sie sein, vierzehntes Jahrhundert?“
Entschlossen ging ich zur Eingangstür und drückte die Klinke herunter. „Offen, prima.“ Dämmriges Licht herrschte im Innern. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sich links der Kirchenraum und rechts der Altarraum herausschälten. Die Orgel vermittelte bei meinem Rundgang einen ziemlich mitgenommenen Eindruck, wie überhaupt die gesamte Einrichtung. Abgewetzte Bänke, verstaubte Holzskulpturen und rissige Gemälde boten ein Bild der Verwahrlosung.
„Was jetzt? Hallo, ich bin da!“ Wenn das jetzt nicht völlig durchgeknallt war, was dann?
Durch das Fenster, welches der linken Hälfte des Altarraums etwas Tageslicht spendete, fiel ein Sonnenstrahl hinein. „Nein“, meldete sich mein Verstand, „unmöglich um diese Uhrzeit“. Behutsam trat ich näher. Das Licht fiel in einem Kegel genau auf jene zwei Stufen, die den Altar umgaben.
„Lilia!“
Heftig erschrocken fuhr ich zusammen. Warum erschallten sie plötzlich in dröhnendem Dolby Surround?
„Weil dies ein uralter, heiliger Ort ist, wie ihr Menschen es nennt. Bitte setz dich.“
„In das Licht?“
„Bitte.“
Wäre es um einen stockdunklen Flecken gegangen, hätte ich mich glatt geweigert. So aber setzte ich mich mutig auf die oberste Stufe. Sehr grelles, weißes Leuchten. Meine Augen bereits zugekniffen, spürte ich sogleich ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut.
„Seid ihr Heilige?“, fragte ich mangels gescheiter Ideen, obwohl ich deren Existenz stark anzweifelte.
„Wir sind Sternelben, die Gesandten des Lichts.“
Normalerweise würde jedes Gehirn diese Information unverdaut wieder ausspucken. Wohl infolge der bisherigen Erlebnisse verweigerten meine grauen Zellen keineswegs die Annahme ihrer ungeheuerlichen Behauptung.
„Du machst Fortschritte, Lilia.“
„Warum nennt ihr mich so?“
„Lilie und Elischeba, äußere Schönheit und innere Vollkommenheit, spiegeln sich in deinem Namen.“
„Schönheit und Vollkommenheit – ich? Absurd!“
Die Sängerinnen gingen über meinen Einwurf hinweg. „So wurde es prophezeit: Das Böse gebiert ein Lichtkind. Dieses Kind wird erwachen, bevor die Finsternis abermals alle Menschen verschlingt.“
„Aber woher wollt ihr wissen, dass ich damit gemeint bin? Außerdem heiße ich doch ganz anders“, beharrte ich hilflos.
Sie antworteten mit schwellendem Gesang: „Nur, weil sich deine Mutter dem Licht verweigerte!“
„Lasst sie verdammt nochmal aus dem Spiel! Niemand hat das Recht, meine Vergangenheit aufzuwühlen! Niemand!“, brüllte ich, dass es im Kirchenraum widerhallte. Darüber heftig erschrocken, kauerte ich mich zusammen und hielt den Atem an.
Meine Giftmischerin von Mutter war auf dem Höhepunkt ihrer höllischen Karriere aufgeflogen und der Polizei umstandslos durch Selbstmord entwischt. Diese einmalige Chance hatte ich, obwohl noch minderjährig, genutzt, um spurlos in Berlin unterzutauchen.
Die Ignorantin in mir, immer den drohenden Wahnsinn im Visier, siegte nach langen Minuten des Schweigens. Keinerlei Nachfragen an die Stimmen zu Prophezeiung und Finsternis. Stattdessen abrupter Themenwechsel, alles auf Anfang. „Diese Kirche, warum ist sie wichtig für euch?“
„An diesem Ort opfern und verehren Menschen seit Urzeiten. Es begann mit einer Kultstätte für die Sonne, später folgten Tempel für verschiedene Gottheiten. Schließlich eroberte das Christentum den Platz. Selbst diese Kirche ist nicht die erste, an ihrer Stelle stand vormals eine Kapelle. Nur hier währt schwach der reine Urglauben an das Gute, genährt von unzähligen Menschengenerationen über Jahrtausende hindurch. Deshalb können wir dir nah sein.“
Amüsiert registrierte ich erstmals den sprachlichen Mischmasch aus teils antiquierten, teils modernen Wörtern.
„Wir lernen genauso wie du.“
„Was soll ich lernen?“
„Zunächst einmal müssen sich deine Eigenschaften und Fähigkeiten voll entfalten, bevor du lernst, sie zu gebrauchen.“
Obschon keinen Plan, wovon genau sie da summten, entgegnete ich lapidar: „Das ist alles?“
„Unterschätze die Aufgabe nicht.“
„Ich habe so viele Fragen!“
„Genug für heute, Lilia. Du musst dich sputen, die Dunkelheit naht.“
„Och, die Nacht macht mir keine Angst.“
Komisch, sie summten wirr.
Den Heimweg verbrachte ich traumduselig, bis mein Alter Ego loslegte: „Aber klar doch, typisches Erzählmuster von Fantasystories. Irgendwann taucht irgendwo ein unscheinbares Persönchen auf, in dem sich aus unerfindlichen Gründen ein mysteriöses Erbe verbirgt. Tse! Könntest du dir eventuell mal ins Gedächtnis rufen, dass außerhalb von Büchern eine stinknormale Realität existiert?!“
Der Besuch in Santa Christiana hatte selbstverständlich von Anfang an einen tieferen Sinn für die Sternelben gehabt. Nebenbei versuchten sie, meinen Charakter insgeheim nach ihren Plänen zu formen. Dass solche Veränderungen durchaus unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen könnten, ging ihnen erst reichlich spät auf.
Tatsächlich Montag. Der Wecker piepte unerbittlich. „Ich muss arbeiten“, war der erste Gedanke.
„Guten Morgen, Lilia. Du wirst nie mehr arbeiten“, säuselten die Sternelben.
„Aber … Wieso das?“
„Nach deinem Tee mehr.“ Das klang fast wie amüsiertes Lachen.
So rasch der Morgenmuffel in mir es erlaubte, brachte ich Tee kochen und Badbesuch über die Bühne. Noch knurrig nach der Barbiepflege, setzte ich mich an den Küchentisch.
„Bitte geh an deinen Schreibtisch.“
„Okay.“ Vorsichtig die Tasse balancierend, durchquerte ich das Wohnzimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen.
„Schau dir deine Papiere an.“
Die Kontoauszüge hatte ich bei meinem Horrortrip ins Einkaufscenter noch gezogen, wie immer unbesehen eingesteckt und hier mitsamt den Kassenzetteln hingeworfen. „Was soll das werden?“ Hektisch wühlte ich im Durcheinander.
