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Zur selben Zeit gab es allerdings noch ein zweites Objekt der Begierde, das ihn lockte: Olga Leopoldine von Velten (1826 – 1859), eine junge Frau aus einer angesehenen preußischen Familie. Es ist kaum überraschend, dass sie einander kennenlernten: Olgas Großvater mütterlicherseits, Johann Gottlieb Puhlmann, war der vermögende Direktor der staatlichen Kunstgalerie in Berlin, Hofmaler, Konservator und Wilhelm Puhlmanns Vater. Olgas Vater war Leopold von Velten, der, wie Helmholtz, Militärarzt war; ihre Mutter war Julie Puhlmann. Während seiner Dienstzeit in Westpreußen bekamen Leopold und Julie zwei Töchter, Sophie Julie Betty und Olga. Als Leopold 1828 starb, kehrte Julie mit ihren Töchtern in ihre Heimatstadt Potsdam zurück, wo ihr Bruder Wilhelm Puhlmann lebte. Dort zog sie ihre Töchter auf, wobei sie einen Schwerpunkt auf ihre sprachliche, literarische und musikalische Ausbildung legte, ihnen Patriotismus und ein Leben für Ideale einimpfte und sie lehrte, wie wichtig gute Manieren und die Freude am Leben waren. Betty fand Olga »nicht schön, aber fein und anmuthig – nicht lebhaft hervortretend, aber mit Verstand aufmerkend und scharf beobachtend. Ihr Geist schlagfertig, amüsant, witzig, bis zum Sarkasmus scharf. Vor allem aber und als unmittelbarer und bleibendster Eindruck, lag über ihr wie ein holdes Wunder, ein Hauch von Weiblichkeit und einfacher, schlichter Reinheit – etwas ganz Unwiderstehliches«. Olga sang und interessierte sich sehr für die schönen Künste (besonders für Musik) und Literatur. Sie besaß genau jene Art von Talenten und Kultur, die Helmholtz anzog. Er verliebte sich in sie – angeblich auf den ersten Blick –, während er seine Theorie der Krafterhaltung entwarf. Beide, Olga und Helmholtz, stammten aus dem Potsdamer Bildungsbürgertum und hatten Wilhelm Puhlmann zum Onkel respektive Freund und Vorgesetzten. Und spätestens seit dem Frühjahr 1846 bewegten sie sich auch in denselben gesellschaftlichen Kreisen. Am 11. März 1847 verlobten sie sich heimlich. »[D]eine Zukunft ist ja meinem Fleiße anvertraut«, schrieb er an sein »Herzlieb«. Allerdings verdiente er so wenig, dass eine Heirat zu jener Zeit außer Frage stand.23

Er nannte sie »Dot« (kurz für »Dötchen«). Ihre Anwesenheit, ja schon der Gedanke an sie verzückte ihn. Er litt, wenn er nicht bei seinem »lieben Schätzchen« war. Einmal unternahm er mit Ferdinand und einem von dessen Kollegen – »wir haben viel gestritten« – einen Spaziergang und besuchte am Abend ein Theaterstück und eine Oper (Daniel François-Esprit Aubers Maurer und Schlosser [Le maçon]). Diesen künstlerischen Doppelabend fand er höchst amüsant, beklagte aber, ohne seine »kleine, gute Königin« zu sein. Wenn er sich wieder an seine wissenschaftliche Arbeit über die Krafterhaltung und andere Themen machte, war er ganz Vernunft, doch wenn er an Dot dachte, ganz Leidenschaft:

Viel Vernunft, Du liebe, liebe Olga, wirst Du in dem, was ich geschrieben habe, nicht finden, die fliegt immer alle fort, wenn ich mit Dir spreche; sonst aber bin ich noch immer ungeheuer vernünftig, und ich glaube nicht, daß mir Jemand anmerken kann, welche Unendlichkeit von Seeligkeit ich im Herzen trage. Die Leute und Häuser, die ich sehe, sind immer noch die alten, aber sie sehen mir so viel frischer und klarer aus. Wenn das ganze lange Leben mir keine Freude gegeben hätte, als die Liebe meiner Olga, wäre es schon der Mühe werth gewesen zu leben.

Olga hatte Husten, und er war in Sorge um sie – eine Konstellation, die noch häufiger vorkommen sollte.24 Helmholtz’ Briefe an sie waren übervoll von Liebesbekundungen. Gelegentlich fühlte er sich sogar dazu inspiriert, (nicht sonderlich bemerkenswerte) Gedichte zu schreiben. Am zehnwöchigen Jubiläum ihrer Verlobung war er hors de soi: Er hoffte, sein »Engel« würde ihn »in alle Ewigkeit« so lieben, wie er sie liebte. Allerdings kam er auch wieder hinreichend zur Besinnung, um ihr zu berichten, dass er die Erwärmung von Froschmuskeln erforschte und nach Berlin gefahren war, um Halske dazu zu bringen, ihm ein Instrument für seine Arbeit zu bauen. Er war dermaßen in sie verliebt, dass er sein Manuskript zunächst, Vernunft und Leidenschaft paarend, mit dem Titel »Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung zur Belehrung seiner theuren Olga« versah (vgl. Abb. 4.3). Als die Vernunft schließlich wieder vollen Besitz von ihm ergriffen hatte, strich er den Bezug auf sie jedoch. Seine Abhandlung war sicherlich ohnehin viel zu wissenschaftlich, um für Olgas »Belehrung« geeignet zu sein. Immerhin mochte sie dabei helfen, seine Karriere voranzubringen und so vielleicht auch den Tag ihrer Hochzeit rascher herbeizuführen. Olga und er gaben seinen Eltern gegenüber ihre Verlobung bekannt, und er berichtete seinem »süßen Engel«, dass Ferdinand »darüber bis an die Decke vor Freuden« gesprungen sei und ihm »ungemein herzlich« gratuliert habe. (Den Segen seines Vaters zu bekommen, war nie eine Kleinigkeit.) Und er schmachtete ihr nach: »[D]ie rechte Frühlingsfreude habe ich auch nicht ohne Dich, obgleich es in der Natur so schön ist, wie selten sonst, wenigstens nicht solche Freude, wie ich sie im vorigen Frühling oft gehabt habe, wenn ich mit Euch an schönen Abenden herumwandelte.«25

Im selben Frühling verließ er die Husaren und trat am 1. Juni dem Königlichen Regiment der Gardes-du-Corps bei. Seine Versetzung bedeutete eine Beförderung zum Oberarzt und eine bescheidene Gehaltserhöhung (auf 315 Taler). In seiner neuen Kaserne richtete sich Helmholtz erneut ein kleines Labor ein. Sein Vorgesetzter war jetzt Friedrich Wilhelm Branco, zu dessen Aufgaben auch die medizinische Versorgung der königlichen Familie gehörte. Wie Puhlmann wurde er Helmholtz ein persönlicher Freund. Viel später sollte sein Sohn einer von Helmholtz’ Schwiegersöhnen werden. Helmholtz erinnerte seine »unendlich geliebte Olga«, dass sie nun schon ein ganzes Vierteljahr lang verlobt waren. Zudem schrieb er ihr, dass er im Begriff war, die Rohfassung seiner Abhandlung über die Erhaltung der Kraft fertigzustellen, und dass er sich sehr nach ihr sehnte: »Länger würde ich es auch gar nicht aushalten; so lange ich reichlich zu arbeiten habe, hält mich der Gedanke, daß ich für unsrer beiden Zukunft arbeite aufrecht; in müßigen Stunden faßt mich aber das Gefühl der Einsamkeit und der Sehnsucht nach derjenigen, in der sich für mich alle Liebe, alle Hoffnung und alle Wonne vereinigen, recht hart und schwer.«26

Abb. 4.3:Das ursprüngliche Titelblatt des Manuskripts »Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung zur Belehrung seiner theuren Olga bearbeitet von Dr. H. Helmholtz«, 1847. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiearchiv, Helmholtz Nachlass 598.

