Читать книгу Fürstin des Lichts - Daniela Zörner - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеElin leistete mir Gesellschaft, indem sie zum Frühstück ein Lied über das Lichtschwert Hormin sang. Es diente allein der Elbenfürstin, führte sicher ihre Hand, bewachte seine Herrin auf Leben und Tod. Viele Jahrhunderte lang währte der letzte Kampf zwischen ihr und dem Erdfürsten der Dämonen. Als er den grausamen Sieg errang, verschwand Hormin mitsamt Joerdis.
Unverzüglich vergaß ich die angeknabberte Brotscheibe, war völlig in ihrer Geschichte gefangen. Der Dämonfürst schien seit meinem ersten „Buchtag“ wie eine Klette an meinen Eingeweiden zu haften. „Was will er? Oder ist die Frage schon falsch?“ Logisch betrachtet, war es ein Unding, dass ausgerechnet ich gegen unterirdische Monster antrat. Und selbst Elin, eine echte Elbe, besaß keine ausreichende Stärke, es mit dem Fürsten aufzunehmen. „Wie löst man gleich noch den berühmten gordischen Knoten?“ Ich schluckte und antwortete mir selbst: „Mit dem Schwert!“
Die ganze Zeit über beobachtete Elin mich genauestens. Trotz meines rechtzeitig verschlossenen Geistes musste meine Mimik wohl Bände gesprochen haben.
„Mit ungelegten Eiern lässt sich nicht jonglieren“, suchte sie mich abzulenken.
„Wo hast du denn den Spruch aufgegabelt?“
Sie lächelte kurz, kam aber direkt auf Ernsteres zu sprechen. „Nachdem wir ausgiebigen Urlaub genossen haben, werden wir heute mit deinem Unterricht beginnen.“
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Elins eigener Urlaub umfasste zwei und meiner drei Tage.
„Bevor wir für die Übungen in den Park gehen, lehre ich dich zunächst Blickschutz.“
Mein Kopf produzierte ein Fragezeichen.
„Ganz einfach, sähe dich ein Mensch auf dem Rasen wild herumfuchteln, dann kämst du in ziemliche Erklärungsnot.“
Einleuchtend. „Und wie stelle ich das an?“
„Erst aufessen!“
Ein „Ja, Mutti“ lag mir auf der Zunge.
Natürlich hielt die Elbe es für überflüssig zu erwähnen, dass das Gelingen solch magischen Kunststücks bei einer Halbelbe keineswegs ausgemacht war.
Zehn Minuten später standen wir in der Eingangshalle. Dort verschwand die Elbe vor meinen Augen und wurde beinahe im selben Atemzug wieder sichtbar. Sie befahl: „Hülle dich in einen unsichtbaren Kapuzenumhang.“
„Meinst du so einen Tarnumhang wie bei Harry Potter?“
„Bitte?“
„Du sagtest, ich soll …“
„Ich weiß, was ich sagte.“
„Und woher nehme ich das Teil?“
Elin stemmte ihre Hände in die Hüften und sagte betont langsam für extra Doofe: „Aus deinem Querschädel.“
„Ah – ja.“ Damit verbunden vermittelte ich der Elbe einen Wasserfall an Fragezeichen.
Erst riss ihr Blick meinen Kopf ab, dann besann Elin sich. „Für die Menschin nochmal von vorne: Du stellst dir in deinem Geist einen unsichtbaren Umhang vor. Den hängst du dir um. Klar?“
„Äh, versuchsweise. O – kay…“
Es funktionierte! Was Elin richtig schön überrumpelte. Ich gebe zu, die reine Wahrheit war: Gesicht und Hände hingen ohne Körper in der Luft.
Die Elbe zog mich vor den großen Flurspiegel.
„Nun verhülle den Rest.“
Aber ich schüttelte mich bei diesem durchgeknallten Anblick dermaßen vor Lachen, bis mir der Bauch wehtat. Minutenlang ging nichts mehr.
„Albern wie ein Teenager!“, schimpfte Elin.
Dieselbe Botschaft sandte mir meine Gefühlszentrale bereits seit Tagen. Das Elbenkind mauserte sich klammheimlich und in atemraubender Geschwindigkeit zum Teenager. „Hihi!“
Kurz darauf betraten wir beide wie unsichtbare Geister die ausgedehnte Rasenfläche des Parks.
„Na, dann wollen wir gleich mal sehen, ob deine Kampfmagie ebenso stark ist“, forderte die Elbe mich heraus.
„Ach, ich hab ja noch mein Kleid an.“
„Umso besser“, meinte sie.
„Merkwürdig, dass ich zunehmend nach Kleidern, vorzugsweise in Weiß, greife statt nach bequemen Jeans.“
„Lilia, bitte konzentriere dich“, mahnte Elin. „Du hast große Mengen an Licht in dir gespeichert. Jetzt geht es darum, sie wieder hinaus zu lassen. Schließ deine Augen und erspüre die Energie in dir.“
Die Aufgabe dauerte einen Hauch länger. Als ich es geschafft hatte, begann ich vergnügt, ein bisschen mit dem Licht in meinem Innern zu spielen.
Irgendwann hörte ich ein verständnisloses: „Was brauchst du denn so lange dafür?“
An Stelle einer Antwort formte ich eine kleine Lichtkugel und befahl sie in meine rechte Hand. Dann warf ich die Kugel zu Elin hinüber. Könnten Elben in Ohnmacht fallen, sie hätte es getan. Garantiert!
Elin stöhnte nur noch: „Überspringen wir also die Lektionen 1 bis 4. Wozu habe ich überhaupt einen Lehrplan ausgebrütet?“
„Tja“, erwiderte ich schelmisch, „ich werde elbisch und du menschelst.“
Wir lachten uns kringelig.
Den restlichen Vormittag formte ich mit dem absoluten Maximum meiner Konzentrationsfähigkeit abwechselnd Bälle, Kreise, Seile oder Säulen aus gleißendem Licht. Im zweiten Schritt lernte ich, den Lichtkörpern einfache Befehle zu erteilen. Im Grunde genommen agierte ich wie ein Jongleur, bloß ohne Muskelkraft. Eine wahrhaft anstrengende Arbeit.