„Fünf Millionen Euro! Aber, woher?“
„Ein Präsent für dich.“
„Natürlich, ein Wunsch lautete ja, reich zu sein“, erinnerte ich mich unbehaglich. Solch eine aberwitzige Summe schien mir nun das nächste fiese Lehrgeld für Unbedachtheit. „Was soll ich denn mit so viel Geld?“
Auf Sparsamkeit war ich von Kindesbeinen an gedrillt worden. Nie überzog ich das Konto, die luxuriösen Auslagen der Geschäfte ließen mich kalt. Einzige Ausnahme, wie schon erwähnt: gedruckte Bücher. Das Regal im Wohnzimmer nahm eine komplette Wand ein und platzte, wie man so schön sagt, aus allen Nähten. Egal ob Küche, Flur oder Schlafzimmer, überall standen kleinere, volle Regale, dienten selbst Kommoden als Ablageflächen.
„Wir möchten, dass du ein Haus erwirbst.“
Ungläubig stierte ich weiter auf das Papier, dann endlich fiel der nächste Hammer in mein Blickfeld. Kontoinhaberin war Lilia Joerdis van Luzien. „Was habt ihr getan?“, schrie ich in Gedanken. Doch ohne ihre Antwort abzuwarten, schwante mir Ungeheuerliches. „Wo steckt meine Geldbörse?“ Sie lag genau vor meiner Nase. Von dem herausgezogenen Personalausweis guckte mir mein neues Ich entgegen, neuer Name, neues Geburtsdatum.
Feierlich schmetterten sie: „Joerdis van Luzien bedeutet ‚Schwert der Göttin des Lichts‘.“
Mir schwindelte und doch blieb der innere Aufruhr mäßig.
Elin, meine so unbekannte wie unsichtbare Untermieterin, hatte ganze Arbeit geleistet.
Die cleveren Lichtwesen ließen mich das Ganze erst einmal in Ruhe verdauen.
Während sich die Teekanne langsam leerte, dachte ich irgendwann auch über ein Haus nach. Das wollte mir keinesfalls in den Kopf. „Was soll ich allein damit?“
„Dort wirst du Ruhe finden und es ist sicherer.“
„Aber die Gegend hier ist ruhig und sicher. Gerade deswegen entschied ich mich vor einigen Jahren für diese Wohnung.“
„Möchtest du keinen schönen Garten?“
Oh, jetzt packten sie mich beim Schlafittchen, davon träumte ich in der Tat in manchem Sommer.
„Heute findet die Besichtigung statt. Es handelt sich um ein Gartenhaus in der Rosenallee.“
„So schnell schon?“, sendete ich ebenso verzagt wie überrumpelt.
Punkt 14 Uhr klingelte ich an dem herrschaftlichen Vorderhaus. Ein schmucklos klotziges, lang gezogenes Gebäude aus der vorigen Jahrhundertwende, mit schmutzig weißem Anstrich. Offensichtlich war dem Haus jede Liebe zum schmückenden Detail verweigert worden.
„Ihnen scheint mein Haus zu missfallen.“ Der Mann, der nun die Haustür öffnete, hatte mich bereits beobachtet.
„Guten Morgen, ja, Sie haben recht“, gab ich ebenso direkt zurück. „Ich interessiere mich für das Gartenhaus.“ Und hoffte inständig, der auf Anhieb unsympathische Kerl und das Gartenhaus würden mich möglichst flott mit ihrer Schokoseite überraschen.
So unverhohlen skeptisch wie der Eigentümer mich von oben bis unten musterte, standen zumindest in seinem Fall die Chancen dafür schlecht. „Es steht zum Verkauf“, sprach er betont deutlich aus, „für zweieinhalb Millionen“.
Mit einem Kostüm von Chanel statt Jeans und Steppjacke sowie einem hinter mir geparkten BMW, so dämmerte es mir, stünden meine Karten jetzt besser.
Ich lächelte süßlich. „Möchten Sie die Summe in bar, falls mir das Haus zusagt?“
Ah, die Sprache verstand er, ein Grinsen zuckte über sein hartes Gesicht. „Ich hole die Schlüssel.“
Der Knilch bat mich trotz klirrender Kälte nicht hinein. „Idiot!“
Wir gingen einen Kiesweg hinunter, rechts und links mit Buchsbäumchen bepflanzt. Auf der linken Seite erstreckte sich hinter dem Haupthaus ein verschneiter Park. Alte Eichen, Buchen und Nadelbäume reckten ihre Äste weit in den Himmel, dazwischen blitzte eine Eisfläche auf.
„Der Park ist von etwaigen Sommerpartys strikt ausgenommen, das wird im Kaufvertrag festgehalten.“
„Was für ein Fiesling.“ Unser Weg schwenkte leicht nach links und gab den Blick frei auf einen herrlichen Brunnen. „Und was für ein Haus!“ Die Fassade im warmen Ockergelb gestrichen, mit großzügigen weißen Sprossenfenstern, zwei Säulen umrahmten den Hauseingang.
Der Eigentümer schritt die Stufen empor und öffnete neben der doppelflügeligen, weißen Holztür ein eingelassenes Metallkästchen.
„Ich habe das Haus mit dem modernsten Sicherheitssystem ausrüsten lassen. Nur mit der richtigen Zahlenkombination und dem dazu passenden Schlüssel gelangt man hinein.“
Da er dies mit sichtlichem Stolz verkündete, rang ich mir ein „sehr schön“ ab. Heftig fieberte ich nun dem Inneren entgegen.
Die Eingangshalle war beinahe rund, durchbrochen von einer Freitreppe.
„Früher logierten hier die Gäste unserer Familie.“
Zuerst ließ er mich das Gäste-WC besichtigen, dann die traumhaft geräumige Küche. Der Clou war ein nachträglich daran angebauter Wintergarten.
„Mit Fußbodenheizung, wie übrigens im ganzen Haus.“
Im Wohnzimmer, „selbstverständlich mit Kamin“, reichten die Fenster auf der Terrassenseite fast von der Decke bis zum Boden. Ein heller, riesiger Raum mit üppig hohen Stuckdecken. Es würde einige Mühe kosten, dem eine gemütliche Atmosphäre zu geben. „Ganz alleine hier leben?“, ging es mir durch den Kopf, „auf über zweihundertvierzig Quadratmetern?“ Konnte das gutgehen? Ergab das Sinn?
Danach stiegen wir ins Obergeschoss. Rechts führte die erste Tür ab.
„Dahinter befindet sich jetzt eine kleine Gästewohnung, sie liegt über den ehemaligen Ställen“, beschied er mich mit der Stimme eines Zahnarztes, der mit seinem Bohrer vor einem zugekniffenen Mund herumfuchtelt.
