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ОглавлениеPeter Heiniger
Zwanzig Zentimeter
Man sieht sie jetzt öfter, wie sie bedächtig über Weiden schreiten, in der Hand ein Pendel haltend oder eine Wünschelrute. Zuweilen halten sie kurz inne, als würden sie auf etwas lauschen. Prüfen, ob das Pendel ausschlägt, dann gehen sie weiter. Wasserschmöcker. Hinter ihnen drein trottet ein Bauer oder sonst ein Landbesitzer, vielleicht noch der Hund oder ein Kind.
Im Blick des Bauern schwingen Sorge und Hoffnung. Seine Aufmerksamkeit gilt ganz dem Pendel, als wolle er es beschwören, es möge doch zu schwingen beginnen, zumindest eine Regung zeigen. Nach einer Weile steckt der andere das Pendel in den Hosensack und schüttelt den Kopf. Kein Wasser. Oder zumindest nicht genug, dass es sich lohnen würde, einen Graben in die Landschaft zu reißen. Er lässt den Blick über die Weide gleiten. »Dort drüben können wir es noch versuchen.«
Ein wenig oberhalb einer unscheinbaren Senke schlägt das Pendel aus und der Wasserschmöcker sagt: »Hier kannst du es probieren.« Kurz hellt sich die sorgenschwere Miene des Bauern auf. Gleich darauf verfinstert sie sich wieder. Und hinter der gerunzelten Stirn beginnt er zu rechnen: Arbeitsstunden, Baggermiete, Leitungen … »Und wie viel können wir gewinnen? Reicht es, um unseren Brunnen wieder zum Laufen zu bringen?« Früher führte der ordentlich Wasser, mehr als genug. Jetzt ist er zu einem stricknadeldünnen Rinnsal verkümmert.* »Ich kann dir nichts versprechen. Das Wetter macht ein anderer. Und wenn es noch einmal einen solchen Sommer gibt … Die nächste Wüste, heißt es, liegt nicht in Afrika. Sie liegt zwanzig Zentimeter unter unseren Füßen.« Der andere lüftet den Hut und kratzt sich am Hinterkopf. Daheim gibt’s Kaffee mit Schnaps. Beim Verabschieden wünscht man sich einen guten, aber nicht allzu trockenen Sommer.
»Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas und das Wasserschloss der Schweiz ist unser Napfgebiet.« So erklärte es uns der Lehrer in der Schule, nicht ohne Stolz, beinahe, als wäre es sein Verdienst. »Wie ein Schwamm kann unsere Landschaft aufgrund ihres porösen Untergrundes das Wasser speichern und damit unsere Brunnen speisen.« Aus seiner Rede schlossen wir, dies habe ewige Gültigkeit, wie ein Naturgesetz. Es war Winter, die Ölheizung lief auf Hochtouren, die Luft im Klassenzimmer war furztrocken. Eine Kreidestaubwolke stob auf, als der Lehrer den Tafelschwamm ergriff. Er nässte den Schwamm am Brünnchen, dann putzte er die Tafel. Als Nächstes hatten wir Grammatik.
Audiolink: https://satyr-verlag.de/audio/PFF_Heiniger.mp3
* Der Begriff »Brunnen« hat hier eine andere Bedeutung als im Hochdeutschen: Im quellenreichen Emmental werden Quellen üblicherweise gefasst und mittels unterirdischer Leitungen zu den Bauernhäusern geleitet, wo das Wasser über eine Röhre beständig in einen Trog fließt. Dieser Trog mit der wasserführenden Röhre wird »Brunnen« genannt. Fällt eine Quelle trocken, sucht man eine neue, leitet sie zum Brunnen und bringt diesen somit wieder zum Laufen. [Anm. d. Verlags]