„Schluss für heute!“
Mehr als einverstanden ging ich mit Elin ins Haus. Irgendwie fühlte ich mich leer, selbst noch nach Sandwiches mit Milch.
„Ab in die Kirche!“, kommandierte die Elbe.
Hungrig nahm ich in Santa Christiana neues Licht in mir auf. „Hungrig?“ Zwar hatte ich es gegenüber Raimund kürzlich erwähnt, doch zum ersten Mal empfand ich das Licht tatsächlich als Nahrungsquelle. Raimund. Manchmal schaute er mir eine Zeit lang in der Kirche zu. Seine Sehnsucht, sein Verlangen galt den Lichtwesen. Ein einziges Mal diese Wesen hören, das war sein unerfüllbarer Traum. Denn hier fand Magie ihre Grenze. Oder fand vielmehr das Wollen der sphärischen Geschöpfe sein hartnäckiges Ende?
Die Sternelben zeigten sich erfreut über meine magischen Fortschritte. Diesmal sangen sie eine Geschichte über die Elbenfürstin. Ihr Mut, ihre Anmut, ihre klare Seele und ihre starke Hand kamen darin vor. Ach, im Vergleich zu Joerdis fühlte ich mich wie ein Wicht.
„Warum nennt ihr und Elin niemals den Namen der Fürstin?“, wollte ich spontan wissen.
„Ehre und Achtung verbieten es“, behaupteten sie.
Ich stutzte. „Warum trage ich dann ihren Namen?“
„Das haben nicht wir entschieden!“
Ende der Durchsage. Ich fühlte mich wie eine abgekanzelte Erstklässlerin. „Schluss mit lustig“, ätzte mein Alter Ego. Womit es leider vorausschauend recht behielt.
Nach der unerquicklichen Zusammenkunft schickten mich die Sängerinnen auf den nahe gelegenen Marktplatz. Als Folge der Magie drückte ich mich vor lästigen Einkäufen jeder Art. Die Kehrseite: Meine Mitmenschen bekam ich so gut wie nie zu Gesicht. Damit verstieß ich gegen den ersten Auftrag der Lichtwesen, zuvorderst die Seelen meiner Mitmenschen hören zu lernen.
Wenige Kunden besuchten am späten Nachmittag die Marktstände. Daher fiel mir die gebrechliche, alte, ärmlich gekleidete Frau sofort auf. Sie schleifte einen Shopper hinter sich her, der kurz vor dem Zerfallsdatum stand. Ihr Geist war überfüllt von seelischer Müdigkeit, Schmerz und Sorgen.
„Eine kleine Steckrübe, bitte.“
„Heute ist Broccoli im Angebot“, empfahl die Marktfrau freundlich.
„Nein, nein, den kann ich mir nicht leisten.“
Es tat mir in der Seele weh, ihr gutes Herz unter der Last des Leids verschüttet zu sehen. Kurz entschlossen trat ich hinzu und sprach sie an. „Heute ist mein Engeltag. Sie dürfen sich aussuchen, was immer sie mögen, und ich bezahle.“
Sogleich blickte sie mich mit tiefem Vertrauen an. Trotzdem musste ich bei Apfelsinen und Frühkartoffeln gut zureden. Nach beglichener Rechnung nahm ich die alte Frau sacht am Ellenbogen und dirigierte sie nacheinander zum Bäckerwagen und zum Metzger. Mein letztes Bargeld tauschte ich gegen Honig ein.
Ordentlich schleppend, geleitete ich sie bis vor ihre schäbige Haustür und entschwand glücklichen Herzens, bevor die Frau auch nur Luft holen konnte.
Auf dem Heimweg befragte ich die Sternelben nach ihrem schweren Schicksal. Ich wollte mehr tun. Sie aber sagten Ja und Nein dazu.
Du wirst allerorts zu viele solcher Menschen finden, wenn du sehen willst, zu viele um allen Bedürftigen helfen können. Erst wenn das Böse in seine Schranken verwiesen wird, kommt eine bessere Zeit für solch geschundene Seelen.
Resigniert gab ich mich geschlagen.
Aber der alten Frau würde ich helfen, beschloss ich dickköpfig. Nicht mit Geld, denn das nähme ihr Kalle, der verwahrloste Sohn, gleich weg. So hatte sie es mir auf dem Heimweg gestanden. Doch mit Sachspenden, wie man so schön sagt, und zwar mit allem, was sie dringend benötigte. „Warum fühlt sich das jetzt falsch an?“ Wie bei einer geschüttelten Limodose kam die Erkenntnis in einem Schwall durch meine Gehirnwindungen geschossen. Jetzt kapierte ich den Sinn: „Um den Guten zu helfen, gehört das Böse in seine Schranken. Also der Sohn der alten Frau!“
„Richtig durchschaut, Lilia.“
„Erzählt mir bitte von ihm und ebenso, wo ich ihn finden werde.“
Kalle hauste in einer Ein-Zimmer-Sozialwohnung, mit Matratze auf dem Boden, reichlich leeren Flaschen, umgekipptem Aschenbecher und sonstigem Müll drum herum. Ein Klischee zum Durchwaten – und Riechen. Magisch eingebrochen, stellte ich einen nagelneuen Koffer neben den wackligen Tisch, setzte mich vorsichtig auf den einzigen Stuhl und erwartete seine Ankunft. Von den Sternelben wusste ich, ihn interessierte nur eins im Leben: Geld.
Bald schwang die Wohnungstür auf.