Der Mann bereitete mir wachsendes Unbehagen. „Konzentriere dich auf das Haus“, zwang ich meine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.
Urgemütlich mit ihren Schrägen und Erkern, bestand die Gästewohnung aus einem langen Wohnraum und dem dahinter liegenden Bad.
Zurück auf dem Flur, folgte die Besichtigung weiterer Zimmer mit Bad. Währenddessen textete er mich mit Details aus der Sanierung des Gartenhauses zu, die mich nicht die Bohne interessierten. Er brüstete sich, als wären die Arbeiten von ihm eigenhändig ausgeführt worden. „Wer’s glaubt“, dachte ich und gab trotzdem, fleißig lächelnd, Laute scheinbarer Bewunderung von mir.
Das Sahnehäubchen, sofern es dessen überhaupt noch bedurfte, verbarg eine Wendeltreppe. Flink ergatterte ich den Vortritt, erklomm vorsichtig das Rondell und schritt wenige Sekunden später in einen achteckigen Raum.
„Dort befand sich das Observatorium meines Urgroßvaters“, tönte er von der Treppe.
Wände und Kuppel bestanden komplett aus Glas. „Nachts muss es herrlich sein, hier einfach auf dem Boden zu liegen und in die Sterne zu schauen.“ Schon als Kind konnte ich mich in der Betrachtung des Sternenhimmels verlieren, seine Unendlichkeit schreckte mich nie.
„Hrmmrmmh.“ Dem Räuspern folgte seine drängelnde Ansage: „Sie sollten noch den Keller, die Garagen und die Außenanlage begutachten.“
Während wir gemeinsam das Haus umrundeten, fiel mir eine dezente Hecke auf. Unverblümt fragte ich danach.
„Sie markiert die Grenze Ihres Grundstücks, auf dem Sie selbstverständlich tun und lassen können, was Sie möchten.“
„Meines Grundstücks? Na bitte!“ Selbstbewusst verkündete ich: „Ich kaufe das Gartenhaus.“
Er streckte mir seine Hand entgegen, ich schlug ein.
„Unsere Anwälte regeln dann die Formalitäten.“
„Sag ihm jetzt bloß nicht, dass du gar keinen Anwalt hast.“ „Einverstanden“, gab ich zurück.
Zu der ungestümen Freude über das Haus gesellte sich große Erleichterung, endlich aus dem Dunstkreis des Ekeltypen zu gelangen.
Obwohl erschöpft von meiner Besichtigungstour zuhause angekommen, gönnte ich mir beim mittäglichen Frühstück keine Denkpause. Viel größere Sorge als die Abwicklung des Kaufs bereitete der neue Nachbar in spe. „So ein eiskalter, bornierter Widerling“, schüttelte es mich.
„Darüber mach dir bitte keine Gedanken, das Problem wird in naher Zukunft verschwinden“, brausten sie.
Ausdrücklich wollte ich keinesfalls wissen, wie und warum. „Das Haus ist so groß, nachts werde ich mich dort bestimmt fürchten“, gab ich kleinlaut zu bedenken.
„Was hast du in dem Haus gefühlt?“
Verblüfft ging ich der seltsamen Frage nach. „Der Mann, irgendwie fühlte sich seine Nähe falsch an, dunkel, jede Empfindung in dem Gebäude überschattend.“ Dann dachte ich an das Observatorium. „Ja, ein wunderschöner Moment reinen Glücks!“
„Du wirst in dem Haus glücklich sein, das versprechen wir dir.“
Nicht jedes zukünftige Ereignis steht in den Sternen, wie ich später auf die harte Tour lernen musste.
Ausgeschlafen startete ich in den Dienstag. Langsam wurde mir klar, was mit dem Haus alles auf mich zukam. Umzüge empfand ich, wie wohl viele Menschen, grundsätzlich als Albtraum. Diesmal musste obendrein ein riesiges Haus mitsamt Küche eingerichtet werden. Das klang nach einem Fulltimejob. „Echt ein Segen, keinen Job mehr zu haben.“ Bei diesem Gedanken fiel mir zum ersten Mal auf, dass niemand vorbeikam, anrief oder Emails schickte, niemand mich vermisste. Warum war mir das entgangen? Haltlose Leere kaperte mein Herz, noch bevor mein Verstand harten Gesangsunterricht verpasst bekam.
„Lilia, die Menschen, die du kanntest, gehören der Vergangenheit an.“
Mein Magen begriff schneller als mein Verstand, beförderte den Tee knapp, aber wenigstens in die Spüle. Heftiger Schwindel ließ mich den Beckenrand umklammern. Mit Gummiknien schleppte ich mich schwer atmend zum Küchenstuhl hinüber. „Aber meine Freunde… Ihr könnt doch nicht einfach mein Leben zerstören!“
„Du wirst neue Freunde finden“, flötete ihr Chor.
Das traf mich steinhart. Wenn auch wenige an der Zahl, hing ich unendlich an ihnen. Tränen schwammen in meinen Augen und ich versuchte, gegen meinen rebellischen Magen anzuschlucken. Tief greifender Abschiedsschmerz, mindestens wie bei einer Beerdigung, presste mein Herz zusammen.
Die Sternelben versuchten singend Trost zu spenden.
Sämtliche Brücken in die Vergangenheit kippten wie Dominosteine. „Bin ich wirklich bereit, alles und vor allem mich selbst aufzugeben?“
„Du gibst dich nicht auf, du bist auf dem Weg zu dir selbst.“
„Mein Selbst entwickelt sich zu einer absolut Fremden“, erwiderte ich tonlos.
Wie hoch würde der Preis dieser mysteriös-verrückten Geschichte steigen? Unruhig tigerte ich durch die Wohnung, mochte mich für keinen nächsten Schritt entscheiden. Echt paradox, dass mich das beiderseits herrschende Schweigen nervös machte. „Am besten raus hier und einen ersten Streifzug durch Möbelhäuser unternehmen.“
Echter Widerstand ging anders.
Im Möbelhaus kam ich nie an. In beunruhigend verworrene Gedanken versunken, fand ich mich vor Santa Christiana wieder. Dummerweise war die Tür diesmal verschlossen.
„Hallo, möchten Sie in die Kirche?“ Von dem Pfarrhaus kam ein Priester herüber und sah mich neugierig an.
„Ja, das wäre schön. Ich dachte, sie sei immer offen“, antwortete ich und blickte ebenso neugierig zurück.
Der Priester musste etliche Jahre jünger als ich sein. „Nein stopp, jetzt natürlich etwa fünfzehn Jahre älter.“ Sein freundliches, offenes Gesicht, mit den Lachfältchen um seine Augen, flößte mir ansatzweise Vertrauen ein.