Helmholtz war nun so weit, seine Überlegungen zur Krafterhaltung publik zu machen, denn er teilte du Bois-Reymond mit, dass er am 23. Juli nach Berlin kommen werde, um einen Vortrag über das Thema vor der Physikalischen Gesellschaft zu halten, was er auch tat. Potsdam erschien ihm ohne Olga als »einsamer« Ort. Beschäftigung fand er darin, dass er jeden Morgen schwimmen ging und den Puhlmanns Besuche abstattete, Olga Romane schickte, die er gelesen hatte (von Henrik Steffens, einem Naturphilosophen, der früher einer seiner Lehrer gewesen war, und von Charles Sealsfield [Karl Anton Postl]), ein Buch von Ida Gräfin von Hahn-Hahn bestellte (Der Rechte, 1839) und Noten erwarb.27

Über die Erhaltung der Kraft

Helmholtz’ Interesse an der Krafterhaltung speiste sich aus mehreren Quellen und Zusammenhängen philosophischer, physikalischer, physiologischer, kultureller, technologischer und politisch-ökonomischer Art. Allgemeine Bemühungen teils philosophischer Natur, die Erhaltung der Bewegung (vis viva) zu verstehen und das Konzept einer ewigen Bewegung zu widerlegen, gingen bis auf Gottfried Wilhelm Leibniz und andere in der frühen Neuzeit zurück. In Helmholtz’ Jugendjahren reifte in ihm, wie bereits erwähnt, die Überzeugung von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile heran, und als Mitarbeiter der Institutsbibliothek entdeckte er die aufklärerischen Werke etwa eines Daniel Bernoulli und eines d’Alembert, welche die einschlägigen physikalischen Prinzipien und Analysemethoden enthielten. Mit der Zeit entwickelte er ein umfassendes Verständnis der Mechanismen der Krafterhaltung, und irgendwann vor seinem vierten Jahr am Institut formulierte er das Thema als »eine präcise Frage« und folgerte, dass »Lebenskraft« einfach eine weitere Spielart eines Perpetuum mobile sei. Das Thema der Krafterhaltung passte zu seinem Ehrgeiz, die schwierigsten wissenschaftlichen Probleme anzugehen. »Junge Menschen greifen am liebsten gleich von vorn herein die tiefsten Probleme an, so ich die Frage nach dem räthselhaften Wesen der Lebenskraft«, wie er später einräumte. Hier Klarheit zu schaffen, war nicht nur wesentlich für das Programm der organischen Physiker, biologische Phänomene in den Begriffen von Physik und Chemie zu erklären, sondern auch relevant, um, wie er später sagte, die Naturphilosophie allgemein und ihre mystischen Wurzeln zu bekämpfen – obwohl er und seine Mitstreiter zu diesem Zeitpunkt damit bereits längst offene Türen einrannten. Die Krafterhaltung interessierte ihn zudem auch als Teil seiner anhaltenden Bemühungen darum, die Wärme als physiologisches Phänomen zu verstehen.28 Seine Abhandlung über die Physik der Krafterhaltung dehnte das Programm der organischen Physiker über die Physiologie hinaus aus und war eine gute Ergänzung für du Bois-Reymonds eigene bahnbrechende Arbeit über die biophysikalischen Grundlagen der Physiologie, nämlich seine Untersuchungen über thierische Elektricität von 1848.

Seine Abhandlung stellte eine Ergänzung auch zu Alexander von Humboldts laufender Publikation seines Kosmos (1845 – 1850) dar, eines damals dreibändigen Werks, das dem Verständnis der Natur als Ganzes dienen sollte. Doch während Humboldt weithin deskriptiv und semipopulär arbeitete, ging Helmholtz erklärend-mathematisch vor und formulierte ein kausales Prinzip, das sämtliche Naturphänomene bestimmte. Allgemeiner ausgedrückt: Helmholtz’ Suche nach einem vereinheitlichenden Prinzip in der Natur gehörte in eine deutsche Tradition, die nicht nur Humboldt, sondern auch Kepler, Leibniz, Kant, Hegel, Goethe, die romantischen Naturphilosophen und die organischen Physiker selbst umfasste. Später zählten auch noch Persönlichkeiten wie Ernst Haeckel, Wilhelm Ostwald, Max Planck und Albert Einstein dazu, die allesamt die Einheit und Vernetzung der gesamten Natur betonten und bestrebt waren, ein einheitliches Weltbild der Phänomene und Gesetze der Natur anbieten zu können. Auch Helmholtz hatte als junger Student solche philosophischen Ambitionen und Interessen gehegt, wie es sein Studium von (vor allem) Kant und Fichte demonstriert, und in seinem Denken wie dem zahlreicher deutscher Intellektueller spielten die Begriffe von Einheit, Kausalität und Weltbild eine wichtige Rolle. Allerdings hat er in seiner Abhandlung von 1847 Kant weder namentlich erwähnt noch sich auf irgendeine seiner Schriften bezogen.29

Helmholtz’ Quellen und Methoden waren auch technologischer und politisch-ökonomischer Art. Seine Interessen waren an dieser Stelle von der französischen Technischen Mechanik (z. B. der von Sadi Carnot und Emile Clapeyron) und dem zentralen Begriff der Arbeit geprägt, der in den 1840er-Jahren zu einem intensiv erforschten Gegenstand geworden war. Zudem rückte das Leben im Potsdam und Berlin der 1830er- und 40er-Jahre, als überall rundum die Eisenbahn aufkam und Dampfmaschinen sogar in Potsdams üppigen öffentlichen Gärten Aufstellung fanden, die Dampfmaschine und die mit ihr verbundenen Konzepte und Technologien (das der Arbeit etwa, oder Indikatordiagramme) zunehmend ins Bewusstsein (nicht nur von Helmholtz).30

Helmholtz’ Interesse an der Krafterhaltung als generellem wissenschaftlichen und philosophischen Thema war Mitte der 1840er-Jahre also alles andere als außergewöhnlich. Tatsächlich hatte zwischen den 1820er-Jahren und 1847 eine ganze Reihe europäischer Wissenschaftler – darunter Carnot, Carl Friedrich Mohr, Marc Séguin, Michael Faraday, Julius Robert Mayer, William Robert Grove, Liebig, James Prescott Joule und Ludvig Colding – auf die eine oder andere Weise behauptet, dass Kräfte weder erzeugt noch zerstört werden können, sondern stattdessen eine Umwandlung oder Wechselwirkung durchlaufen, und vor allem, dass Wärme und Arbeit austauschbar seien. Helmholtz kannte das Werk zumindest einiger seiner Vorläufer und Zeitgenossen aus erster Hand (das von Mayer damals allerdings noch nicht). Seine spätere Behauptung, dass er, abgesehen von Johann Christian Poggendorffs Annalen der Physik und Chemie, nur wenig Zugang zur einschlägigen Literatur hatte, scheint zweifelhaft.31 Elemente seiner Theorie hatte er mit Sicherheit von vielen Physikern, Chemikern, Ingenieuren und Philosophen vor ihm entlehnt, deren Ideen und Erkenntnisse Mitte der 1840er-Jahre zu Gemeinplätzen geworden waren. Die Neuartigkeit seiner Abhandlung bestand vielmehr in der allgemeinen Anwendbarkeit ihres Prinzips der Krafterhaltung überall in der Physik (und, wie er hoffte, am Ende auch darüber hinaus, nämlich in der Physiologie) und in ihrer quantitativen Spezifizität für bestimmte physikalische Probleme. Den unmittelbaren Kontext seiner Schrift bildete zwar die Physiologie, doch Helmholtz’ Analyse der Krafterhaltung war darauf angelegt, seine Kompetenzen als Physiker herauszustellen. Vor allem war es sein seit Jugendjahren immer wieder aufflammender Ehrgeiz, die Unmöglichkeit einer ewigen Bewegung aufzuzeigen (letztlich also die Physik), der Helmholtz antrieb.

Seine Schrift richtete sich somit an zweierlei Publikum. Zunächst an die Physiker, eine Berufsgruppe, bei der er keinerlei professionellen Kredit genoss und der er auch nicht angehörte, deren Anerkennung er jedoch anstrebte. Er betrachtete seine Arbeit als eine kritische Analyse, die generalisierte und ordnete, was andere vor ihm vom 18. Jahrhundert bis in seine eigene Zeit hinein geleistet hatten.32 Der zweite Adressat waren seine Kollegen aus der Physiologie, von denen er hoffte, dass sie die Krafterhaltung zur Erklärung physiologischer Phänomene heranziehen und der organischen Physik damit eine stringente Grundlage verschaffen würden.