„Hallo, Kalle.“
„Was suchst’n du in meiner Hütte, Schnalle?“
Na, wenigstens noch nüchtern. „Ich hörte, du bist an Geld interessiert.“
„Wenn ich deinen Alten umnieten soll, biste hier falsch.“
„Mein Job für dich lautet: Verschwinde aus der Stadt, und zwar endgültig.“
„Pah, ich hab nich mal Geld für’n Öffi-Fahrschein.“
„Kalle, mach den Koffer auf.“
Misstrauisch beäugte er ihn. „Bin doch nich blöd, nachher is da ‘ne scheiß Giftschlange oder ‘ne Bombe drin, wat weiß icke. Du machst auf.“
Also kniete ich mich vor den Koffer, ließ die Schlösser aufspringen und klappte die Hälften auseinander. Zum Vorschein kamen saubere Kleidung, Kulturbeutel, Schuhe, ein Reisepass und eine Plastiktüte.
„Was’n in der Tüte?“ Den Rest ignorierte Kalle.
„Eine halbe Million Euro“, antwortete ich, während die offene Tüte unter seine Boxernase wanderte.
„Du willst mich verarschen, Alte.“ Doch sein Kennerblick sprach eine andere Sprache.
„Du hörst mir jetzt ganz genau zu. In fünf Stunden geht dein Flugzeug nach Kanada. Du rührst bis dahin keinen Alkohol an, machst keinen Abschiedsbesuch bei deiner Mutter oder sonst jemandem.“ Aus meiner Handtasche zog ich den Umschlag mit seinem Flugticket, selbstredend One way. Eindringlich blickte ich ihm in die Augen.
Instinktiv wich er zurück.
„Dies ist die einzige Chance deines Lebens, verwirk sie, und du bist so gut wie tot.“
Die folgenden Wochen vergingen rasant und der Sommer rückte näher. Täglich unterrichtete Elin unermüdlich den Gebrauch von Energie, das Wirken einer Lichtbarriere als Selbstschutz oder die Geschmeidigkeit meines Körpers. Auf Deutsch: Lichtzirkus, Ganzkörperkondom und Schlangenmensch.
Anfangs stand ich mir selbst permanent im Weg, weil mein menschlicher Kopf immer wieder Anläufe für das Oberkommando nahm.
„Lass die Elbe ran“, rief Elin unentwegt, wenn mein Verstand eine Übung vermurkste.
Von ihren intergalaktischen Fähigkeiten schien ich noch Lichtjahre entfernt. Ja, zugegeben, auch weil ich in dem Training reine Spielerei sah. Die Dämonenfurcht war allmählich tief im Hinterkopf eingeschlafen. Natürlich bemerkte die Sphäre das und begann, Wissen tröpfelnd Abhilfe zu schaffen.
Fast täglich stand am späten Nachmittag der Kirchenbesuch auf dem Programm. Ich lud Licht und lernte emsig, es nicht in den Kopf steigen zu lassen. Von wiederholt durchlittenen Kopfschmerzen wegen Übertankens hatte ich die Nase gestrichen voll. Die Sternelben hingegen brachten mir die Welt der Finsternis behutsam näher. Besser gesagt das Wenige, was sie darüber wussten. Da kein Licht in die tiefe Schwärze der dämonischen Unterwelt vordringen konnte oder wollte, blieb das höllische Treiben fast komplett ihr Geheimnis.
Dämonen, so fügte ich es mir wie ein Puzzle zusammen, stellten die Umkehrung der Elben dar: schwarz, massig, böse, feindlich, hinterlistig, Qual und Tod befeuernd. Indem sie Detail um Detail für mich Gestalt annahmen, verloren die Gruftlinge den wilden Schrecken des Unbekannten – und mutierten zu fantastischen Sagengestalten. Auch wieder falsch.
Zudem fühlte ich mich wie eine lediglich halb geschlüpfte Schmetterlingslarve im Frühling. Das Elbenerbe und die Menschfrau in einem Körper, dieser Konflikt schien unlösbar. Verstand oder elbische Intuition, Muskelkraft oder Magie, Weisheit des Lichts oder menschliche Lebenserfahrung? Oh ja, ich war die meiste Zeit schwer mit mir selbst beschäftigt. Wie das bei Teenagern halt so ist.
Aus dem Buch „Inghean“
Meine Sternschwestern verweigern dem Menschenkind noch immer die Wahrheit. Auch die Fürstin schweigt. Worauf warten sie?
Das längere Tageslicht nutzte ich inzwischen freiwillig, um von Santa Christiana aus Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen. Etwas Unheimliches ging spürbar vor sich. Wann immer ich es zuließ, floss mir weit mehr Schlechtes und Trauriges als Gutes aus den menschlichen Seelen entgegen. „Berliner in kollektiver Depression oder was?“
Katja bekam ich kaum noch zu Gesicht. Die Polizei soff regelrecht in den sprunghaft zunehmenden Gewaltexzessen unter den Einwohnern ab. Selbst Mord und Raub verpesteten ganze Stadtteile. Die Menschen begriffen nicht, wie ihnen geschah. Und ich? Weigerte mich stur zu begreifen, was ich längst wusste.
Nacht um Nacht saß ich für die Mordkommission am PC. Obwohl jeder Bericht des Grauens dank magischer Kraft immer kürzere Zeit beanspruchte, war mir selbst das zuwider. Schlaf geriet zum verzichtbaren Luxus. Sogar Elin hatte anderes als ständige Ermahnungen zum Essen im Kopf. Unterschwellig wuchs unsere Anspannung wie ein Krebsgeschwür, auch unter den Lichtwesen.
Oft sah ich die Elbe einer Statue gleich auf dem Rasen in der Sonne stehen. Ihre Unruhe umwaberte sie wie ein grauer Gazeschleier.
Eher nebenbei erfuhr ich dann auch mal vom sphärischen Gesangsverein, wer hinter all dem Übel steckte. Der Dämonfürst hatte einen magischen Weg gefunden, das Schicksal auszuhebeln. Seine Sklaven manipulierten Menschen für ihre rabenschwarzen Zwecke.
Die Information landete in einer jener Schubladen meines Gehirns, die extra für unverdauliche Härtefälle angelegt waren.
Kein Wunder, dass die menschliche Normalität bei Jay und Schorsch im Vorderhaus auf mich wie ein Magnet wirkte. Manchmal verordnete ich mir eine Normalopause und zauberte den Jungs drüben vor ihrer Heimkehr ein Abendessen. Zur Belohnung lud ich mich selbst zum Essen ein.