„Ich bin Lilia.“
Er ergriff die ausgestreckte Hand. „Pater Raimund. Kommen Sie, ich schließe auf. Schätze dürfen Sie in unserer bescheidenen Kirche allerdings kaum erwarten.“
Ehrlich währt am Längsten. „Nein, ich weiß, mir geht es um die Stille.“
In der Kirche empfing uns bittere Kälte. War mir das bei dem ersten Besuch entgangen?
„Leider hat unsere Heizung einen Totalschaden, deshalb war auch zugesperrt. Unsere Gemeinde muss bis zum Frühling in der Nachbarkirche unterschlüpfen.“
Das war allzu offensichtlich nur die halbe Wahrheit.
„Dauert der Einbau einer neuen Heizung denn dermaßen lange?“, lockte ich ihn aus der Reserve.
„Nein, nein“, lachte er bitter, „wir sind einfach pleite, das ist der Grund. Aber nun lasse ich Sie allein, anstatt Sie mit meinen Sorgen zu belasten.“
Kaum hatte der Priester die Kirche verlassen, strebte ich auf den Altar zu und hockte mich auf dessen Stufen. Ihr Licht erschien zu meiner großen Erleichterung. Im Geist formulierte ich eine Frage mit dem frechen Hintergedanken, mein Konto möglichst rasch mit Hilfe sinnvoller Investitionen zu leeren. Die Sternelben freuten sich über meine Idee. Später am Tag musste ich lediglich noch herausfinden, wie man eine anonyme Spende über fünfzigtausend Euro hinbekam. Die Aktion war nicht völlig ohne Hintergedanken, schließlich vermutete ich vage, noch häufig an diesen Ort zu kommen.
„Pater Raimund wird dir ein wahrhaft guter Freund sein, Lilia.“
„Das wäre schön! Aber noch schöner fände ich es, wenn ihr mir jetzt verraten würdet, wozu ihr mich braucht“, drängelte ich.
Erst weit später, dennoch schneller als von den Sternelben erwartet, sollte ich ein bedeutendes Stück der schaurigen Wahrheit erfahren: Die Dämonen hatten, angetrieben durch ihren irdischen Fürsten, eine Möglichkeit gefunden, sich Menschen gefügig zu machen. Daher drohte ein Ungleichgewicht des Bösen.
Hier in der Kirche aber erklärten sie mir nur einen scheinbar harmlosen Teil des Problems. „Wir selbst können die Menschen nicht beeinflussen, weil uns kein wahrer Glaube mehr aneinander bindet. Deshalb wünschen wir uns, dass du diese Aufgabe löst.“
„Was genau meint ihr damit?“, hakte ich irritiert nach.
„Immer mehr Böses geschieht, ohne dass wir einzuschreiten vermögen. Wenn du dazu bereit bist, gibst du unser Wissen an die Menschen weiter, warnst sie vor Gefahren.“
„Wer würde ausgerechnet mir zuhören? Ich kann wohl kaum einfach losrennen und den Leuten sonst was Apokalyptisches erzählen. Die würden mich glatt für verrückt halten!“, protestierte ich geschockt. Der Plan sprengte mein Vorstellungsvermögen.
„Unterschätze niemals unsere Macht, Lilia. Wir werden dir helfen. Doch zuvorderst benötigst du göttliches Licht.“
„Wozu ist das gut?“ Das mitschwingende Misstrauen hielt sich in engen Grenzen.
„Du hast bemerkt, dass du uns nur in der Nähe des Buches und in dieser Kirche hören kannst. Nimmst du jedoch das Licht in dir auf, ist dies möglich, wo immer nötig.“
„Klingt fast wie Zauberei. Und wie funktioniert das?“
„Du spürst es bereits.“
„Das Prickeln auf meiner Haut?“
„Ja. Lege deine geöffneten Hände mit der Innenseite nach oben in deinen Schoß.“
Still saß ich lange so da und lauschte entrückt ihrem Gesang.
Die Sternelben verschwiegen mir, dass das aufgenommene Licht später vor allem als tödliche Waffe gegen Dämonen dienen würde. Und indem ich das Licht speicherte, wurde ich ganz nebenbei für die schrecklichen Wesen der Finsternis so sichtbar wie ein Komet in der Nacht. Auch diese Kleinigkeit unterschlugen sie. Doch die eigentliche Gefahr lag noch weit vor mir, und sie sollte gigantisch sein.
Anschwellender Gesang schreckte mich aus meinen fantastischen Träumereien hoch. „Lilia, genug für heute. Bevor du gehst, noch eines. Der Priester hat dich im Licht gesehen, als er nachschauen wollte, ob du bereits gegangen bist.“
„Oh shit! Und jetzt?“
„Jetzt hat er etwas, worüber es sich nachzudenken lohnt“, riefen die Sternelben lachend.
Kichernd begab ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Unterwegs fand ich plötzlich die bloße Vorstellung, einen Priester als Freund zu bekommen, ziemlich skurril. Mit Kirche und Co. hatte ich noch nie was am Hut. Warum also hatte ich Begeisterung bekundet? Schwach! „Ein Freund, wie schö-ön“, mokierte sich mein Alter Ego „Nächstens steigerst du dich dann garantiert zu: ‚Ganz zauberhaft, meine Lieben, ganz zau-ber-haft‘!“ „Grrrrh.“
Am nächsten Tag wollte ich telefonisch einen Umzugsunternehmer organisieren, damit zumindest das Packen der geschätzt achtzig Bücherkartons bald starten konnte. Doch die Lichtwesen stoppten mich.
Kurz darauf klingelte es. Ein Fahrradkurier kam die Treppe hoch geflitzt und drückte mir wortlos ein großes Kuvert in die Hand. Als Absender prangte der Stempel einer Anwaltskanzlei.
In dem Umschlag befand sich nicht nur der Kaufvertrag für das Gartenhaus, sondern bereits die Schlüssel dazu. „Unglaublich!“ Logischerweise hatte ich erwartet, das Prozedere würde viele Wochen verschlingen.
Eindeutig, die Lichtwesen kicherten. „Lilia, sicher möchtest du gleich zu deinem Haus fahren. Vorher musst du Folgendes wissen: Dort erwartet dich eine Elbe, Elin ist ihr Name.“
Mir blieb die Spucke weg. Hatten sie wirklich gerade „Elbe“ gesungen? E-L-B-E? „Eine, aber, was, wieso das, tut sie denn da …?“, stotterten meine Gedanken ohne geistreiche Anweisungen.
Sie schwiegen taktvoll.