Den Anfang der Schrift machte er mit dem Zugeständnis, dass seine philosophische Einleitung auch unabhängig von der eigentlichen Abhandlung selbst (also der Physik) gelesen werden könne. In dieser Einleitung behauptete er sodann, dass alle von ihm ins Spiel gebrachten physikalischen Theoreme von zwei scheinbar entgegengesetzten, letztendlich aber identischen Standpunkten aus hergeleitet werden konnten: entweder aus der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile (also der Erzeugung einer unendlichen Menge Arbeit aus einer endlichen Menge Kraft) oder aus der Erklärung aller Wirkungen in der Natur in Begriffen von Anziehungs- und Abstoßungskräften (Punktmassen, die über Zentralkräfte interagieren). Die Aufgabe der Physik sei es, wie er erklärte, die Kausalgesetze zu finden, »durch welche die einzelnen Vorgänge in der Natur auf allgemeine Regeln zurückgeleitet und aus den letzteren wieder bestimmt werden können«. Solche Gesetze erstreckten sich auf alle relevanten Erscheinungen. Er glaubte, dass die Natur im Prinzip vollständig begreifbar war, und zwar mithilfe von Gesetzen, die alle Phänomene auf eine Reihe unveränderlicher, notwendiger und hinreichender Ursachen reduzierten.33

In gut Newton’scher und Kant’scher Manier unterschied Helmholtz Materie und Kraft als die grundlegenden Abstraktionen, mit denen sich die Wissenschaft ein Bild von der äußeren Welt mache. An sich habe Materie keine Wirkung, behauptete er; sie informiere uns nur über die räumliche Verteilung und Quantität von Masse. Daher sei die einzige Veränderung, die Materie erfahren könne, eine räumliche (also Bewegung). Da wir die Natur aber nur durch ihre Wirkungen auf unsere Sinnesorgane erkennen können, erfordere die Abstraktion »Materie« eine zweite Abstraktion, nämlich »Kraft«, denn diese sei es, die sämtliche Wirkungen hervorrufe. Beide Begriffe seien immer und notwendigerweise miteinander verbunden, aber eben bloße Abstraktionen »von dem Wirklichen«, weshalb sie, jeweils für sich betrachtet, keine praxisrelevante Bedeutung hätten.34

Die ersten Ursachen zu finden, heiße, wie er hinzufügte, über die Zeit hinweg unveränderliche Kräfte zu finden, und dies wiederum erfordere die Reduktion von Naturerscheinungen auf die Bewegung von Materie gemäß den mechanischen (Kraft-)Gesetzen von Punktmassen. Mechanische Kräfte sind entweder anziehend oder abstoßend. Daher schlussfolgerte Helmholtz, dass »sich also endlich die Aufgabe der physikalischen Naturwissenschaften dahin [bestimmt], die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende und abstossende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt. Die Lösbarkeit dieser Aufgabe ist zugleich die Bedingung der vollständigen Begreiflichkeit der Natur«. Das »Geschäft« der theoretischen Naturwissenschaft sei, wie er meinte, in dem Moment vollendet, in dem solche Kräfte entdeckt würden und gezeigt werde, dass sie einzig seien und doch für sämtliche Erscheinungen verantwortlich. Solche Kräfte würden eine »objective Wahrheit« bilden.35 Etwa zwanzig Jahre später gab er diesen reduktionistischen, kausalen Ansatz zugunsten eines stärker phänomenologisch orientierten auf.

Mit der philosophischen Einführung im Rücken stürzte sich Helmholtz auf die wissenschaftlichen Details der Krafterhaltung. Er ging davon aus, dass keine Kombination von Körpern kontinuierlich Kräfte aus dem Nichts erzeugen kann – oder, in der Sprache der Mechanik ausgedrückt, dass die Menge der Arbeit, die erzielt wird, wenn ein System von seinem ursprünglichen in einen zweiten Zustand übergeht, immer der Menge Arbeit entspricht, die verloren geht, wenn es aus dem zweiten wieder in den Ausgangszustand zurückkehrt, egal wie, auf welchem Wege oder mit welcher Geschwindigkeit die Veränderung hervorgerufen wurde. Denn anderenfalls hätte sich die Quantität der Arbeit auf irgendeine Weise erhöht, was faktisch der Erschaffung eines Perpetuum mobile gleichkäme. Die Wahrheit dieser Annahme versuchte er für alle Bereiche der Physik nachzuweisen, ebenso ihre Brauchbarkeit als Experimentierleitfaden auf Gebieten, für welche die Gesetze der Physik bis dato nur zum Teil überprüft worden waren. Anschließend mathematisierte und generalisierte er diesen Punkt und nannte ihn das Gesetz von der Erhaltung der Kraft: »In allen Fällen der Bewegung freier materieller Punkte unter dem Einfluss ihrer anziehenden und abstossenden Kräfte, deren Intensitäten nur von der Entfernung abhängig sind, ist der Verlust an Quantität der Spannkraft stets gleich dem Gewinn an lebendiger Kraft, und der Gewinn der ersteren dem Verlust der letzteren. Es ist also stets die Summe der vorhandenen lebendigen und Spannkräfte constant.« (Zwischen den frühen 1850er-Jahren und 1862 wurde, um es vorwegzunehmen, diese »Spannkraft« als potenzielle und jene »lebendige Kraft« als kinetische Energie bekannt und verstanden, doch 1847 war eine solche Sprache und Begriffsbildung Helmholtz und anderen noch unbekannt. Sie ererbten vielmehr aus dem 18. Jahrhundert den zweideutigen Begriff der »Kraft«, verstanden entweder, in Anlehnung an die Newtonianer, als »tote« oder, in Anlehnung an die Leibnizianer, »lebendige Kraft«.) Helmholtz wandte sein Gesetz dann auf eine Vielzahl mechanischer Theoreme an und analysierte das Kraftäquivalent vieler thermischer, elektrischer und magnetischer Prozesse. Gegen Ende der Abhandlung erwähnte er kurz seine Hoffnung darauf, dass das Gesetz schließlich im Rahmen der Analyse des organischen Lebens zur Erklärung der Wärmeentwicklung in Pflanzen und Tieren angewendet werden würde.36

Wie Helmholtz behauptete, hatte er nachgewiesen, dass das Prinzip der Krafterhaltung »durch eine große Anzahl« naturwissenschaftlicher Fakten bestätigt werde und sich mit zahlreichen wohlbekannten Gesetzen der Mechanik, der Elektrizität und des Magnetismus im Einklang befinde. Das Prinzip bestätige diese Gesetze in Bezug auf bekannte Ergebnisse aus Beobachtung und Experiment. »[D]essen vollständige Bestätigung« sah er »wohl als eine der Hauptaufgaben der nächsten Zukunft der Physik« an.37 Für seine (angehenden) Kollegen aus Physik und Physiologie hatte Helmholtz damit ein zukünftiges Forschungsprogramm entworfen. Im Alter von 26 Jahren, nur fünf Jahre nach dem Abschluss seiner medizinischen Ausbildung, hatte er zudem seine Lösung für das unklare, zum Teil philosophische Problem der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile vorgelegt, und zwar indem er es einer konkreten und rigorosen wissenschaftlichen Analyse unterzog.

Ablehnung und Missachtung

Um eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu lancieren, ist es hilfreich, wenn man Verbindungen hat. In der Physik waren Helmholtz’ Kontakte allerdings nur gleichsam zweiter Hand. Er wandte sich (über du Bois-Reymond) an Magnus, und zwar mit der Bitte um Hilfe bei der Veröffentlichung seines Manuskripts in Poggendorffs Annalen, der führenden deutschen physikalischen Fachzeitschrift. Magnus war ein enger Freund und Kollege Poggendorffs. Letzterer prüfte das Manuskript umgehend und sandte seine Antwort an Magnus, nicht an Helmholtz. Darin gestand er die Bedeutung des Manuskripts zwar vage ein, monierte aber, es sei für seine Zeitschrift zu lang und, wichtiger noch, beschäftige sich nicht mit experimentellen Befunden – und die seien das, was die Annalen für gewöhnlich veröffentlichten. Das Werk von Theoretikern zu veröffentlichen, denen er im Übrigen absolut nicht seine Achtung und Anerkennung für ihre Nützlichkeit verweigere, wäre, wie Poggendorff behauptete, gleichbedeutend damit, andere Arbeiten experimenteller Art auszuschließen. Daher lehnte er es ab, Helmholtz’ Manuskript zu publizieren, und empfahl ihm, es als eigenständige Monographie zu veröffentlichen. Diesen Schlag versuchte er abzumildern, indem er die Tür zu einer möglichen künftigen Zusammenarbeit offen ließ, falls Helmholtz sich dafür entscheiden sollte, Beweise vorzulegen oder seine anregenden Spekulationen durch Experimente zu prüfen.38

