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6 ISIS

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Ich muss die Beste sein. Besser als die anderen, schneller verstehen, immer als Erste fertig sein. Das schulde ich meinen Eltern und allen Kindern der Water-Zone, die nie in die Schule gehen werden.

Ein neuer Schultag beginnt. Ich habe das Gefühl, dass mein Magen brüllt, so einen Hunger habe ich, aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich sehne das Mittagessen herbei. Wie vielen Schülern aus den Wasserquartieren es wohl so geht? Ich blicke zu den Unantastbaren hinüber. An ihren runden Wangen und entspannten Gesichtern ist gut zu erkennen, dass sie meine Sorgen nicht teilen. Plötzlich merke ich, dass Orion mich ansieht. Er lächelt. Ich drehe mich um, überzeugt, dass jemand – Flynn zum Beispiel – hinter meinem Rücken Mätzchen macht. Aber Flynn folgt aufmerksam dem Unterricht. Unwillkürlich will ich Orions schüchternes Lächeln erwidern, doch im letzten Moment halte ich mich zurück.

Was ist denn plötzlich los? Ich werde mich doch nicht mit dem Feind verbünden.

Ich kann mir Flynns Gesicht vorstellen, wenn er mich dabei erwischt, wie ich einen Unantastbaren anlächle. Er würde mir glatt die Augen auskratzen. Aber Orion Parkers Verhalten verwirrt mich. Führt er irgendwas im Schilde? Bei den Unantastbaren muss man auf alles gefasst sein. Das ist die Regel. Ich denke an das harte Leben meines Vaters, an unsere kargen Mahlzeiten, unsere zusammengeflickte Behausung. Das alles ist die Schuld von Menschen wie Orion. Menschen, die uns ausnutzen, um sich ihr kleines Paradies zu bewahren. Ich habe keine Lust mehr zu lächeln. Mein Wutspeicher ist plötzlich wieder randvoll. Darüber vergesse ich fast, wie hungrig ich bin. Die Stimme des Lehrers tritt in den Hintergrund. Dabei ist es gar nicht meine Art, dem Unterricht nicht zu folgen. Ich muss mich wieder konzentrieren.

Der Lehrer ist eine Vertretung, da Ms. Glayer krank ist. Ich hätte nie gedacht, dass diese große, starke Frau, die aussieht wie aus Stein gemeißelt, überhaupt krank werden kann. Der Vertretungslehrer ist schon seit zwei Tagen da. Er heißt Van Duick. Komischer Name. Gut, auch nicht schlimmer als Immaculée-Sissy. Er ist klein, noch ziemlich jung und spielt beim Reden die ganze Zeit an seinen Hemdknöpfen herum. Scheint eine Art Tick zu sein. Am Anfang fand ich es ziemlich nervig, aber ich habe mich daran gewöhnt. Er hat sehr kurze Haare, beinahe kahl rasiert, und ein freundliches Gesicht mit durchdringenden Augen. Wenn er mich ansieht, habe ich das Gefühl, er könnte Gedanken lesen. Und schon dreht er sich zu mir. Ich spüre, dass meine Wangen heiß werden, und halte die Luft an. Hat er erraten, dass ich gerade über ihn nachgedacht habe?

»Miss Mukeba, herzlichen Glückwunsch!«, sagt Van Duick. »Sie haben in Ihrem Mathetest 96 Prozent bekommen. Sie machen Ihrem Viertel alle Ehre. Ich habe Ihnen allen die Ergebnisse gerade geschickt, Sie können sie sich jetzt ansehen.«

Ich fange wieder an zu atmen. Van Duick kann keine Gedanken lesen. Schnell fahre ich mit dem Finger über mein elektronisches Pult, und der Bildschirm wird hell. Ich gehe meine Lösungen durch und suche nach den fehlenden vier Prozent. Die Fehler sind rasch entdeckt, und ich schwöre mir, sie nicht zu wiederholen.

»Der Durchschnitt liegt bei 75 Prozent«, erklärt Van Duick.

Am Rand meines Pults erscheint eine Kurve. Sie zeigt die Ergebnisse der Klasse an. Während der Lehrer spricht, lässt die künstliche Intelligenz seines Computers alle nötigen Informationen auf unseren Bildschirmen erscheinen. Das ist sehr praktisch. Ich frage mich oft, wie der Unterricht im letzten Jahrhundert wohl aussah. In alten Dokumentarfilmen habe ich gesehen, dass die Schüler Stifte und Papier benutzten. Das wäre heutzutage undenkbar, bei den wenigen Bäumen, die es noch gibt.

Als ich mir die Kurve genauer ansehe, merke ich, dass ich nicht die beste Note habe. Ein anderer Schüler war besser als ich. Ich klicke auf die Tabellenspalte 95–100 %. Der Computer nennt mir zwei Namen. Meinen eigenen und den von Orion Parker. Er ist einen Prozentpunkt besser als ich: 97 Prozent. Automatisch drehe ich mich zu ihm um. Zu meiner Überraschung sieht auch er mich an und zieht die Schultern hoch.