„Und wie verhält man sich gegenüber Elben?“
„Genauso herrlich respektlos, wie du uns begegnest. Sei einfach freundlich. Sie wird dir helfen und Rat erteilen, wenn du darum bittest.“
Gespannt wie ein Flitzebogen, zugegeben auch hochgradig nervös, marschierte ich zur S-Bahn. Dann ging es los. „Eine Elbe? Ernsthaft?“ Prompt spulten Filmsequenzen aus J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ in meinen Kopf ab. „Du spinnst doch total! Elben? So ein Blödsinn!“, schimpfte mein Alter Ego. „Du meinst, die machen einen Scherz?“ „Was denn sonst? Oder bist du jetzt etwa rationalamputiert?" Als Reaktion auf unseren internen Schlagabtausch startete mein Verstand den kurzen Versuch, eine lupenrein rationale Erklärung für sämtliche Vorgänge abzuliefern. Demnach musste ich seit Wochen – wahrscheinlich nach dem Sturz von Joschs XXL-Leiter – im Koma liegen und ungebremst vor mich hin spinnen. „Wie die Elbe wohl aussieht?“, machte meine Fantasie kurzen Prozess.
Die Fahrt zum Gartenhaus dauerte diesmal gefühlt ewig. Unruhig rutschte ich in der S-Bahn auf meinem Sitz herum.
Mehr schlitternd als gehend hastete ich das letzte Stück über vereiste Wege bis zum Gartentor. Der fiese neue Nachbar schien verreist zu sein, unberührter Neuschnee lag vor seinem Haus wie auf dem Weg zum Gartenhaus. Die geräumten Treppenstufen vor dem Eingang fielen daher sofort ins Auge. Dickes Fragezeichen! Den Geheimcode für die Alarmanlage hatte mein Gehirn unverständlicherweise sofort abgespeichert. Kurz schüttelte ich irritiert den Kopf über mich.
Leise schloss ich die Tür auf – und bekam tellergroße Augen. „Der Flur ist bereits eingerichtet!“, rief ich voller Staunen aus. Gläserne Bodenvasen mit Rosen darin, die ihren sanften Duft verströmten, standen rechts und links der Freitreppe. Dann erblickte ich sie. Elin. Ein weiß schimmerndes Lichtwesen, halb menschlich und halb überirdisch anmutend. Ihre grazilen Bewegungen ließen schwache Blautöne über das lange weiße Gewand gleiten. Etwas kleiner als ich, wirkte sie zart, fast zerbrechlich unter ihren weißblonden, üppig langen Haaren. Im krassen Kontrast dazu baumelte ein silbernes Schwert an ihrer Hüfte. Graublaue, geheimnisvolle Augen betrachteten mich ernst. Unwillkürlich verglich ich ihre Erscheinung mit der Elbe Galadriel. „Irgendwie ähnlich und doch sehr anders.“
Später gewahrte ich den bedeutenden Unterschied. Bei Elin fehlte die offensichtliche Ausstrahlung von Macht.
Überraschend erklang Elins melodische Stimme in meinem Kopf: „Ich grüße dich, Lilia, willkommen in deinem Heim.“
Etwas unsicher, ob meine Gedanken von ihr ebenso gehört würden, versuchte ich: „Hallo, Elin, ich freue mich, dich kennen zu lernen.“
Sie lächelte bestätigend.
Plötzlich überwältigte mich eine fremde, völlig unbekannte Empfindung. Als ob ein Wimpernschlag zwei Teile zusammengefügt hätte, fühlte es sich wie die Rückkehr eines verloren geglaubten Zwillings in mein Innerstes an.
Elin nickte. „Ein Teil deiner Seele, in dem sich das Vermächtnis der Elben befindet, ist erwacht und erkennt mich. Das ist ein gutes Zeichen. Komm nun, alles ist bereit. Sieh selbst, ob es deinen Wünschen entspricht.“
Kaum hatten wir unseren gemeinsamen Rundgang begonnen, kapitulierte ich jedoch. In der Küche, als spontan gewählter Zufluchtsort, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Alles war zu viel. Mein Inneres gab sich heftig aufgewühlt, eine Dosis, die bereits völlig ausgereicht hätte. Obendrein befanden sich im Haus keineswegs ausschließlich neue Möbel. Um mich herum standen, lagen und hingen Dinge aus meiner Küche, da war ich mir sicher. Und im Wintergarten standen eindeutig meine Zimmerpflanzen. Großes, erschöpftes Fragezeichen.
Elin trug ein Teetablett herüber. „Ja, mit meinem heiß geliebten blauen Teeservice.“ Ich schloss meine Augen und genoss das beruhigende Getränk.
Gerade als ich die Elbe fragen wollte, wie meine Sachen hierher gekommen waren, erklang ihre Stimme. „Ich kann über Gegenstände wirken.“ Sie lächelte abermals. „So musst du nicht mehr umkehren.“
„Aber ich kann es auch nie mehr“, dachte ich mit hochbrodelnder Panik. „Und all der Aufwand, bloß damit die Menschen ein paar Nachrichten von den Sternelben erhalten?“ Sollte ich eher an ihnen oder an mir zweifeln?
Nachdem die Teekanne keinen Tropfen mehr hergab, wollte ich den Tisch abräumen.
Elin erschien. „Lass mich das erledigen.“
„Aber nein, du bist doch keine Dienerin“, wehrte ich entgeistert ab.
„Es verursacht keinerlei Mühe.“ Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung ihrer Hände verschwand das Teeservice.
Jetzt war ich restlos platt! „Das ist doch mal eine echt praktische Fähigkeit“, platzte ich laut heraus. „Entschuldige.“
Die Elbe bedachte mich mit einem unergründlichen Blick. Eindeutig war ein heißes, entspannendes Schaumbad überfällig. Im Hinausgehen wagte ich noch einen kurzen Blick in den riesigen Kühlschrank. Voll bis oben hin mit Leckereien. Gab es irgendetwas, das sie noch nicht über mich wussten? Meine hyperaktive Zweifelecke konnte ich erst in der Badewanne ruhigstellen.
„Weiß und blau. Mitternachtsblau, azurblau, blaugrün, blaugrau, aber keine hellblaue Kleidung. Das wäre auch wirklich das Letzte!“ Der begehbare Kleiderschrank enthielt keineswegs meine alten, übergroßen Klamotten, sondern wunderschöne neue Hosen, Pullover und Unmengen weiterer Sachen. „Wieso Kleider? Trage ich doch nie. Weiß und blau, hmmh.“ Da kein Kommentar in meinem Kopf erklang, musste ich halt später nachfragen. Mangels Pyjamas schlüpfte ich in ein langes Nachthemd aus weißer Seide und ging hinunter in die Küche.