Poggendorffs Ablehnung gehört wohl zu den ungeheuerlichsten Zurückweisungen eines Manuskripts in der wissenschaftlichen Publikationsgeschichte. Magnus schickte Helmholtz (wieder über du Bois-Reymond) Poggendorffs Ablehnungsschreiben und bedauerte dessen Entscheidung. Seiner Ansicht nach könne der Aufsatz eine sehr nützliche Wirkung entfalten und gebe darüber hinaus ein seltenes Beispiel für das breite Wissensspektrum sowie einen neuen Beweis für den Scharfsinn und das Talent von »Dr. H.«. Auch er empfahl, das Manuskript als Monographie zu veröffentlichen.39

Dies war Helmholtz’ erste professionelle Niederlage. Die Ablehnung verletzte ihn tief und hinterließ bleibende Narben. 1859 berichtete er einem Kollegen, dass seine Theorie damals, also 1847, bei den Physikern sehr unbeliebt gewesen sei. 1868 erzählte er dem schottischen Physiker Peter Guthrie Tait, wie die deutsche Physikergemeinde sowohl seine als auch Mayers Arbeiten über die Krafterhaltung zurückgewiesen hatte. »Es ist jetzt schwer«, fügte er hinzu, »sich in den Gedankenkreis jener Zeit zurückzuversetzen und sich klar zu machen, wie absolut neu damals die Sache erschien.« Über die »Zurückweisung«, die er vonseiten der Experten erlebt hatte, war er verblüfft und merkte an, dass in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften nur Jacobi Wohlwollen für seine Arbeit gezeigt habe. Noch 1891, drei Jahre vor seinem Tod, erklärte er öffentlich und in drastischen Worten, dass die (ungenannten) »physikalischen Autoritäten« seine Arbeit für »eine phantastische Speculation« in der Tradition von Hegels Naturphilosophie gehalten hatten.40 Doch obgleich ihn die Ablehnung seines Manuskripts für sein Leben zeichnete, hatte sie auch den Effekt, seinen Ehrgeiz zu befeuern, Physiker zu werden und ganz allgemein seinen Namen in gedruckter Form zu sehen.

Während er noch auf Poggendorffs Entscheidung wartete, schrieb Helmholtz an Olga, dass er »immer« an sie denke. Er tue nur wenig anderes und wolle auch nur wenig anderes als »an sie denken«. Wieder war er einsam, und es fehlten ihm längere Zeitblöcke, um mit der Arbeit voranzukommen. War Olga bei ihm, dann verschwanden seine kleinen Frustrationen, weil er in ihr seine »höchsten Interessen« vereinigt sah. Mit ihr konnte er sprechen wie mit keinem anderen Menschen: »Es ist doch gut, Du süße Olga, wenn man einen so lieben guten Menschen wie Dich hat, um ihm vertrauensvoll Alles zu beichten, was drückt und was man zu überwinden nicht rechte Lust hat.« Nur ihr gegenüber offenbarte er sich; mit ihr machte er sich keine Sorgen darum, eingebildet oder gar schlicht tölpelhaft zu wirken. Er knapste Zeiten von seinen militärischen Dienstpflichten ab, um zu studieren (vor allem Mathematik), (erfolglose) Experimente zur Wärmebildung in Froschmuskeln und Froschnerven durchzuführen und um zu schreiben. Er spielte Klavierstücke von Otto Tiehsen, nur um zu sehen, ob Olga sich für sie interessieren würde, obgleich er selbst sie nicht mochte, und schrieb ihr von »einer ganz besonderen Harmonie« ihrer Gemüter und von seiner Sehnsucht nach ihr: » [W]ie unendlich, wie innig und wie demüthig ich Dich liebe.« Und er berichtete ihr voller Schuldgefühle, dass er einen Nachmittag damit verbracht habe, einen Roman zu lesen, nämlich Samuel Warrens Zehntausend Pfund Renten (Ten Thousand a Year). Zwar mochte er dessen »unverdaute sentimentale Moralität und Religiosität« nicht, las aber dennoch zwei der drei Bände und hatte vor, auch den dritten noch zu lesen.41

Du Bois-Reymond zeigte sich von Poggendorffs Ablehnung verärgert und betrübt und versuchte, die Situation dadurch umzukehren, dass er behauptete, eine Monographie habe gegenüber einem Artikel mehrere Vorteile: Sie werde ein Honorar einbringen und sei beeindruckender; zudem könne Helmholtz die philosophische Einleitung wieder aufleben lassen, die er in der Versenkung hatte verschwinden lassen, »worin sich doch viele herrliche Dinge sagen lassen«, und er werde mit ihr mehr Leser finden. Der allwissende du Bois-Reymond empfahl Georg Ernst Reimer, einen sehr bekannten Berliner Verleger mit liberaler politischer Haltung, der bereits Bücher von ihm, Brücke und anderen Bekannten Helmholtz’ verlegt hatte, ebenso wie Schriften der Akademie und die Fortschritte der Physikalischen Gesellschaft. Am Ende tadelte er Helmholtz und belehrte ihn, dass er diese Zurückweisung durch Poggendorff ganz hätte vermeiden können, wenn er mehr Zeit in Berlin verbracht und sich regelmäßig mit ihm getroffen hätte. Was du Bois-Reymond damit faktisch zum Ausdruck brachte, war: Es reichte nicht aus, gute wissenschaftliche Arbeit zu leisten; man musste sich daneben auch noch vernetzen. Dies war genau die Art von Dingen, bei denen der Politikaster du Bois-Reymond glänzte und die Helmholtz noch lernen musste. Doch weder seine Lebensumstände noch seine Persönlichkeit hätten es ihm erlaubt, in Berlin viel mit Poggendorff zu verkehren. Seine wissenschaftliche Arbeit war zudem etwas, was Helmholtz alleine betrieb und nicht viel mit anderen besprach. Darüber hinaus mag auch seine geographische und gesellschaftliche Distanz zur Berliner Physikergemeinde seine intellektuelle Unabhängigkeit gestärkt und ihn dazu ermutigt haben, große Themen wie die Krafterhaltung anzugehen. Nun aber zeigte er sich aufgeschlossen für du Bois-Reymonds Unterstützung und stimmte zu, dass er seine Abhandlung als Monographie veröffentlichen sollte. Die einzige Änderung, die er vornahm, bestand darin, tatsächlich die Einleitung wieder aufleben zu lassen. Er schätzte du Bois-Reymonds Rat und bezeichnete sich selbst als »einen jungen Anfänger«. Zugleich wies er die von Poggendorff angeführten Gründe für die Ablehnung seiner Abhandlung zurück, indem er darauf hinwies, dass dieser sehr wohl bereits sowohl lange wie auch theoretische Arbeiten publiziert hatte.42

Helmholtz schickte sein Manuskript an Reimer und fragte an, ob er es veröffentlichen würde. Den Zweck der Abhandlung beschrieb er dahingehend, dass sie ein allgemeines, fundamentales Gesetz der Mechanik zur Verfügung stelle, das alle Teilgebiete der Physik betraf. Er behauptete, dass sie bisher sehr gut aufgenommen worden sei und von allgemeinem Interesse sei, ließ Magnus’, du Bois-Reymonds und Brückes Namen fallen und sprach von deren Bereitschaft, die Veröffentlichung seiner Arbeit zu unterstützen. Ihre Parteilichkeit sowie Poggendorffs Ablehnung überging sein Werbevortrag geflissentlich. Helmholtz erklärte zudem, dass Müller die wissenschaftliche Qualität seiner bisherigen Arbeiten bezeugen könne, die er aufgelistet hatte. Reimer bot rasch an, das Manuskript zu veröffentlichen, und Helmholtz erklärte sich ebenso rasch einverstanden. Allem Anschein nach wurde es nicht unabhängig begutachtet; tatsächlich hatte du Bois-Reymond im Namen von Helmholtz interveniert. In wenigen Wochen war es erschienen (am 3. November 1847).43