Schorsch arbeitete für einen Chemiekonzern. Sein Charakter orientierte sich am Fels der harten Fakten. Er war ehrlich, etwas reserviert und auf das geradlinige Erreichen jedes gesteckten Ziels ausgerichtet. Jay besaß seit knapp zwei Monaten eine eigene Arztpraxis. Als Kinderarzt kam ihm seine eigene geistige Verspieltheit bei den kleinen Patienten gut zupass. Er war ein Träumer, dem Kunst, klassische Musik oder ein funkelnder Sternenhimmel eben solche Freude bereiteten wie mir.
Irgendwie kamen wir an jenem lauen Sommerabend, während wir relaxed in den Korbsesseln auf ihrer Terrasse lümmelten, auf Opern zu sprechen.
Schorsch rollte theatralisch mit den Augen.
„Warst du überhaupt mal selbst in einer Aufführung?“, fragte ich sofort.
„Klar, auf dem Gymnasium. Unser Musiklehrer hat uns in die ‚Zauberflöte‘ gezerrt.“
Jay und ich stöhnten im Duett auf: „Die würde ich mir niemals antun.“
Schnell überlegte ich mir ein Lockangebot: „In der kommenden Opernsaison suchen wir eine Aufführung für dich aus und du gehst mal auf Probe mit.“
Schorsch setzte zum Wolfsgeheul an.
„Stopp, warte.“ Mir fiel gerade noch rechtzeitig ein unwiderstehlicher Köder ein. „War die Oper ehrlich Schrecken ohne Ende für dich, darfst du uns zur Revanche in einen Klub deiner Wahl schleppen.“
Jetzt greinte Jay, aber Schorsch grinste breit und triumphierte schon: „Ihr werdet es nicht bereuen!“
Eines harmlosen Nachmittags überraschten mich die Sternelben mit ihrer Bitte, abermals einen neuen Pfad zu beschreiten. „Lilia, rede mit Katja. Deine Unterstützung für das Kommissariat greift bei weitem zu kurz. Nur wenn du an ihrer Seite wirkst, können die Gräueltaten der Dämonen zurückgedrängt werden.“
„Aber wie soll das funktionieren, ohne dass andere Menschen aufmerksam werden?“ Da plärrte mein Alter Ego dazwischen: „Wie lange willst du dich noch feige an deinem Schreibtisch verstecken?“
Sie sangen gnädig über das kleine Intermezzo hinweg „Du wirst einen Weg finden, Elbentochter.“
Ich erkannte ihren Plan als das, was er war: ein Akt schierer Verzweiflung. Wir alle standen hilflos einem heraufziehenden Orkan gegenüber – und warteten. „Worauf? Können oder wollen sie es nicht sagen?“
Selbstverständlich wussten die Sternelben damals um jene besondere, die Zukunft bestimmende Prophezeiung. Und um die daran geknüpfte Frage: Würde das Schicksal sie bewahren oder durchtrennen?
Ach ja, und außerdem hatten mich die Lichtwesen zum ersten Mal als ‚Elbentochter‘ angesungen. „Wieso das?“ Die Frage ging in dieser aufgewühlten Gemengelage völlig baden. Blöder Fehler!
Grimmig entschlossen versuchte ich den Balanceakt über das Hochseil zu Katja und ihrer Mannschaft.
Als mein Plan stand, überredete ich die Kommissarin zu einem freien Tag. „Gib dir einen Ruck, du drehst sonst komplett durch. Außerdem habe ich äußerst Wichtiges mit dir zu besprechen“, drängte ich am Telefon.
„Schon gut, ich kapituliere, also Samstag.“
Ein grandioser Brunch erwartete Katja auf der von Duftrosen gesäumten Terrasse.
„Ah, paradiesisch. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast?“ Dabei blickte sie in meine sorgengewölkten Augen. „Entschuldige, Lil, tut mir leid!“
Mit gespieltem Poltern forderte ich: „Können wir jetzt endlich frühstücken? Die Kalorien müssen schließlich für den Rest der Woche reichen.“
Unsere Sektgläser klirrten aneinander.
„Ein Hoch auf den freien Samstag!“ So sehr freute ich mich über ihre Gesellschaft, dass meine Fröhlichkeit sie ansteckte.
Nach den verspeisten Croissants platzte Katja mit der mir bereits bekannten und eingeplanten Neuigkeit ihrer Beförderung heraus. „Ich kriege das große Büro von Konny mit richtig viel Sonne. Außerdem einen ordentlichen Gehaltssprung, da weiß ich wenigstens, wofür ich mich totschufte.“
Ich gluckste über den Part, den sie verschwieg.
„Warum giggerst du so frech?“
„Och, ich dachte da gerade an eine bestimmte männliche Person, unverheiratet, die jetzt nicht mehr dein Vorgesetzter ist.“
Katjas Gesicht nahm die Farbe einer reifen Kirsche an. „Woher weißt du das denn schon wieder? Na, ist auch egal, stimmt ja.“ Sie strahlte bis über die Ohren.
„Ähm, Katja, wenn wir nachher kein Krümelchen mehr in unsere strammen Bäuche quetschen können, dann sollten wir zur Verdauung shoppen gehen.“
„Wieso? Nö, lieber hier abhängen, ist doch samstags total überlaufen in der City. Das mach mal alleine, dann lege ich mich solange auf eure Riesenwiese in die Sonne.“
„Ups, der Plan gehört in die Tonne.“ Die Alternative … „Okay, dann veranstalten wir eine Modenschau im Kleiderschrank.“
Katja hielt sich den Bauch vor Lachen und japste: „Als Stilberaterin tauge ich ebenso viel wie Torwarthände für Ikebana.“
Ich grinste breit.
„Sag, was hast du vor?“, fragte sie gespielt drohend.
„Deinem Traumprinzen Konny ein bisschen den Kopf verdrehen?!“
Als attraktive Frau, die jedoch stoisch durch Grips statt stylische Klamotten glänzte, machte Katja es der Männerwelt ziemlich schwer. Ihr Noch-Chef war da leider keine Ausnahme.