Keine Spur von Elin, inzwischen herrschte draußen Dunkelheit. Vom Esstisch her duftete es verführerisch nach Tomatensuppe, meiner Leibspeise. Ein Salatteller und ein Schälchen mit Zitronencreme ergaben mein köstliches Abendessen. „Woher weiß die Elbe all diese Dinge über mich?“, bedrängte mich abermals eine besorgte innere Stimme auf meinem Weg ins Schlafzimmer. „Hier fehlen aber noch Vorhänge oder Rollos an den Fenstern. Ach nein, sie wollen ja bestimmt wachen.“ Und damit schlief ich ein.
Aus dem Buch „Inghean“
Ahnt der schwarze Fürst die bevorstehende Rückkehr seiner ärgsten Feindin? Seine Sklaven kriechen durch die nächtlichen Straßen. Mir scheint, es werden immer mehr.
Einige Tage später befand sich mein Innenleben wieder einigermaßen im Gleichgewicht. Das Wetter tendierte in den letzten Februartagen zu matschiggrau. Hoffentlich kam bald der Frühling. Jedenfalls wollte ich an diesem Tag unbedingt Santa Christiana besuchen, die Kirche fehlte mir seltsamerweise. Seit dem Vortag stand ein funkelnagelneuer Kleinwagen in der Garage, die Sternelben wollten es so. Allerdings verspürte ich keine Lust, damit durch die Stadt zu fahren. Ein eigenes Auto hatte ich nie zuvor besessen. Wozu sollte man so was in Berlin auch benötigen, außer um unnötig viel Zeit im Stau zu vertrödeln?
Auf dem Weg zur S-Bahn ging ich im Kopf den Fragenberg durch, der sich zwischenzeitlich dank unserer stillschweigend vollzogenen Kommunikationspause angesammelt hatte.
Die Kirchentür stand offen, drinnen sah der Priester nach dem Rechten.
„Hallo, Pater Raimund“, grüßte ich ihn.
„Hallo, Lilia! Wie geht es Ihnen?“
„Gut, zumindest wenn Sie mich nicht rausschmeißen“, erwiderte ich keck.
„Um Himmels Willen, warum sollte ich.“ Er zögerte. „Hätten Sie später vielleicht Lust auf einen Kaffee, wenn Sie in der Kirche genug gefroren haben?“
„Sag zu“, riet elbischer Gesang.
„Gute Idee. Aber noch lieber auf Tee.“
Das Licht umarmte mich, während ich mit geschlossenen Augen horchte. Die Lichtwesen sangen mir ein Lied über die Elben aus längst vergangener Zeit vor und erinnerten mich auf diese Weise an meine Aufgabe. In den vergangenen Tagen hatte ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet.
Umgehend bekam ich ein ordentlich schlechtes Gewissen. „Bitte sagt mir, was ich für euch tun kann.“
Erfreut gaben sie Auskunft. „Lilia, um das Tun und Lassen der Menschen begreifen zu können, musst du ihre Gefühle und Empfindungen verstehen, ihre Seelen hören lernen.“
Statt einer Antwort schickte ich ausgiebiges Seufzen gen Himmel. Die alte Abneigung gegen Kontakte zu meinen Mitmenschen meldete sich. Tatsächlich hielt ich mich bei dieser Aufgabe für die ungeeignetste Person in ganz Berlin.
Mit großem Ernst riefen sie mich zur Ordnung. Die Sternelben hofften, ich würde rasch jene tiefgreifenden Veränderungen meiner Persönlichkeit akzeptieren und nutzen, die sie nach ihren speziellen Wünschen vorgenommen hatten. Zu mir meinten sie nun lediglich: „Dir mangelt es an Selbstvertrauen.“
„Dann bitte ich euch darum, sonst werdet ihr nur weiter enttäuscht.“
Sie schienen besänftigt.
Also fragte ich, wie das Lernen am besten funktionieren würde – und beantwortete die dumme Frage gleich selbst. „Unter Menschen gehen, natürlich.“
Die Sternelben summten amüsiert. „Du kannst nachher bei Pater Raimund üben.“
„Okay, das dürfte für einen ersten Versuch kaum allzu schwierig werden“, stimmte ich erleichtert zu. Eine andere Geschichte brannte mir unter den Nägeln. „Ist Elin ganz allein hier?“
Traurig erklangen daraufhin ihre Stimmen. „Die wenigen verbliebenen Elben haben sich vor ewigen Zeiten auf eurer Erde verteilt. Sie wachen seither einsam und unsichtbar über das Böse, so gut sie es vermögen. Ihr Opfer ist unermesslich für euch.“
Mein Herz verkrampfte sich bei dieser ungeheuerlichen Vorstellung, bis mir Tränen über das Gesicht liefen. Doch bald schon würde ich mich mit grenzenlosem Zorn an ihre Antwort erinnern.
Eine weitere, nagende Frage bohrte sich hervor, obwohl ich ihre Antwort fürchtete. „Bin ich auch allein oder konnten andere Menschen ebenfalls das Buch lesen?“
„Du bist allein. Nur weil sich das Erbe deiner Elbenahne in dir erhalten hat, erkannte dich das Buch. Wir haben lange auf dich gewartet.“
Elektrisiert richtete ich mich auf. „Ihr wusstet, dass dies alles passieren würde?“
„Die Macht des Lichtes reicht weit.“
Aber es schützte mich nicht vor Einsamkeit. Allein unter Millionen Menschen! Todtraurig dachte ich an meine alten Freunde Peps, Emi, Phil und Suse. „Wie es ihnen wohl geht?“ Selbst wenn meine Freunde noch bei mir wären, sprang mich die Wahrheit an, könnte ich all die Ereignisse seit dem entscheidenden Besuch in Joschs Antiquariat niemals mit ihnen teilen. Sie würden mich in bester Absicht umstandslos in die Klapse einliefern. Unglücklich fügte ich mich den Tatsachen.
„Lilia, der Priester wartet.“ Die Sternelben spendeten keinen Trost.
„Seid ihr enttäuscht, hattet ihr mehr von mir erwartet?“
„Wir hofften, du würdest dich Elin zuwenden.“
„Ich …“ Elin war kein Mensch, ihr Wesen wirkte sehr fremd und einschüchternd. „… will mich bemühen“, rang ich mich durch.
Zufrieden zog sich das Licht zurück.
Ja, zugegeben, ich glaubte ihnen damals jeden Unsinn, den sie mir auftischten. Obendrein forderte ein Teil meines Unterbewusstseins hartnäckig bedingungsloses Vertrauen gegenüber den Sternelben ein. Dabei reagierte ich normalerweise auf jede Art von einseitigen Nettigkeiten allergisch. Dumm nur, dass mein tief verankertes Misstrauen den entscheidenden Zeitpunkt für ultimativen Einspruch vergeigt hatte.
Der melodische Gong an der Tür des Pfarrhauses gefiel mir.
Pater Raimund öffnete. „Schön, dass Sie gekommen sind, der Tee ist gerade frisch aufgegossen.“
Wir gingen in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, halb Wohnzimmer und halb Büro, in dessen Mittelpunkt ein großer, runder Esstisch stand.