Anfang September, als die Veröffentlichung des Manuskripts endlich gesichert war, gaben Hermann und Olga öffentlich ihre Verlobung bekannt. Er fühlte nun, so Helmholtz, dass er »in einer ganz neuen Welt von Vorstellungen verkehrte«, die nur noch wenig mit der vorherigen zu tun hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt sei ihm nicht klar gewesen, welchen Unterschied diese Bekanntmachung nicht nur für ihr »Verhältniß gegen andere Leute«, sondern auch für sie selbst machen würde. Wenn sie gemeinsam spazieren gingen, fühlte sie sich wie seine Braut, und er wurde ihr »Schützer«. Helmholtz spürte eine »Wonne«, die er noch nie zuvor »so lebendig« empfunden hatte. Am Tag der Bekanntmachung schloss er die Fahnenkorrektur von Über die Erhaltung der Kraft ab und fing an, seine Forschung über die Erwärmung von Froschmuskeln auszuarbeiten, »um so mit meinen Producten den litterarischen Markt zu überschwemmen«, wie er sich, über sich selbst spottend, aber dennoch höchst aufschlussreich seiner Verlobten gegenüber äußerte. Er verkehrte mit den Puhlmanns und begann, Hahn-Hahns Cecil zu lesen. Alle in Potsdam gratulierten dem jungen Paar zur Verlobung. Die Puhlmanns luden sie ein, das kommende Wochenende bei ihnen zu verbringen, was bedeutete, dass sie zusammen sein konnten. Er las August von Kotzebues bekannte Komödie Die Indianer in England, in der es um ein Hochzeitsvorhaben und seine Verschiebung geht, gab die Lektüre allerdings auf: »[D]iese ewigen bloßen Liebesinteressen, meist ziemlich verdrehter Art, langweilen mich jetzt, wo ich es selber besser weiß, viel mehr als früher.« Er vermisste Olgas Stimme und wartete ungeduldig darauf, wieder mit ihr singen zu können.44 Klang in all seinen Erscheinungsformen war ihm immer wichtig.

In den folgenden vier Jahren wurde Helmholtz’ Abhandlung von der Physiker- und Physiologengemeinde praktisch ignoriert. Die Veröffentlichung war (anfänglich) ein wissenschaftlicher Blindgänger. Helmholtz fand wenig bis keine Fürsprache, und Clausius war regelrecht feindselig eingestellt. In deutschen Landen waren seine Kollegen aus der organischen Physik, einige Mitglieder der Physikalischen Gesellschaft sowie Jacobi die Einzigen, die seinen Standpunkt akzeptierten oder sein Prinzip der Krafterhaltung als interessant oder sogar wegweisend ansahen. Du Bois-Reymond, dem damals sein erster Erfolg beim Nachweis von Signalen in Nervenströmen (negative Schwankungen) gelang, berichtete Ludwig, dass Helmholtz’ Abhandlung »gar nicht genug gelobt werden kann«. Ludwig beklagte sich jedoch, dass er die Schrift über seinen Marburger Buchhändler nicht beziehen konnte, und selbst wenn er sie hätte bekommen können, fürchtete er, sie würde ihm zu schwierig sein. Tatsächlich vermochten nur wenige zeitgenössische Physiologen ihrem Gedankengang zu folgen – zu viel Physik und Mathematik –, und vielleicht noch weniger davon betrachteten sie für ihre Arbeit als relevant. Einer der wenigen deutschen Leser von Helmholtz’ war Mayer, der seine Theorie als »[g]anz dieselbe« wie seine eigene einstufte. Wenigstens Helmholtz’ militärische Vorgesetzten waren von seiner Abhandlung beeindruckt – oder zumindest lobten sie, wie du Bois-Reymond berichtete, die praktische Natur seines Werks, weil sie es tatsächlich geschafft hatten, seinen Begriff der physikalischen Kraft mit ihrem von militärischer Stärke zu verwechseln! In Frankreich blieb sein Werk bis in die späten 1860er-Jahre weitgehend unbekannt, und auch in Großbritannien war es zunächst unbekannt oder wurde ignoriert, obwohl in den Jahren 1851/52 eine Gruppe britischer Physiker das Potenzial seines Prinzips zu würdigen begann. Zunächst einmal aber war das, was er im Jahr 1847 bekam, nicht Anerkennung, sondern Heuschnupfen, vielleicht eine Folge von all dem Stress, den Überarbeitung und persönliche Sorgen ihm bereitet hatten. In den folgenden 21 Jahren litt er in jedem Frühjahr daran.45

Assistent, Dozent und Aspirant auf mehr

Während Helmholtz an seiner Abhandlung über die Krafterhaltung schrieb, arbeitete er auch experimentell und entwarf einen Artikel, der dem Verständnis der Wärmebildung in den Muskeln dienen sollte. Seine diesbezüglichen Forschungsbemühungen – die sich teilweise du Bois-Reymonds Erforschung der tierischen Elektrizität verdanken – haben sein Verständnis für den und seine Fähigkeiten im Umgang mit empfindlichen thermoelektrischen Apparaten und Verstärkern (zur Erkennung geringer Stromdifferenzen) sowie den damit verbundenen Präzisionsmesstechniken und der Fehleranalyse erheblich verbessert. Er legte großen Wert auf die Qualität seines Instrumentenbestands und auf die Standards für Präzision und Genauigkeit und verhalf damit der experimentellen Physiologie dazu, sich den anspruchsvolleren Standards der Experimentalphysik anzunähern. Erneut verwendete er für seine Experimente Frösche, dieses Mal, um Daten über die Wärmebildung in den Muskeln (und Nerven) zu gewinnen. Und auch wenn sein Artikel sich ausführlich der strikten Methodologie und nur relativ knapp den abschließenden numerischen Resultaten widmete, so zeigte er doch, dass Muskeln, sobald sie Arbeit verrichteten, auch Wärme hervorbrachten, und kam zu dem Schluss, dass bezüglich der Wärmebildung die Unterschiede zwischen Muskeln und Nerven verschwindend gering waren. Schon am 12. November 1847, zwei Wochen nach Erscheinen seiner Abhandlung über die Krafterhaltung, hielt er erneut einen Vortrag vor der Physikalischen Gesellschaft, dieses Mal über seine Befunde in Bezug auf die Wärmebildung in Froschmuskeln. Seine Ergebnisse erschienen im folgenden Jahr in gedruckter Form, wiederum in Müllers Archiv.46

Für Helmholtz begann jetzt ein beruflicher Umbruch. Brücke sollte die außerordentliche Professur für Physiologie und Pathologie an der Universität Königsberg angeboten werden, was bedeutete, dass er seine Positionen als Assistent Müllers am Anatomischen Museum und als Dozent an der Akademie der Künste aufgeben würde. Mitte Dezember traf Helmholtz mit Johannes Schulze zusammen, dem Beauftragten für das Bildungswesen (Gymnasien und Universitäten) im preußischen Kultusministerium (offiziell »Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten«), und brachte ihm gegenüber seine Hoffnung zum Ausdruck, Brückes Nachfolger in Berlin zu werden. Du Bois-Reymond teilte Ludwig mit, dass Helmholtz nach Ostern dorthin gehen könnte. Letzterer war hoffnungsvoll: »Der Sinn für Luxus fängt an mächtig in mir emporzuwachsen«, wie er Olga im Spaß mitteilte, »seitdem die Hoffnungen auf eine baldige bessere Wendung meiner Laufbahn größere Anhaltspuncte gewonnen haben«.47

Weihnachten verbrachten Helmholtz und Olga mit deren Familie in Dahlem. Helmholtz’ künftige Schwägerin beschrieb ihn zunächst als »sehr ernst und nach innerlich, etwas ungewandt und beengt unter zum Theil lebhaft aufgeregten und weltkundigen jungen Männern«. Doch bald schon hatte er sich bei den von Veltens und Puhlmanns gut eingelebt und wurde sogar zum Mittelpunkt ihres Haushalts, in dem die Musik stets eine wichtige Rolle spielte. Unter seiner Anleitung lernte Olgas Familie Beethoven und Shakespeare lieben. Sie lasen gemeinsam Bücher laut vor, wobei jeder den Part einer anderen Figur übernahm. (Helmholtz las besonders gut und bevorzugte komödiantische Parts.) Olga sagte er, dass seine Sinnesorgane und seine Seele von ihr abhängig geworden seien, und als sie ihn einmal nicht zu einer Sinfonie begleiten konnte, wie sie es geplant hatten, beklagte er sich über mangelnde Hörfähigkeiten: Es sei, als wäre er bisher nur über ihre Seele zu einem Verständnis der musikalischen Harmonien gekommen – jetzt aber hätten zwar seine Ohren die Töne vernommen, seine Seele aber rein gar nichts gehört. Helmholtz hörte Mozart und fühlte sich einsam; immerhin vermochte ihn Beethovens Coriolan-Ouvertüre, die er für ein unübertroffenes Meisterwerk hielt, aufzuheitern.48 Die von Veltens und Puhlmanns wurden zu seiner neuen, erweiterten Familie.