Nachdem ein gutes Dutzend kompletter Garnituren mitsamt Schuhen und Taschen für jede nur erdenkliche Gelegenheit in Katjas Wohnung beordert war, sanken wir erschöpft in die beiden Strandkörbe vor der Terrasse. Katja liebte solche Magie inzwischen wie kleine Kinder das weiße Kaninchen aus dem Zaubererhut.
Nun verkündete sie strahlend: „Wirklich, Lilia, entweder du hast zu viel Geld oder ein zu großes Herz!“
Mein Gesicht machte auf Unschuldslamm.
„Okay, beides. Aber ganz ohne Revanche kommst du mir nicht davon. Mir wird schon etwas einfallen, verlass dich drauf.“
Wir näherten uns dem Brennpunkt des Tages.
„Tja, ich wüsste da eine Sache.“
„Was hast du noch ausgebrütet?“
Ein wenig spannte ich sie auf die Folter, bis Katja mit den Augen rollte.
„Aber sei vorgewarnt, jetzt kommt ein ziemlich dicker Hammer.“
„Mensch Mädel, mach hinne, bei mir kribbelt schon alles.“
Mein Plan verrunzelte ihre Stirn. „Also, wenn ich das richtig verstanden habe, soll ich dich quasi als so eine Art Medium in meine Mannschaft einschleusen. Und damit die Jungs und Mädels halbwegs auf dem Teppich bleiben, wahrheitsgemäß erklären, dass die Infos der letzten Monate von dir stammten?“
„Mir ist vollkommen klar, dass einige im Team zunächst Hirnverstopfung bekommen werden. Da müssen sie durch. Wir haben keine andere Wahl, Katja.“
Eindringlich blickte ich in ihre Augen, woraufhin sie sich schüttelte. „Du machst mir eine Gänsehaut. Aber mich belastet schon länger das unheimliche Gefühl, ein kleines Rädchen in einer verflucht miesen Sache zu sein.“
Die grundlosen Gewaltexzesse mit nie erlebter, unmenschlicher Brutalität und die Steilkurve an Morden wie Selbstmorden entzogen sich jeglicher Erklärungsversuche versierter Kriminologen.
Weil es keinen Sinn machte, unser Projekt auf die lange Bank zu schieben, legten wir den Termin für unsere Nagelprobe kurzfristig fest. Bereits am Montag würde ich um 9 Uhr zur Teambesprechung im Präsidium erscheinen. Spontaner Lästerkommentar meines Alter Ego: „Die Barbiepuppe als kriminelles Medium, hahaha!“ Ziemlich präzise den Kopf des heiklen Nagels getroffen.
Der schlichte, dunkelblaue Hosenanzug und die im Nacken geknoteten Haare sollten mich weniger jugendlich wirken lassen. Mit innerer Gelassenheit, hervorgerufen durch sternelbische Gesänge, steuerte ich den Wagen an die Pförtnerloge. Der nette Endfünfziger reichte mir einen von Katja hinterlegten Besucherausweis. Viertel vor 9 Uhr betrat ich den sterilen dreistöckigen Zweckbau aus Beton und stupiden Fensterreihen. Begleitet von neugierigen Augen ging es die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Niemand von ihnen ahnte, dass die Fäden unzähliger Schicksale an mir klebten. Dieser Tag markierte für mich den eigentlichen Beginn der dunklen Zeit.
Katjas Bürotür stand offen, ihre Nervosität füllte den kompletten Raum aus.
„Hey, sei du selbst, offen und ehrlich, den Rest übernehme ich.“
Sie versuchte ein zittriges Lächeln und stöhnte: „Puh, du hast gut reden. Meine Leute sind quasi am Boden der Tatsachen festgenagelt.“
Ich wusste allzu gut, was sie meinte. Das sphärische Briefing über Katjas Mannschaft am gestrigen Abend war endlos detailliert ausgefallen. „Bringen wir, was auch immer, hinter uns.“
Gemeinsam betraten wir den öden Konferenzraum, in dem das Stimmengewirr von vier Männern und zwei Frauen kreiste. Zunächst schenkten sie uns keine Beachtung.
„John fehlt mal wieder, ich hole ihn schnell“, erklärte Katja und flitzte hinaus.
Eine gute Gelegenheit für mich, kurz das Innenleben jedes Einzelnen anzuzapfen. Bürgerliche Durchschnittsgefühle mit ausnahmslos erhöhter Toleranz gegenüber Gewalteindrücken. Anders ließ sich in diesem Beruf kaum Jahre oder Jahrzehnte überleben. Dennoch rotierte meine Warnblinkanlage: Jeder von ihnen balancierte gefährlich nah am Limit entlang. Das Team stand kurz vor dem Kollaps. In wenigen Sekunden überdachte ich meine Aufgabe. Nicht die Verbrecherjagd, sondern ein Minimum an Ruhe und Entspannung gehörte an die erste Stelle. Diese rein theoretische Überlegung würde schneller in der Tonne landen als jede gut gezielte Papierkugel.
Katja setzte sich an den Kopf der doppelreihigen Tischanordnung. „Okay, Leute. Ich hoffe mal, zumindest einige von euch hatten ein erholsames Wochenende.“
Weder hörten die Kommissare richtig zu noch schauten sie zu ihr hin. „Wir haben ein neues Mitglied im Team“, deutete sie überflüssigerweise auf mich, „das ist Lilia van Luzien“.
Sofort hatten wir die ungeteilte Aufmerksamkeit der notorisch unterbesetzten Truppe.
„Ihr alle kennt ihre Arbeiten.“
Perplexe Gesichter.
„Lilia ist die anonyme Quelle.“
Ungläubiges Gaffen.
Schnell gab ich Katja ein Zeichen und ergriff mit fester Stimme das Wort. „Der einzige Grund, warum ich selbst hierher gekommen bin, ist die ausufernde Gewalt in unserer Stadt. Ich biete euch meine Hilfe an.“
Vereinzeltes Klopfen und eine Frage von links. „Sind Sie sowas wie eine Hellseherin oder woher beziehen Sie die ganzen Informationen?“
Kollektives Murmeln.
