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Editorial

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Wir schreiben das Jahr 2020. Viele haben es noch nicht verstanden – oder wieder vergessen –, aber wir befinden uns in einer entscheidenden Phase unserer Geschichte. Wir haben, wenn wir Glück haben, noch ein paar Jahre Zeit, um die Kontrolle über das System Erde zurückzugewinnen, um den klimatischen Kollaps und ein Massenaussterben zu verhindern.

Danach können wir nur noch zusehen, wie sich die Erde immer weiter erhitzt und ein Ökosystem nach dem anderen zusammenbricht. Dann können wir noch versuchen, die Schäden zu begrenzen und die Konflikte zu schlichten, die über knapper werdende Ressourcen und bewohnbaren Lebensraum ausbrechen.

Zugleich kämpfen Menschen weltweit schon heute mit Wasserknappheit, extremer Hitze, Krankheiten und Naturkatastrophen, deren Häufigkeit und Intensität auf den Klimawandel zurückgeführt werden können.

Zugleich ist das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten*, das sich aktuell 1.000- bis 10.000-mal schneller vollzieht als im historischen Durchschnitt, kein bloßes Verschwinden. Auch dieser Prozess ist von Leid und Schmerz durchzogen.

Und jetzt stellt auch noch eine Pandemie die weltweiten Gesundheits- und Sozialsysteme auf eine harte Probe (und nicht nur diese) und dominiert die Schlagzeilen. Es ist dabei gleichermaßen verständlich und gefährlich, über diese Entwicklung die Erhaltung unserer planetaren Lebensgrundlagen als politisches Ziel aus den Augen zu verlieren.

Andersherum sollte die Dringlichkeit von umweltpolitischen Fragen auch nie dazu dienen, die Wichtigkeit anderer politischer Kämpfe (wie die aktuelle Black-Lives-Matter-Bewegung – um nur ein Beispiel zu nennen) infrage zu stellen. Ich glaube, dass es in diesen Fragen kein »Entweder- oder« geben kann.**

Wenn ich mir diese biophysikalische und politische Realität in ihrer Gesamtheit vor Augen führe, fällt es mir oft schwer, eine positive Perspektive darauf einzunehmen. Ich zwinge mich dann meistens zum Optimismus. Weil ich weiß, dass wir Optimismus brauchen, um weiterzumachen.

Auch bei der Durchsicht der Texte für diese Anthologie fiel mir auf, dass die dystopischen Visionen überwiegen und positive Zukunftsentwürfe selten sind. Ich glaube, dass es ein grundlegendes Problem dieser Debatte darstellt, dass oft davon gesprochen wird, dass es so nicht weitergehen kann – ohne zu sagen, wie es weitergehen soll. Von dieser Schwierigkeit spreche ich mich selbst nicht frei.

Ich glaube aber gleichzeitig, dass die literarische Beschäftigung mit den negativen Gefühlen, die unsere unsichere Zukunft in uns auslöst, sehr wertvoll ist und konstruktiv sein kann. Wir brauchen einen (Resonanz-)Raum für die Angst, die Trauer und die Wut auf unser zerstörerisches System.

Es hat mich bestärkt zu sehen, wie viele der von mir erreichten Autor*innen (hauptsächlich aus der Poetry-Slam- und der Lyrikszene***) sich mit diesen extrem wichtigen Themen beschäftigen, und mit was für großartigen Ergebnissen. Das ist für mich ein Teil einer positiven Perspektive auf die Zukunft: Ich möchte in einer Welt leben, in der weiterhin solche Texte geschrieben und gelesen werden können, überall auf dem Globus.

Es hat mir immense Freude bereitet, alle diese Stimmen zu entdecken – und ich habe mich dadurch auch weniger allein gefühlt. Hier liegt für mich ein weiterer Grundstein einer optimistischen Perspektive: Wir sind schon so viele. Es gibt ein großes Potenzial und eine große Bereitschaft, den enormen Herausforderungen unserer Zeit mutig und kreativ zu begegnen.

Um noch eine Frage zu beantworten, die immer im Hintergrund steht, wenn es um Politik und Literatur geht: Ja, ich bin überzeugt, dass Literatur im Allgemeinen, und diese Sammlung von Texten im Speziellen, eine Antwort auf politische Probleme solcher Größenordnungen darstellen kann und muss.

Ich glaube nicht, dass sie damit allein bleiben darf.

Es wird noch mehr Proteste brauchen, noch mehr anstrengende Gespräche, Forschung und die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Forschung. Wir brauchen mutige Politiker*innen, die sich gegen schädliche Traditionen, Nationalismus und die Macht von Konzernen und Lobbyverbänden stellen, und mutige Menschen, die den notwendigen Wandel auf allen Ebenen unserer Gesellschaft vorantreiben und mittragen.

Ich hoffe, mit dieser Anthologie einen winzigen Beitrag zu diesem Wandel zu leisten.

Viel Freude allen, die darin lesen – und viel Kraft.

Bis übermorgen.

Samuel J. Kramer Offenbach, Juni 2020

* Dieses Aussterben ist nicht allein auf den Klimawandel zurückzuführen. Eine große Rolle spielen auch die Zerstörung von Lebensräumen, menschliche Flächennutzung, Umweltgifte, Jagd, Wilderei und die Verbreitung invasiver Arten. Das Artensterben ist für sich allein ein gewaltiges Problem, das eigener Lösungen bedarf – und eigener (medialer) Aufmerksamkeit.

** Zumal es sich lohnt, die Zusammenhänge dieser Themen politisch in den Blick zu nehmen.

*** Für mich, der ich so gern in beiden dieser Welten zu Hause sein will, war es auch eine schöne und bestätigende Erfahrung, dass alle angefragten Personen dem Projekt gegenüber so offen reagiert haben. Ich habe mir aufgrund dieser doppelten Wahlheimat erlaubt, dem Buch einen Bonustext hinzuzufügen.

Poetry for Future

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