Während er noch darauf wartete, dass die Entscheidung über eine mögliche Anstellung in Berlin fiel, nahmen die Revolutionsereignisse von 1848 ihren Anfang. Die Berliner Revolution begann Mitte März und dauerte bis Anfang Dezember, und Berlin erlebte schwere Straßenkämpfe und Tumulte. Der preußische Thron und der Staatsapparat wurden zwar in ihren Grundfesten erschüttert, aber nicht gestürzt. Der Monarch und seine Truppen zogen nach Potsdam ab, das sich zwar selbst in einer instabilen politischen Lage befand, aber seiner quietistischen und konservativen Tradition letztlich treu blieb und zur Heimat der konterrevolutionären Kräfte wurde. Im September war Helmholtz’ Regiment an der Reihe, die Menschenmengen unter Kontrolle zu halten. Einige Revolutionäre versuchten zwar, die Einheit zum Überlaufen zu überreden, doch dem leistete niemand Folge.49

Auch Helmholtz tat es nicht. Anders als viele junge Wissenschaftler in Berlin (du Bois-Reymond, Beetz, Heintz, Wiedemann, Kirchhoff, Halske, Clausius, Knoblauch und Remak) unterzeichnete er eine von der Physikalischen Gesellschaft initiierte Petition, die eine größere Offenheit der Akademie der Wissenschaften gegenüber Nichtmitgliedern forderte, nicht. (Die Akademie wies die Petition ab.) Zudem erlebte er mit, wie sein Vater im März jenes Jahres wegen Insubordination einen Tadel erhielt und seine Stellung zu verlieren drohte. Helmholtz begriff, dass das Unterzeichnen von Petitionen und ähnliche Formen zaghafter politischer Betätigung ihm kaum dabei helfen würden, die angestrebten Stellungen zu erhalten, zumal sein früherer Lehrer und akademischer Förderer Müller ein überzeugter Antirevolutionär war. Etwaige oppositionelle Aktivitäten, die Müller zu Ohren gekommen wären, hätten Helmholtz’ Ansehen bei ihm leicht beschädigen können. Anders als Virchow war Helmholtz jedenfalls kein Revolutionär oder radikaler Demokrat. Ludwig hielt ihn für ein unbeirrbares Mitglied der liberalen Partei – ein Punkt, der eher im intellektuellen denn im politischen Sinne zu verstehen war. Helmholtz blieb dem Hohenzollern-Regime und den preußischen Institutionen jedenfalls über die gesamte revolutionäre Periode hinweg treu. Das Höchste, was er sich an politischen Bemerkungen in jenem Revolutionsjahr leistete, war eine Olga gegenüber gemachte Aussage, er lese Johann Wirths Geschichte der Deutschen (1842 – 1845), »ein höchst interessantes Werk« eines radikalen liberalen Journalisten und Republikaners. Zwar zeigte er sich von der konstitutionellen Grundordnung der alten Germanen beeindruckt, blieb ihr gegenüber aber kritisch, da fast alle von ihnen in Tyrannei gelebt hätten. Seine (wenigen) erhaltenen Briefe an Olga aus jenem Jahr sind voll von amourösen Bezeichnungen für sie. Was ihn umtrieb, war der Klang ihrer Stimme und nicht das politische System Preußens oder dessen Gegner. Abgesehen von seiner Liebe sprach er vor allem über solche Dinge wie nachmittägliche Spaziergänge durch Sanssouci und die Lektüre von Charles Dickens’ Martin Chuzzlewit »bei schönster Sonnenuntergangsbeleuchtung« auf seinem Dach nahe der Havel, nicht aber über Politik. Mit seinen sehr feinen Sinnen stand er oft in Sanssouci an einem Springbrunnen mit Wasser speienden Fröschen und lauschte »dem Geplätscher und Geriesel«. Im Geplätscher des Brunnens vernahm er Melodien, wo seine Freunde keine hören konnten. Er befasste sich mit seinem Myographen und der Behandlung von Patienten (nicht immer erfolgreich – ein Patient starb, und zu seiner Schande hatte er ihn mit einem Geschwisterkind verwechselt).50 Wie es das früheste bekannte Porträt von Helmholtz (aus dem März 1848) zeigt, war er ein eleganter junger Mann, der viel Wert auf seine Kleidung legte – dem Aussehen nach ganz Bürger der Mittelklasse, Arzt und Armeeoffizier, kein Revolutionär (vgl. Abb. 4.4). Er hielt sich auf der Seite der konservativen Kräfte.

Abb. 4.4:Helmholtz im Jahr 1848. Aus dem Nachlass von Emil du Bois-Reymond. Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

Im Juni jenes Jahres bot Müller ihm die Stelle als sein Assistent im Museum an. Dem Ministerium gegenüber lobte er ihn sehr und unterstützte ihn, wie auch schon in der Vergangenheit, aufs Wärmste. Weil die Stellung schlecht bezahlt war (200 Taler im Jahr), benötigte Helmholtz allerdings noch eine weitere Position, als Dozent für Anatomie an der Akademie der Künste, die mit 400 Talern jährlich zu Buche schlagen würde. Ende Juli wurde eine Probevorlesung an der Akademie angesetzt. Obwohl nämlich das Ministerium keine Zweifel an der wissenschaftlichen Kompetenz von Helmholtz hatte, nachdem sich Müller für seine gründliche Kenntnis der Anatomie sowie seine sonstige Eignung für die Lehrtätigkeit verbürgt hatte, wollte es doch sichergehen, dass Helmholtz Kunststudenten auch tatsächlich unterrichten konnte.51 Die Vorlesung fand am 19. August vor dem Senat und der Fakultät der Akademie in ihrem Gebäude Unter den Linden statt, im Herzen Berlins und inmitten der Revolution.

Helmholtz’ Vortrag befasste sich mit der Vorgehensweie, die ein Anatomielehrer bei der Unterrichtung von Kunststudenten wählen sollte. Seiner Meinung nach bestand die vielleicht größte Herausforderung dabei darin, die vielen trockenen Fakten der Anatomie in ein »lebendige[s] Bil[d]« zu verwandeln, das den Künstlern nützlich sei. Anders als beim Anatomieunterricht für Medizinstudenten, die auf exakte anatomische Details angewiesen seien, benötigten Kunststudenten »Anschaulichkeit« und einen Sinn für bestimmte Muskelpartien und deren Verhältnis zu anderen Bestandteilen der Anatomie.52

Wie, so fragte er, kann die Anatomie dem Künstler also helfen, und warum ist sie notwendig? Die antiken griechischen Künstler und andere hätten schließlich hervorragende künstlerische Arbeit geleistet, obwohl sie nur begrenzte und in einigen Fällen sogar falsche anatomische Kenntnisse hatten. Als Belege für offensichtlich fehlerhafte Muskeldarstellungen führte er den Germanicus des jüngeren Kleomenes und den schießenden Apollo im Berliner Museum an. Doch der kreative Künstler sei, wie er behauptete, viel eher mit »dem Sinn für das ideal Schöne« als mit isolierten anatomischen Details beschäftigt:

Aber der Genius des Künstlers ist eben die geheimnissvolle Kraft in ursprünglicher Anschauung und ohne berechnende Reflexion das zu finden und darzustellen, was die nachgrübelnde Reflexion dann auch als das wahre und vollkommene anerkennen und rechtfertigen muss. Und so gewiss das Gemüth des empfänglichen Beschauers desto höher angeregt wird, je reicher und je wahrer der schaffende Künstler den idealen Inhalt seines Werks aufzufassen und wiederzugeben gewusst hat, ebenso sicher wird es auch jeden Mangel in dieser Hinsicht als eine Beeinträchtigung des Lebens und der Schönheit der Gestalt empfinden, selbst wenn es nicht angeben kann, wo der Fehler liege, und welches seine Ursache sei.