Ganz bewusst ignorierte ich das distanzierte „Sie“. „Nennt es so, wie ihr am leichtesten damit klarkommt. Wer oder was ich bin, ist letztlich völlig egal. Hauptsache, wir bekommen diesen Irrsinn in den Griff.“
Laute Kommentare und eine Frage meines Gegenübers. „Können Sie uns mal eine Kostprobe geben?“
Vereinzeltes Gelächter.
„Oh, Vorsicht junger Mann. Willst du wirklich, dass deine Kollegen erfahren, was du gestern um diese Uhrzeit gemacht hast?“
Er bekam einen roten Kopf. Großes Gelächter.
„Aber im Ernst“, nahm ich den Faden wieder auf. „jeder von euch arbeitet seit vielen Wochen hart an der Grenze des Menschenmöglichen. Wollt ihr mir eine Chance geben?“
Jeden Einzelnen schaute ich offen und direkt an. Ihre Gesichter stellten das komplette Spektrum von Offenheit bis absoluter Ablehnung dar.
Katjas Instinkt ließ sie zur Tagesordnung übergehen. „Okay, teilen wir die Arbeit für den heutigen Tag ein …“
Die Sternelben meldeten sich. „Lilia, um halb Sechs findet ein Banküberfall statt.“
Während ich die Details aufnahm, kam Katja zum Schluss. „Noch Fragen?“
„Was macht denn unsere neue Kollegin?“
Alle Augen richteten sich auf mich. „Ich versorge euch mit fehlenden Informationen. Eines müsst ihr euch unbedingt einprägen: Überfälle, Morde oder Entführungen werden vorher geplant. Aber ihr wisst, es gibt auch Ausnahmen, nämlich Akte spontaner Gewalt. Sie sind niemals vorhersehbar!“ Kurze Verdauungspause. „Außerdem werde ich heute Nachmittag ein Team, das Katja gleich benennen wird, zu dem Banküberfall auf der Schlierallee begleiten.“
Eine Tasse fiel um, ein Stuhl schrammte, die Stimmung drohte ins Chaos zu kippen.
Energisch erhob die junge Kommissarin rechts neben mir ihre Stimme: „Du hast uns allen in den letzten Monaten immer wieder den Arsch gerettet – und wir haben auch noch die Lorbeeren kassiert. Mir ist völlig egal, wie du das anstellst.“ Sie warf einen festen Blick in die Runde. „Also, willkommen im Team.“
Am liebsten hätte ich sie umarmt!
Es erwies sich als Segen, wie viel Übung das Team dank meiner täglich übermittelten „Vorschauberichte“ darin besaß, auf dem gleichen Wissensstand wie die Täter zu sein. Den richtigen Moment für einen einbuchtungssicheren Zugriff zu erwischen, war wahrhaftig ein Kunststück. Effektiv und schnell stand der Einsatzplan für den Banküberfall. Wir würden den Schurken erwarten.
Katja verpasste mir vor unserem Aufbruch eine kugelsichere Weste. „Keine Widerrede!“
Meine eindringliche Mahnung über spontane Gewaltanwendung versah der Bankräuber mit dem Echtheitszertifikat. Im Affekt, aussichtslos vom Team in der verschachtelten Filiale eingekesselt, richtete er seine Pistole auf Thomas. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze, ich dankte im Stillen dem elbischen Morgendrill, sprang ich im entscheidenden Sekundenbruchteil dazwischen. So bohrte sich die abgefeuerte Kugel nicht in die Stirn von Thomas, sondern in meine kugelsichere Weste. Ohne das klobig schwere Ding hätten die Schmerzen doch wohl kaum schlimmer ausfallen können.
Mit Atemnot und zusammen gekrümmtem Oberkörper schleppte ich mich nach Santa Christiana. Meine selbstmitleidig maulige Stimmung ignorierten die Lichtwesen, während sie mich kurierten. Anders mein Alter Ego: „Das schimpft sich Lebenserfahrung.“
„Mensch, Lil, du siehst ja fertig aus“, meinte Jay, der am Abend gleichzeitig mit mir vor dem Haupthaus eintraf, ernsthaft besorgt. „Komm, iss mit uns zu Abend, Schorsch müsste auch bald kommen.“
Wir gingen hinein. Jay drückte mir ein Glas Rotwein in die Hand und verordnete Faulenzen. Er selbst klapperte eifrig mit Küchenutensilien. Neuerdings war Kochen für ihn entspannende Leidenschaft, sofern er Zeit dafür fand. Hätte mir nie passieren können. Ich schlenderte zum Flügel, dem einzigen verbliebenen Interieur des Vorbesitzers. Witzig, da keiner von beiden darauf spielen konnte. Doch wer von uns verstand schon seine sämtlichen Bauchbeschlüsse?
Jay guckte aus der Küche. „Möchtest du erzählen?“
Er wusste nicht, dass die Frage korrekt lauten musste: Darfst du erzählen? Egal, der Tageskübel wollte geleert werden. Also berichtete ich, unter Aussparung gewisser Dinge, von meinem neuen Job und dem Banküberfall.
Ganz Arzt, schimpfte Jay: „Lil, eine kugelsichere Weste ist doch kein Ganzkörperpanzer! Das hätte verdammt schief gehen können.“
Tja, leider führten die Sternelben vor dem Überfall scheinbar stichhaltige Argumente gegen den Gebrauch meines Lichtschutzes an. So nach dem Motto: Die Kommissare halten dich glatt für eine unsterbliche Außerirdische. Und Plan B bestand halt aus der harten Tour mit Kugelweste, das Team für mich zu gewinnen. Zur Belohnung hatten am Ende des ersten Tages die vier an der Aktion beteiligten Kollegen hinter mir gestanden.