„Solange, wie Sie es in der Kirche aushalten, müssten Sie sich jedes Mal eine dicke Erkältung holen“, meinte er halb scherzhaft.
„Komisch, mir ist nicht einmal kühl geworden.“ Das behielt ich aber schön für mich. Die Unruhe des Priesters war überdeutlich spürbar und so nickte ich ihm auffordernd zu.
„Heute Morgen erhielt ich einen Anruf unserer Buchhalterin. Sie unterrichtete mich über eine anonym eingegangene Spende für unsere neue Heizungsanlage. Sie wissen nicht rein zufällig etwas darüber?“
Ich lächelte spitzbübisch. „Das sind ja wunderbare Neuigkeiten.“
Die ausweichende Antwort interpretierte er kurzerhand als Eingeständnis. „Mir ist eine riesengroße Last von den Schultern genommen – durch einen Engel, wie mir scheint.“
Ah, jetzt kamen wir zum spannenderen Teil unseres Gesprächs. Ich genoss einen großen Schluck Tee und wartete entspannt, wie Pater Raimund die Kurve zum Licht nehmen würde.
Just in dem Moment platzte seine Haushälterin herein. „Aber Herr Pfarrer“, tadelte die mollige Endfünfzigerin, „wo ich frischen Kuchen gebacken habe. Und Sie bieten der jungen Dame nichts an.“ Wobei sie mir ein verschmitztes Lächeln zuwarf. Sie hob ihr schweres Tablett, beladen mit Kirschkuchen und Sahne, auf den Tisch. „Nun langen Sie mal kräftig zu.“
Eine Minute später waren wir wieder allein.
Während ich heißhungrig das erste Stück mit extra viel Sahne verschlang, spielte der Priester mit seiner Kuchengabel. Er rang mit sich und dem passenden Satzanfang. Noch nie hatte ich die Gefühle eines anderen Menschen so klar und überdeutlich wahrgenommen, als wären es meine eigenen.
„Mir ist nie zuvor die Wintersonne im Altarraum aufgefallen“, eröffnete er die Partie.
Geschickter Schachzug.
Die Sternelben kommentierten: „Er ist um die Kirche herumgegangen, um die Quelle des Lichts zu finden.“
„Mir auch nicht“, gab ich scheinheilig zurück.
Der Pater setzte nach: „Und ich glaube, ehrlich gesagt, nicht an real existierende Engel.“ „Aber Sie sehen wie einer aus“, prangte in fetten Buchstaben auf seiner Stirn.
„Womit soll ich ihm antworten?“, fragte ich die unsichtbaren Dritten im Raum.
„Versuche dich zunächst allein an der Antwort, Lilia.“
„Das scheint mir ein echtes Problem unserer Moderne zu sein. Wir sind vollkommen auf Technik fixiert und unsere Seelen verkümmern darüber.“
Höchst irritiert blickte mir Pater Raimund direkt in die Augen. Das, was er hätte aussprechen wollen, blieb ungesagt, sein Mund klappte regelrecht zu. Erschüttert schlug er die Augen nieder und stand auf.
Leise sprach ich ihn an: „Bitte, Pater, das Lernen ist doch Teil unseres Lebens. Oder?“
Hart stieß er hervor: „Glauben Sie an Gott, Lilia?“
„Nicht an Ihren Gott, nein, aber irgendwie an das Göttliche.“
Der Priester ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. „Genau vor dieser Antwort habe ich mich gefürchtet.“
Mitleidig schaute ich zu ihm hinüber. „Pater Raimund, Sie sind doch keineswegs auf den Kopf gefallen. Schauen Sie, fünf große Weltreligionen binden den Glauben der meisten Menschen auf unserer Erde. Aber an was genau glauben sie eigentlich? Die jeweiligen Wurzeln betrachtet, betet jeder Gläubige das universelle Wissen über die Existenz von Gut und Böse an. Nur eben unterschiedlich verpackt.“
Verstehen erfasste seinen Geist, deshalb fuhr ich fort: „Ich halte mich an die Wurzel, viel mehr unterscheidet uns beide nicht.“
Er lachte gequält auf. „Nun ja. Ich wette, Sie erhalten von Ihrer Wurzel jene Antworten, die mir von meinem Gott verwehrt werden.“
Beinahe hätte ich ihn laut gefragt, was er denn würde wissen wollen.
Die Sternsängerinnen stoppten mich im letzten Moment: „Genug, Lilia, ihr solltet das Thema bei anderer Gelegenheit weiter besprechen.“
Auf den abrupt vollführten Themenwechsel ließ sich Pater Raimund bereitwillig ein. Also plauderten wir über die historisch äußerst wertvolle, leider hoffnungslos defekte Orgel mit ihrem einzigartigen Klang.
„Darf ich?“
„Bedenke dabei bitte, dass du die Kirche oft für dich allein benötigst“, mahnten sie.
„Da lässt sich bestimmt eine Lösung finden! Vielleicht könnten die Orgelbauer zu festgelegten Uhrzeiten in der Kirche arbeiten.“
Langsam sollte ich den Heimweg antreten, wenn ich noch in die Bank wollte. Wir verabschiedeten einander und ich versprach, bei nächster Gelegenheit wieder vorbei zu schauen.
Wer von uns beiden hatte an diesem Tag mehr Stoff zum Nachdenken bekommen?
Bevor ich mich daheim in die Badewanne sinken ließ, schaute ich in den Spiegel. „Warum hatte der Priester heute derart geschockt auf meine Augen reagiert?“ Mich näher zum Spiegel beugend, bemerkte ich die Veränderung. „Wann ist das denn passiert?“ Meine blauen Augen wirkten alt. Nicht trüb wie bei alten Menschen, vielmehr wie durchdrungen von tiefen Erinnerungen und Lehren der Weisheit. Der Kontrast zu meinem jungen Gesicht konnte kaum größer ausfallen. Kein Mensch besaß einen solchen Blick. „Elin, ja, ähnlich den Augen der Elbe.“ Die Sternelben hatten Recht, ich sollte mit ihr reden. Möglicherweise fanden wir doch einige Gemeinsamkeiten. Aber für heute war mein Limit erreicht. „Schluss, aus, Schaumbad.“
Ein opulentes Frühstück erwartete mich am nächsten Morgen bereits auf dem Küchentisch: Croissant, Zimtquark mit frischem Obst, Crêpe, Orangensaft und eine Kanne starker schwarzer Tee. Nach dem Bad am gestrigen Abend war ich so erschöpft gewesen, dass das Abendessen schlicht in Vergessenheit geriet. Heißhungrig verspeiste ich nun die Mahlzeit bis zum letzten Krümel.