Helmholtz glaubte daher, dass selbst die großen Künstler der Antike, trotz ihres Sinns für Schönheit und Wahrheit, von besseren anatomischen Kenntnissen hätten profitieren können.53

Anatomieunterricht für moderne Künstler reduzierte sich für ihn auf die Frage, wie die Kenntnis der inneren Struktur des Körpers ihnen dabei helfen könne, über die mittels Modellstudium erworbene Kenntnis seiner äußeren Oberfläche hinauszugelangen. Dies könne auf drei Weisen geschehen. Erstens trage die anatomische Unterweisung zum Verständnis des Künstlers für die Anordnung der einzelnen Körperteile bei, indem sie ihm, wenn er kein Modell zur Verfügung habe, »einen anatomischen Mechanismus« zur Verfügung stelle. Zweitens lehre sie ihn, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden: Der Künstler solle nicht danach streben, lediglich ein Imitator des realen menschlichen Körpers mit all seinen Mängeln zu sein; vielmehr müsse er dessen »geistigen Inhalt« aufspüren und zum Ausdruck bringen. Und schließlich könne anatomisches Wissen dem Künstler dabei helfen, den Körper in Bewegung darzustellen – etwas, das statische Modelle nie zu leisten vermochten –, indem der Künstler etwa erfuhr, wie Muskeln aussahen, wenn der Körper in Bewegung war.54

Dennoch warnte Helmholtz, dass ein Unterricht in Anatomie, wie überhaupt jede Unterweisung in den Künsten, »nie die Anschauung dieser Formen und den künstlerischen Schönheitssinn« ersetzen könne. Er sei vielmehr »ein Mittel, welches dem Künstler die geistige Besiegung der ewig wechselnden Mannigfaltigkeit seines irdischen Objects, der menschlichen Form, erleichtern, welches ihm den Blick für das Wesentliche der Gestalt schärfen, ihm die ganze Gestalt gleichsam durchsichtig machen, und ihn daneben mit den Hülfsmitteln prüfender Kritik für das geschaffene Werk ausrüsten soll. […] der künstlerische Geist zeigt sich erst in der weisen Anwendung der Formen, deren Zusammenhang und einfache Grundzüge die Anatomie gelehrt hat, in der unterscheidenden Characteristik der Gestalt.« Sogar große Künstler wie Michelangelo, die die Anatomie auf pompöse Weise einsetzten, schufen seiner Meinung nach am Ende »unangenehm[e] und wahrheitswidrig[e]« Figuren; umgekehrt brächten diejenigen, die die anatomischen Wahrheiten vernachlässigten, »leblose oder verzerrte Gestalten« hervor.55

Die Quintessenz einer Anatomievorlesung für Kunststudenten bestehe, so schloss Helmholtz, darin, einen Sinn für die »lebendige unverletzte Form« zu vermitteln; der Student könne dieses Ideal dann später mit dem lebenden Modell ebenso wie mit künstlerischen Arbeiten abgleichen. Da Anatomie für Kunststudenten nur jene Körperpartien betreffe, die die äußere Form beeinflussten, müsse sie Lektionen über Knochen und von außen sichtbare Knorpel, Gelenke und Bänder (um zu einem Verständnis für die Darstellung von Bewegung zu gelangen) sowie Muskeltheorie umfassen.56

Die Prüfer gewannen den Eindruck, dass der Kandidat über eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung in Anatomie verfüge. Seine Lehrfähigkeit fanden sie zufriedenstellend und gingen davon aus, dass sie mit zunehmender Erfahrung reifen würde; ganz offensichtlich hielten sie ihn für einen nur mäßig begabten Dozenten. (Helmholtz gestand später, dass seine Hände vor seiner ersten Vorlesung als »junger Militärarzt« gezittert hatten.) Er bekam die Stelle.57

Um seine Berufungsverfahren abzuschließen, musste Preußen ihn von seinen medizinischen Pflichten bei der Armee entbinden. Dies war keine Routineangelegenheit, und es brauchte niemand Geringeren als Humboldt, den Doyen der preußischen Wissenschaft, um dies zu bewerkstelligen. Humboldt war tatsächlich eine Art wissenschaftlicher Headhunter. Als Forscher mit breitem Erfahrungsschatz und internationalem Ansehen, als wissenschaftlicher Chefberater des Königs, Mitglied des preußischen Staatsrats und Berater des Kultusministers war er die politisch einflussreichste Figur im preußischen Wissenschaftsapparat und tat besonders in Berlin, aber auch allgemein in Preußen viel für die Förderung der Wissenschaft. Zudem zählte er zu den Protagonisten des deutschen Liberalismus, speziell in Kultur- und Bildungsfragen. Und wie die meisten Wissenschaftler seiner Zeit glaubte Humboldt sowohl an den Wert wissenschaftlicher Forschung um ihrer selbst willen als auch an ihren Nutzen für gesellschaftliche Zwecke.58

Du Bois-Reymond machte Helmholtz mit Humboldt bekannt, der schon lange ein Bewunderer Müllers war und auch mit anderen Lehrern von Helmholtz freundschaftlichen Umgang pflegte. Humboldts Bibliothek enthielt Helmholtz’ Dissertation und auch seine Artikel über Gärung und Fäulnis, den Muskelstoffwechsel, die Wärmeentwicklung in den Muskeln sowie seine Abhandlung über die Krafterhaltung (obgleich er Helmholtz’ Gesetz der Krafterhaltung, das er anscheinend nicht verstand, skeptisch gegenüberstand). Wie viele andere junge Wissenschaftler auch besuchte Helmholtz ihn gelegentlich zu Hause, um ihn um Rat und Hilfe zu bitten. So war es zum Teil Humboldts Intervention zu verdanken, wenn die Armee Helmholtz drei Jahre vor der Zeit (nämlich am 30. September 1848) von seinen Verpflichtungen entband und das Kultusministerium seine neuen Stellungen genehmigte.59 Beide zusammengenommen verschafften ihm ein jährliches Gesamteinkommen von 600 Talern.

Rechnet man seine vier Jahre Medizinstudium, sein Jahr als Unterarzt und seine fünf Jahre als Armeearzt und -chirurg zusammen, so hatte Helmholtz ein Jahrzehnt beim preußischen Militär verbracht, das ihn mit weit mehr als einer handfesten medizinischen Ausbildung versehen hatte: Die Armee verstärkte in ihm die Werte von Ordnung und Disziplin und sein ohnehin schon hohes Pflichtbewusstsein. Helmholtz war Soldat und Patriot, und als er Zivilist wurde, trug er sein staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl in die Welt der Wissenschaft hinein. Seine militärische Karriere steigerte sein gesellschaftliches Ansehen, da er als preußischer (wenn auch »nur« medizinischer) Armeeoffizier der im Europa des 19. Jahrhunderts führenden Militäreinrichtung angehörte, die innerhalb wie außerhalb Preußens hohes Ansehen genoss. Sein langer Militärdienst erhöhte zugleich sein Ansehen bei seinem eigenen Staat, da er seinen Einsatz für Preußen belegte. Nur wenige deutsche Wissenschaftler hatten, wenn überhaupt, so viel vorzuweisen wie er. Und dennoch war er schnell entschlossen, seine Bindung ans Militär zu kappen, wenn es sich, wie jetzt, als vorteilhaft erwies.

Das akademische Jahr 1848/49 verbrachte Helmholtz in Berlin, wo er an der Akademie lehrte, Müller im Museum assistierte und seine Beziehungen zu den Berliner Wissenschaftlern ausbaute. Du Bois-Reymond, Kirchhoff und Siemens wurden seine engsten Freunde, während Müller, Humboldt und Magnus weiterhin als erfahrene Kollegen hinter ihm standen. Clausius und Wiedemann sah er »fast täglich«, da sie im selben Restaurant speisten wie er. Du Bois-Reymond berichtete einem alten Freund, dass Helmholtz den Platz Brückes als sein engster Freund in Berlin eingenommen habe: »[I]n wissenschaftlichem Bezug […] [ist] seine Begabung wahrhaft grenzenlos und seine Kenntnisse haben schwerlich ihres Gleichen, allein er ist nicht wie Brücke, der tief und reich durchlebte Mensch, oder vielleicht auch nur, ich bin nicht mit ihm, wie mit Dir und Brücke, jung gewesen.« Im Mai 1849 traf sich Helmholtz mit Müller, Humboldt und du Bois-Reymond in der Wohnung des Letzteren, um dort ein bahnbrechendes Experiment zu beobachten: Der Gastgeber demonstrierte anhand des Ausschlags einer Galvanometernadel, dass im lebendigen Menschen tetanischer Strom vorhanden war. Helmholtz besuchte du Bois-Reymond oft zu Hause und wurde zu einem ständigen und wichtigen Mitglied der Berliner Wissenschaftsgemeinde, die Benjamin Silliman, ein Chemiker aus Yale, der Humboldt 1851 besuchte, für die »wahrscheinlich beste in Europa« hielt; ihre Vertreter repräsentierten in seinen Augen »das höchste Ergebnis des veredelnden Einflusses der modernen Zivilisation«.60 Helmholtz trug dazu bei, diese Gemeinschaft zu stärken.