Jay riss mich aus den Gedanken. „Hey, weißt du überhaupt schon, dass Schorsch und ich übernächsten Samstag zehn Jahre zusammen sind? Wir schmeißen eine super Gartenparty.“
„Wow! Darf ich euch beim Organisieren helfen?“
„Na, du stellst Fragen.“
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Am Freitag überwältigte mich schließlich das elende Gefühl, die Hälfte meines Lebens in diesem trostlosen Konferenzraum mit seiner deprimierenden Aussicht auf eine sechsspurige Straße verbracht zu haben. Das einzig Ermutigende: Inzwischen scharten sich fünf Kollegen einigermaßen bereitwillig um mich. Einer der beiden Letzten, Kai, hielt mich steif und fest für eine Hochstaplerin. Etwas anderes war für das verödete Vorstellungsvermögen des 55-Jährigen undenkbar. Er tat mir leid.
„Dürfte ich zumindest Pflanzen für die Fensterbänke organisieren?“, bettelte ich in einer Pause bei den Sternelben. Am liebsten hätte ich meiner geschundenen Seele zuliebe Tabula rasa veranstaltet: sämtliche verschlissenen Furniermöbel ersetzen, Farbe an die schmutziggrauen Wände, Pflanzen dazu plus eine Anrichte mit Kaffeeautomat und Wasserkocher.
Die Sphäre riet ab. „Denk an die Menschen, Lilia.“
Ja eben, tat ich doch. Und ein klitzekleines bisschen an mich selbst. Ich vermisste Elin, seit vergangenem Sonntag hatte ich sie nicht gesprochen. Und ich vermisste die friedliche Stille von Santa Christiana.
Meinem triefenden Selbstmitleid setzten die Sternelben ein knalliges Ende: „Arbeit für dich.“
Ein Killer würde mittags auf dem Flughafen Schönefeld landen. Sein Auftrag: Den russischen Mafiaboss töten, um einen Krieg zwischen der russischen und italienischen Unterwelt anzuzetteln.
„Derart intriganten Verstand hätte ich den Dämonen nie zugetraut.“
„Den besitzen sie auch nicht. Die Mafia gebiert ihre Bosheit aus sich selbst.“
Kaum waren die Details in mein Workpad geflossen, marschierte ich zu Katja ins Büro.
Sie schaute, sich müde die Augen reibend, auf. „Noch mehr?“
Zerknirscht ließ ich sie die Infos lesen.
„Der wird von Interpol gesucht? Dann schnappen wir ihn uns direkt am Flughafen. Kurzer Prozess“, atmete sie erleichtert aus.
„Darf ich jetzt heim?“
Die Sternelben stimmten gnädig zu.
Kurz nachdem die Putzfrauen um 8 Uhr am Sonntag, dem normal siebten Arbeitstag der Woche durch waren, füllte ich die fünf Fensterbänke des Konferenzraums magisch mit Pflanzen. Dieses Zugeständnis konnte ich den Lichtwesen abschwatzen. Da ich vernünftigerweise vor allen anderen Kollegen zur Arbeit angerückt war, sollten sie keinen Verdacht schöpfen.
Während der zweiten Woche im Kommissariat überlebte ich die tägliche Überdosis an Gewalt nur, weil jede freie Minute in die Planung der Gartenparty für Jay und Schorsch floss. Die beiden verhedderten sich in ihren unterschiedlichen Ideen so sehr, dass ich kaum Überredungskunst investieren musste, um ihnen die Sache mit diebischer Freude aus der Hand zu nehmen. Sie rechneten mit rund hundert Leuten. Den größten Spaß bereitete es, das Geschenk zu finden. Trotz aller Gegensätze teilten sie gemeinsame Träume. Getoppt wurde meine Euphorie durch die riesige Vorfreude auf mein freies Wochenende.
Am Tag der großen Party zauberte ich in der Morgendämmerung zu allererst trockenes Wetter. Dann erschien vor dem Haupthaus mein Geschenk. Ein rotes Cabriolet, umwickelt mit cremefarbenem Schleifenband. Einen kurzen Moment liebäugelte ich mit der Verlockung einer Probefahrt. Stattdessen stürzte ich mich auf weitere magische Aufgaben. Im Park errichteten sich ein Zelt, verstreut stehende Gruppen aus Gartenmöbeln und eine Bühne für die angeheuerte Oldieband. Üppige Dekopracht ergoss sich in und um das Haus. Zum krönenden Abschluss fehlte noch Konfetti von ihrer Schlafzimmertür hinunter bis zum Hauseingang und weiter bis zum Gartentor. Danach kamen das Champagnerfrühstück sowie der Umschlag mit meiner Glückwunschkarte und dem Autoschlüssel an die Reihe. Ich war so aufgeregt wie ein Kind vor Heiligabend. „Wow, wow, wow!“
Im Überschwang bekam Katjas schäbiger Konferenzraum voll dickköpfig noch Farbe an die Wände. Nachher würde der Raum meine lieben Kollegen in warmem Terracotta erwarten. Ich jauchzte.
Die Sternelben tadelten mich. „Menschen tolerieren keine Magie, denk an deine eigenen Erfahrungen.“
„Solange ich eine akzeptable Erklärung liefern kann, werden sie es schon schlucken.“ Hoffte ich.
Immer wieder erstaunlich, auf welche Art und Weise dieses „Schlucken“ geschah.
Weder Sonntag noch am Montag war die Wandfarbe ein Thema. Der einzige Kommentar, den ich am Montag mitbekam, lautete fast wortgetreu: „Dafür ist Geld da, das hätten sie mal lieber in eine ordentliche Kaffeemaschine gesteckt.“
Durchtrieben griff ich die Meckerei für einen weiteren Schachzug auf. „Wie wäre es, wenn jeder einen Zehner spendiert und ich morgen vernünftige Geräte mitbringe?“
„Spitze“, kommentierte Janine, von allen kurz Jan genannt. Umstandslos sammelte sie sofort die Scheine ein.
„Seht ihr, so geht das!“, grinste ich allwärts. Über die passende Anrichte würde ich mir später den Kopf zerbrechen.
