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Mit Bashô in der Metro

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Ich betrat die Metrostation mit dem Buch von Bashô (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland in der französischen Übersetzung von Nicolas Bouvier). Ich hatte Bouvier vor einigen Jahren in Toronto getroffen. Wir tranken zusammen einen Kaffee. So voller Leben und zugleich erschöpft, den Koffer am Tischbein. Kurzer Dialog zwischen zwei Flughäfen – er musste nach New York. Wir unterhielten uns weiter über die aztekische Bourgeoisie, dass sie schlecht bezahlte Arbeiter mindestens zwölf Stunden täglich an Monumenten schuften ließ, die heute von Gras überwachsen sind. Da kam das Taxi. Ich betrachtete sein fast dunkelhäutiges, schweißbedecktes Gesicht im Profil. Schon wieder in seine Notizen vertieft. Der Wagen fuhr im leichten Regen davon. Die Jahre sind vergangen. Seine Legende ist über das vernünftige Maß hinausgewachsen. Eine kleine Gemeinde hat aus ihm einen Heiligen gemacht. Und jetzt kehrt er als Bashôs Übersetzer zurück. Von Bashô hatte ich bisher ein paar kürzere Stücke, aber noch nie einen ganzen Text gelesen. Der Dichter erzählt von seiner Wanderreise in den Norden Japans. Ich las ihn in der Metro. Ich verfolgte die Ereignisse auf Bashôs Suche nach der Grenzbarriere von Shirakawa, in einer fahrenden Metro in Montreal. Alles war in Bewegung. Außer der Zeit, sie blieb stehen. Zu sehr mit all den Verschachtelungen der Zeit und Überschneidungen des Raums beschäftigt, interessierte ich mich nicht für meine direkte Umgebung. Außer für das Mädchen, das mir gegenübersaß und mich ohne zu lächeln ansah. Lang und dünn. Schwarze Augen – ein Pinselstrich. Sie hieß sicher Isa. Sobald jemand in mein Blickfeld gerät, wird er zu einer fiktiven Person. Keine Grenze zwischen Literatur und Leben. Ich versenkte mich wieder in das Buch. Bashô bereitet seine letzte Reise sorgfältig vor. Er hält sein beengendes Alltagsleben nicht mehr aus. Und die Zeit vergeht so schnell. „Tage und Monate verweilen nur kurz als Laufgäste ewiger Zeiten“, murmelt ohne Bitterkeit der Dichtervagabund. Er muss sich wieder auf die Reise begeben, sich dem Zickzackweg des Zufalls überlassen: „Die Gottheiten der Verführung winkten mir zu, so dass mir keine Arbeit mehr von der Hand ging.“2 Er verzichtet auf alles, sogar auf das Notwendige. Er behält nur einen dicken Mantel aus Papier „gegen die Nachtkälte“, ein Cape aus Stroh gegen den Regen und einen Yakata aus Baumwolle. Da er Schriftsteller ist, steckt er noch die Schreibmappe mit Pinsel und Tusche in seinen Sack. Selbst das Unverzichtbare ist zu schwer. Man braucht nur sich selbst, wenn möglich nackt. Ich hatte die Gedichte von Bashô auf einer Zeitung entdeckt, in die Reis eingewickelt war. Seither suche ich überall nach seinen Spuren. Wenn ich eine Buchhandlung betrete, schaue ich zuerst nach, ob es etwas von oder über Bashô gibt. Dieser Mann hat ein echtes Gespür für die Emotion. Er ist dickköpfig. Nichts zwang ihn dazu, in seinem Alter noch eine solche Reise zu unternehmen, aber keiner konnte ihn zurückhalten, als er entschieden hatte, fortzugehen. Sora begleitet ihn, um ihm die täglichen Verrichtungen abzunehmen. In der Morgendämmerung brechen die beiden auf. Wir begegnen ihnen in der Ebene von Nasu3 wieder. Der Regen zwingt sie, in einer Strohhütte zu schlafen. Bashô scheint in bester Form zu sein. Sein Element ist die Bewegung. Er bewegt sich gleichzeitig mit der Landschaft.

Ich sitze in der Metro von Montreal und folge der Spur eines gewissen Matsuo Munefusa, genannt Bashô. Er wurde 1644 in Tsage geboren, einem Dorf in der Nähe von Ueno. Er bewunderte den Dichter Tu Fu. Bashô und Sora sind eben an der berühmten Grenzbarriere von Shirakawa angekommen, die alle alten Dichter mit Rührung erwähnen. Als sie später den Abukuma-Fluss überquert haben, entdecken sie zur Linken das Bandaï-Gebirge, „das mit seiner ganzen Höhe das Gebiet von Aizu überragt.“ Sie machen Rast bei einem Eremiten, der unter einem Kastanienbaum lebt. Bashô schrieb einen Haiku über die Kastanie, die ihn offenbar mehr beeindruckt hat als der Einsiedlermönch. Sie erinnerte ihn wohl an den Bananenbaum, der ihm seinen Namen gegeben hat. Bashô. Der Regen hält den ganzen Monat Juni an.

Ich schaute auf. Isa war noch da. Nichts hatte sich bewegt, außer dem Zug. Ich kehrte daher zu Bashô zurück. Matsushima! Unsere Reisenden träumen schon eine ganze Weile von diesem Ort. Endlich sind sie da. Sie gehen in Richtung des Strands von Ojima. Matsushima verschlägt Bashô die Sprache. Eine Vielzahl von Inseln. Voll Anmut. „Dunkelgrün stehen die Kiefern“, er besingt ihre schönen Formen. Am Ufer des Kitakami-Flusses, wo der Bach Koromo mündet, wird Bashô von Tod und Vergänglichkeit angerührt.4

Die Reise wird beschwerlicher. Bambusgrasgewirr, Wildbäche, Felsen, vor allem „kalter Schweiß“, entlang der steilen Wegstrecke, die in die Ländereien von Mogami führt. Die beiden Dichter legen eine Pause ein, bevor sie wieder aufbrechen. Sie haben vor, den Mogami-Strom flussabwärts zu fahren. Das Wetter ist so schlecht, dass sie mehrere Tage abwarten müssen, bis es weiter geht. Bauern erkennen Bashô und bitten, dass er ihnen Schreibunterricht geben möge. Er ist gerührt: „Hierorts kam meine Kunst der Poesie wirklich zu ihrem Recht – erreichte einen Höhepunkt der Reise.“5 Was für ein Feingefühl! Und hier ist der Mogami, der im Gebirgsland des Nordens entspringt.

Bashô bestimmt immer sorgfältig den Ort, wo er sich befindet, damit nach ihm andere Dichter denselben Weg gehen können. Das ist das große Spiel, das sich seit Jahrhunderten fortsetzt. Bashô will uns damit sagen, dass alle Dichter nur ein einziger sind, vom selben Atem beseelt. Diesen Weg, der für alle gleich ist, nimmt doch jeder auf seine Weise. Und zu seiner Zeit. Der Zug hatte gehalten, ohne dass ich es bemerkte. Ich sah gerade noch den Rücken von Isa in der Menge der Eilenden. Ein langer zerbrechlicher Hals. Ein trauriger Nacken (ich projizierte meine Traurigkeit auf ihren Nacken). Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

2Bashô a. a. O., S. 43.

3Bashô a. a. O., S. 69.

4„über Burgruinen grünt … nur noch Gras“; Bashô a. a. O., S. 149 und 165; Anm. B. T.

5Bashô a. a. O., S. 187.

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