Berufung nach Königsberg und Heirat

Seine neuen beruflichen Positionen waren jedoch nur temporär; sie konnten seinen Ehrgeiz und seinen Wunsch nach einem höheren Einkommen zwecks Heirat kaum befriedigen. Letztlich hoffte er auf eine dauerhafte akademische Anstellung. Dies war nicht abwegig, galt er doch für den deutschen Raum als einer der besten jüngeren Physiologen. Ludwig erwähnte Hänle gegenüber, dass die deutsche Physiologie mit jungen Kräften wie du Bois-Reymond, Helmholtz, Brücke, Karl von Vierordt, Ludwig Traube und Eduard Weber, ganz zu schweigen von Liebig und seiner Schule, großes Talent und Potenzial bezeuge. Mit acht unter seinem Namen veröffentlichten Publikationen und seiner wachsenden Reputation war Helmholtz zu einem bedeutenden Mann in der akademischen Physiologie geworden. Ein neuerlicher beruflicher Umbruch bahnte sich dann auch im Dezember 1848 an, als Brücke in Königsberg einen Ruf an die Universität Wien erhielt und du Bois-Reymond, Ludwig und Helmholtz (in dieser Reihenfolge) als seine möglichen Nachfolger in Erwägung zog. Für Helmholtz würde diese Position, wie Brücke annahm, eine wesentliche Verbesserung bedeuten und es ihm ermöglichen, zu heiraten. Gegenüber du Bois-Reymond äußerte er allerdings, dass er im Falle seines Fortgangs nur ihn empfehlen würde, wenn er die Königsberger Stelle denn haben wolle, und wenn nicht, dann nur Ludwig und Helmholtz. In jedem Fall sollte die Stelle einer aus ihrem Dunstkreis bekommen, also ein organischer Physiker. Offiziell vakant wurde sie im späten Frühjahr, und du Bois-Reymond versuchte, sie Ludwig zuzuspielen – da er selbst es vorzog, in Berlin zu bleiben –, doch dann »ruinierte« Müller seiner Ansicht nach alles: Er sagte nicht nur Lobendes über Ludwig, sondern empfahl zugleich auch Helmholtz und (wie er glaubte) Remak. Letzteren hielt du Bois-Reymond zwar nicht für einen echten Konkurrenten, Helmholtz dagegen schon.61

Die Königsberger medizinische Fakultät empfahl hingegen du Bois-Reymond, Helmholtz und Ludwig, und zwar in dieser Reihenfolge. Du Bois-Reymond hielt Helmholtz eigentlich für am besten geeignet, glaubte aber, dass dieser wenig geneigt sei, die Position anzunehmen. Daher schlug er Ludwig vor, nicht ohne dem Ministerium zu versichern, dieser sei kein Radikaler, sondern vielmehr ein konservativer Liberaler. In Wirklichkeit war Ludwig 1848 unverhohlener Demokrat gewesen.62

Müller, der von Helmholtz immer schon sehr beeindruckt gewesen war und ihn sehr gefördert hatte, schrieb dem Minister in der Angelegenheit der besten Kandidaten für die Physiologie, besonders die Experimentalphysiologie, dass die Disziplin enger als zuvor mit der Physik und der Chemie zusammengerückt sei; in der Poleposition sah er daher diejenigen, die beides verstanden: die physikalischen Methoden und die Physiologie. Brücke, du Bois-Reymond, Helmholtz und Ludwig hielt er für »die hoffnungsvollsten jüngern Talente […] in Deutschland«. Da Brücke ja aber von Königsberg nach Wien ging, blieben die anderen drei als potenzielle Kandidaten übrig. Du Bois-Reymonds Arbeit in der Elektrophysiologie mache ihn zwar zum bestqualifizierten Kandidaten, so Müller, jedoch stecke er mitten im Abschluss dieser Arbeit und sei daher noch nicht bereit, Berlin zu verlassen. Helmholtz bezeichnete er dagegen als »eines der bedeutendsten physiologischen Talente« und hegte keinen Zweifel an seiner Lehrqualifikation. Ludwig brachte er eine ebenso hohe Wertschätzung entgegen wie den anderen und erwähnte auch Remak, sagte aber, dass dessen Ansatz nicht der eines physikalischen Physiologen, sondern eher der eines Mikroskopikers und Pathologen sei, und merkte außerdem an, dass Martin Heinrich Rathke in Königsberg eine solche Arbeit bereits geleistet habe. Unterm Strich stellte Müllers Brief den Minister vor die Wahl zwischen Helmholtz und Ludwig.63

Helmholtz’ eindrucksvolle Forschungsergebnisse und seine Publikationsliste gaben den Ausschlg dafür, dass tatsächlich er berufen wurde. Über Müller und dessen Kreis hinaus war er jedoch kaum bekannt; keine seiner Arbeiten bis 1848 hatte einen nennenswerten Einfluss auf die Physiologie oder überhaupt irgendeinen Einfluss auf die Physik gehabt. Die Fürsprache Müllers muss daher aus Sicht des Ministeriums von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Helmholtz’ Militärdienst und seine Nichtteilnahme an der Revolution von 1848 sprachen zweifellos ebenfalls für ihn; im Gegensatz zu Ludwig war er kein politischer Unruhestifter und im Gegensatz zu Remak, der Jude war, gab es keine religiösen Hürden zu nehmen. Ludwig beklagte sich bei Henle bitterlich darüber, dass Helmholtz und Remak ihm vom Ministerium wegen seiner verdächtig demokratischen Ansichten vorgezogen worden seien und dass Müller Helmholtz und Remak bevorzugt habe, weil sie, im Gegensatz zu ihm, Preußen waren. Anfang Juni wurde Helmholtz mit einem Gehalt von rund 800 Talern auf den Posten berufen. Diese Entscheidung machte deutlich, dass die preußischen Bildungsbehörden zu einem Zeitpunkt, als die politische Reaktion eingesetzt hatte, Vertrauen in ihn hatten. Das Ministerium wollte, dass er sofort nach Königsberg reisen und noch im selben Sommersemester mit den Vorlesungen beginnen solle. Doch die Formalitäten machten dies unmöglich. Zum ersten Mal besuchte er Königsberg daher erst im Hochsommer, und es gefiel ihm gut.64

Nach einer fast zweieinhalbjährigen Verlobungszeit konnten es sich Hermann und Olga nun leisten, zu heiraten. Helmholtz lud du Bois-Reymond zur Hochzeit mit den Worten ein: »Ich kann Dich im Guten nicht von der Teilnahme an dieser Feierlichkeit dispensieren, weil ich es zu ungern sehen würde, wenn mein bester Freund an dem freudenreichsten Tage meines Lebens, dem Zielpunkte jahrelanger Bemühungen, keinen Teil haben wollte. Also überwinde Deine Scheu gegen alle Leute, welche nicht Physiologen sind, und komm.« Er bat ihn zudem, ein Buch in der Bibliothek abzuholen und bei Halske einige Magnetstangen zu bestellen. Sein bester Freund war immer auch sein nützliches Faktotum in Berlin. Hermann und Olga heirateten am Sonntag, den 26. August 1849. Er war 28 und sie 23 Jahre alt. Die Zeremonie fand in der malerischen Dorfkirche Sankt Annen auf dem Dahlemer Landgut von Betty und Emil Puhlmann statt, »unter den alten Bäumen«, bei Sonnenschein und mit Blumenschmuck, im Kreise der Familien und Freunde des Brautpaares, »alle erfüllt von der Sicherheit dieses Glückes«. Doch selbst hier waren Wissenschaft und Technik nicht völlig fern, denn die Kirche diente auch als eine von 61 Stationen – sie war die Nummer 4, bekannt als »Telegraphenberg« – des preußischen optischen (später elektromagnetischen) Telegraphen zwischen Berlin und Koblenz. Unmittelbar nach der Hochzeit reiste das Brautpaar nach Königsberg.65 Jetzt gehörte er ganz seiner Olga und der Wissenschaft.

Helmholtz

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