Derart abgelenkt, bekam ich gerade noch den Rest mit. „… kaputter Stuhl. Muss ich mal beim Hausmeister nachhören, ob im Ersatzteilraum noch einer herumsteht.“
„Ersatzteilraum? Genial!“
Mein Sorgenfall unter den Kommissaren hieß Kai. Gemeinsam mit seiner jungen Partnerin Amelie fahndete er nach einem Schwerverbrecher. Da Kai jede Hilfe durch meine „Fähigkeiten“ stur ablehnte, impfte ich Amelie regelmäßig hinter seinem Rücken. So auch diesmal. „Ich weiß zwar, wo er sich gegenwärtig aufhält, aber der Kerl ist impulsiv. Am besten, wir Zwei halten Kontakt per Handy, damit euer Zugriff klappt.“
Drei Stunden später klopfte sich Kai mächtig an die Brust. „Mein Spürsinn hat mich noch nie im Stich gelassen.“
Seine Partnerin verdrehte die Augen und raunte mir zu: „Ohne dich würde Mattmann an Weihnachten noch frei herumlaufen.“
Ihr Lob bekam ich kaum mit, denn die Sternelben schoben ein dickes Paket in meine grauen Zellen.
Innerlich schüttelte es mich vor Abscheu und Ekel, als ich den Weg zu Katjas Büro antrat.
„Nachtschicht?“, fragte sie müde.
„Kindesentführung.“
Ein Schauer des Entsetzens entstieg ihr.
„Der Täter ist ein alter Bekannter eures Dezernats für Sexualdelikte.“
„Dann sollen die sich kümmern!“, brauste Katja auf.
„Liebes, er will zuerst die Mutter töten“, entgegnete ich sanft.
Mit immenser Kraft drückte sie aufsteigende Tränen weg. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
Mein Herz weinte für sie.
Die Gratwanderung, diesen Mord zu verhindern, aber dennoch den Täter für lange Zeit hinter Gittern zu wissen, überließen die Sternelben mir. Von Tag zu Tag hielten sie sich mehr mit Ratschlägen zurück. Und selbst wenn sie halfen, klang ihr Gesang eigenartig, irgendwie unkonzentriert oder abgelenkt.
Vor Erschöpfung graue Gesichter verfolgten mit rot unterlaufenen Augen die Einsatzbesprechung. Ein anonymer Magen knurrte laut.
Blitzgedanke. „Katja, fünf Minuten Pause bitte. Ich will schnell etwas aus meinem Wagen holen.“
Mit einem überdimensionalen Tablett und dazu einem Korb am Arm balancierte ich zurück in den Raum. Fragende Blicke.
„Holt mal Gläser.“ Zuerst entfernte ich die Folie von den Sandwiches. Gierige Blicke. Dann kamen Servietten und vier Milchtüten auf den Tisch.
„Milch?!“
„Erst ausprobieren, dann meckern. Langt zu.“
Das erste Gelächter des langen Tages.
Katja dehnte die Pause stillschweigend um weitere zehn Minuten aus.
Das Aufputschmittel à la Elin wirkte.
„Okay, Leute, weiter im Takt“, beendete Katja die Schonzeit. „Wir haben folgendes Problem: Der Täter beobachtet das Haus. Wie kommen wir hinein?“
Mein Handzeichen. „Das übernehme ich. Die Mutter wird mich wie eine Freundin begrüßen …“
„Wie soll das denn funktionieren?“, pampte Kai dazwischen.
„Lass Lilia ausreden, Kai!“, schnauzte Katja. „Also, Lilia, dein Plan.“
„Die Mutter erhält von mir die wichtigsten Informationen, dann lasse ich Jan und John durch das Gartentor hinein.“
Kai erwürgte mich in seiner bescheidenen Fantasie qualvoll.
John warf ein: „Solange du im Haus bist, wird er nichts unternehmen.“
„Stimmt. Gebt mir eine Viertelstunde. Ich werde wegfahren und den Wagen auf der rückwärtigen Straße abstellen. So gelange ich von der Hinterseite abermals hinein.“
Nächster Einwand von Jan mit kritischem Blick auf den von mir besorgten Grundriss des Hauses: „In dem kleinen Schlafzimmer können wir uns nicht verstecken.“
„Nein, ihr bleibt bei der Mutter nebenan im Kinderzimmer. Ich lege mich an Stelle der Mutter in ihr Bett.“
Als schwierigster Part erwies sich die Sache mit der kugelsicheren Weste.
„Katja, ich benötige keine“, flüsterte ich eindringlich.
Nur ihre Erschöpfung verhinderte Gehirnchaos, indem sie den Zugang zur überlasteten Logikabteilung blockte.
„Gibt es eigentlich Arbeitsschutzvorschriften für Magier?“, witzelte mein Alter Ego. Zum ersten Mal durfte ich mit höchstsphärischer Erlaubnis meine Schutzmagie anwenden. Sah ja niemand.
Am Tatort legte ich mich in das Futonbett und lenkte meine Konzentration auf den Energiefluss. Ein unsichtbarer Schutzfilm legte sich um meinen Körper.
Die Zeit tröpfelte in der Dunkelheit zum Einschlafen dahin.
Leise öffnete er die Tür. Seine schwarze Seele spürte ich bis ins Bett brodeln. Im geräuschlosen Schleichgang näherte er sich mir. Das Messer in seiner vorschießenden Hand prallte an meinem Schutzschild ab. Bevor er erfassen konnte, was da geschah, stieß ich ihn mit der Wucht meines Oberkörpers um. Hart schlug er mit dem Rücken am Boden auf, während ich bereits laut rief: „Jan, John, Handschellen!“
Der kleine Junge schlief friedlich in seinem Bettchen. Leise vor Glück weinend saß seine Mutter daneben.
„Ins Bett würde ich jetzt auch gerne fallen“, gähnte ich.
„Du darfst.“
Aus dem Buch „Inghean“
Die Dämonen scheinen sich wie ein Krebsgeschwür in den Eingeweiden der Stadt auszubreiten. Ohne Hilfe sind wir bald verloren.