Bei einer weiteren Tasse Tee überlegte ich, wo Elin wohl steckte.
Prompt erschien ihr Kopf in der Tür zum Wintergarten. „Ich habe mich um deine Pflanzen gekümmert.“
„Aber die können seit meinem gestrigen Gießen doch unmöglich schon ausgetrocknet sein.“
Ihr ganzes elbisches Tun schüchterte mich ein. Um die Wahrheit zu sagen, begriff ich von all dem eine große Null. Vielleicht der springende Punkt zwischen uns. „Allerhöchste Zeit für Elbenunterricht“, mahnte mein Gewissen. „Bitte, Elin, erzähle mir von dir und den Elben.“
Na also, der Anfang war geschafft.
„Weißt du, warum deine Kleidung in weiß und blau gehalten ist?“
Wie freundlich von ihr, sie erinnerte mich an eine weitere ungeklärte Frage. „Da müsste ich raten“, gab ich zu. „Vielleicht weiß für die Reinheit und blau, hmmh, blau für den Himmel. Nein, weiß für das Licht.“
„Beides, Reinheit und Licht, und richtig, Blau steht für das Firmament“, bestätigte sie.
„Aber was spricht gegen die anderen Farben?“, begehrte ich zu wissen.
„Überleg selbst“, forderte Elin mich auf.
„Okay, schwarz ist finster und deshalb gestrichen, rot gilt als aggressiv, braun finde ich schrecklich. Was ist mit grün?“
„Ganz einfach, es passt nicht zu deinen Augen“, schmunzelte die Elbe.
Langsam entspannte ich mich, zudem bereitete mir unser Kopfgespräch kaum mehr Mühe.
„Aber im Ernst“, fügte sie an, „sollen die gewählten Farben dein Schicksal symbolisieren. Du stammst von uns ab, dein Weg wird für sämtliche Elben von größter Bedeutung sein.“
Instinktiv wusste ich, zu diesem Punkt würde sie keine Fragen zulassen. „Der Fragenberg wächst grundsätzlich schneller als das Häuflein magerer Antworten“, stellte ich zum x-ten Mal frustriert fest.
„Geduld, Lilia. Immer nur so viel, wie es deinen Fortschritten entspricht.“
„Bin ich dermaßen langsam?“ Schnelligkeit gehörte eben nie zu meinen herausragenden Eigenschaften.
„Keineswegs, wenn du deine eigenen Stolpersteine aus dem Weg räumst, lernst du hervorragend.“
Nebenbei „organisierte“ Elin frischen Tee. Ein guter Übergang für die nächste offene Frage, bei der ich mir allerdings reichlich albern vorkam. „Tust du etwas Ähnliches wie Magie, so wie Zauberei im Märchen?“
„Daran ist gar nichts Geheimnisvolles, du siehst lediglich die gebündelte Macht des Lichts.“
Ihre Antwort klang so lapidar, als hätte ich nach ihrem neuen Strickmuster gefragt.
„Heißt das, ich kann auch … wie nennst du es?“
„Dafür existiert keine Entsprechung in eurer Sprache. Doch die Menschen nannten unsere Fähigkeiten vor ewigen Zeiten tatsächlich Magie oder Zauber.“
Das fand ich irgendwie enttäuschend.
„Möchtest du es lernen?“
Die Frage kam absolut unerwartet.
„Ja, bitte!“ Vor Begeisterung wusste ich kaum wohin mit mir.
Zum ersten Mal lachte Elin.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Höchst konzentriert versuchte ich, mittels Geisteskraft einfache Dinge zu bewegen. Nachdem mein Frühstücksteller in Trümmern auf den Fliesen lag, was ich als tollen Erfolg bejubelte, stieg ich auf den Scheuerschwamm, die Spülbürste und andere unkaputtbare Utensilien um. Elin amüsierte sich königlich, was ich beinahe noch schöner fand als die mäßig erfolgreichen Flugversuche.
„Himmel, wie anstrengend!“ Der Schweiß rann mir aus sämtlichen Poren. Erst als mein Magen so laut knurrte, dass stures Ignorieren zwecklos wurde, beendeten wir unser Treiben.
„Bedenke bitte, du darfst Magie niemals in der Gegenwart von Menschen nutzen.“
„Dazu müsste ich sie erst einmal beherrschen“, lachte ich. „Aber du hast vollkommen Recht, das wäre ein echter Schocker.“ Dabei flitzte eine Szene mit fliegenden Gegenständen durch meinen Kopf und ich gluckste. Verlockend war die Vorstellung wirklich, im Supermarkt per Handschlenker binnen Minutenfrist die lästigen Einkäufe zu erledigen.
Elin schlenkerte einen Teller mit dick belegten Sandwiches und ein großes Glas kalte Milch auf den Küchentisch.
„Nanu?“
„Probieren bitte, und schön aufessen. Du isst viel zu wenig.“
Erst zögerlich ein Eckchen von der ungewohnten Kost knabbernd, biss ich schnell herzhaft hinein. „Sind die Sandwiches lecker!“
Zufrieden verschwand sie.
„Verflixt, ich wollte sie doch nach meinen Pflanzen fragen.“
Ganz schwach vernahm ich aus der Ferne ihre Antwort: „Ich habe mich nur ein wenig mit ihnen unterhalten.“
Beinahe hätte ich mich verschluckt.
Gerade als mein Entschluss feststand, den Nachmittag zum Zwecke der Gefühlskunde in der City zu verbringen, läutete es an der Haustür. Ohne Nachdenken riss ich die Tür auf, nur um in das fiese Gesicht meines Nachbarn aus dem Haupthaus zu blicken. „Wozu“, schalt ich mich, „hast du eine Überwachungskamera?“
„Hallo, Frau Nachbarin, wie ich sehe, ist Ihr Umzug bereits überstanden.“
Ich bat ihn nicht herein. „Ja, Schnee von gestern“, entgegnete ich kurz angebunden.
„Dann darf ich Sie hoffentlich am nächsten Samstag auf meiner Party begrüßen? Es werden selbstverständlich eine Menge interessanter Leute da sein.“
Keine Ahnung, was mich ritt, oder ob ich ihn einfach schnellst möglich loswerden wollte, jedenfalls kündigte ich mein Erscheinen an.
„Das Buffet wird um Punkt 21 Uhr eröffnet.“ Damit trollte er sich.
„Wieso nehmen immer alle das Essen so wichtig? Wenn ich Hunger bekomme, esse ich oder auch nicht, basta. Punkt 21 Uhr. Seit wann hat mein Magen eine Zeitschaltuhr?“, schimpfte ich vor mich hin.
Aus dem Buch „Inghean“
Der schwarze Fürst muss seine versammelten Sklavenhorden offensichtlich bei Laune halten. Die Jagd auf mich ist eröffnet.