Wie gerne würde ich ihm das kleine siegessichere Lächeln vom Gesicht wischen! Der Typ hat keine Vorstellung, was es für mich bedeutet, die Beste zu sein. Bessere Noten als die Unantastbaren zu bekommen ist meine einzige Chance, mir eines Tages einen Platz unter ihresgleichen zu erarbeiten und meine Familie aus den Wasserquartieren herauszuholen.

Und dann ist da noch etwas anderes … Jedes Mal, wenn ich die beste Note bekomme, sehe ich, wie die selbstzufriedenen und verachtungsvollen Blicke der Unantastbaren sich trüben. Ich bin der Kiesel in ihrem Schuh, das Sandkorn, das ihre Sicherheit zersetzt. Ich bin der Beweis, dass man intelligent sein kann, auch wenn man nicht aus den Kuppeln kommt. Aber heute hat Orion Parker mir dieses Vergnügen genommen.

Ich spüre seinen Blick im Nacken, aber ich wage es nicht, mich noch einmal umzudrehen. Was heckt er aus?

»Genug der Mathematik für heute«, sagt Van Duick. »Ich möchte den Rest des Tages für eine verlängerte Projekteinheit nutzen.«

Ich spitze die Ohren. Still auf einem Stuhl herumzusitzen entspricht überhaupt nicht meiner Natur, und ich sehne immer die praktischen Arbeiten herbei. Egal, ob sportlich, kulturell oder künstlerisch, die Projekteinheiten sind eine Gelegenheit, das Pult zu verlassen und sich ein bisschen zu bewegen. Gebannt lausche ich den Worten des Lehrers.

»Diese Projekteinheit ist etwas speziell. Sie ist eine persönliche Initiative, die es in dieser Form, glaube ich, noch nie gab. Es handelt sich um ein Projekt der Kategorie ›sozial‹.«

Ein soziales Projekt? Was soll das denn sein? Nie gehört. Zum Glück – oder Unglück – führt er es gleich aus:

»Ich habe bemerkt, dass unter den Schülern dieser Klasse und auch an der ganzen Schule eine gewisse Feindseligkeit herrscht.«

Augenblicklich schießt eine Hand in die Luft. Sie gehört Miranda.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir. Wir verstehen uns alle super.«

»Würden Sie mich bitte ausreden lassen, Miss Bergson?«, erwidert der Lehrer. »Ich habe Spannungen zwischen den Schülern aus den Quartieren und den Schülern aus der Kuppel bemerkt.«

Gemurmel erhebt sich. Natürlich gibt es Spannungen. Das ist sogar noch untertrieben. Wir hassen uns leidenschaftlich.

»Ich vermute, dass diese Spannungen in erster Linie auf Vorurteile zurückgehen, vielleicht aber auch auf die Struktur unserer Schule, durch die Sie während des Unterrichts und der Aktivitäten systematisch getrennt werden. Ich möchte Sie alle daran erinnern, dass die gemischten Schulen dazu dienen sollen, eine Verbindung zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schaffen – und nicht das Gegenteil. Das Ziel dieser Projekteinheit ist simpel: Jeder Schüler aus der Kuppel schreibt einen Aufsatz, in dem er die Vorstellung, die er von den Wasserquartieren hatte, mit der Wirklichkeit abgleicht, die er in der Projekteinheit kennenlernt. Für die Schüler aus den Quartieren funktioniert es umgekehrt. Auch die Organisation ist einfach: Nach dem Mittagessen nimmt die Hälfte der Schüler aus den Quartieren einen ihm zugeteilten Schüler mit nach Hause. Die andere Hälfte begleitet einen Klassenkameraden in die Kuppel.«

Aus dem Gemurmel wird lautstarker Protest.

»Aber das geht doch nicht!«, schreit einer der Unantastbaren. »Sie wollen, dass wir die Grauen mit in die Kuppel nehmen? Das ist gesetzlich verboten!«

»Ich habe eine Sondergenehmigung.«

»Die Unantastbaren können in ihren weißen Uniformen doch nicht mit ins Quartier kommen«, wendet ein Grauer ein, der in einem Turm neben der Water-Zone wohnt. »Die werden sofort abgemurkst.«

»Es ist für alles gesorgt«, sagt der Lehrer ruhig. »Ich habe zusätzliche Uniformen beschafft. Heute werden also einige von euch die Farbe wechseln.«

Van Duick weiß gar nicht, wie recht er damit hat. Miranda ist so wütend, dass sie rot wird wie die Tomaten, die auf meiner kleinen Farm wachsen.

»Bis morgen verfasst jeder eine Zusammenfassung des Nachmittags. Und ich möchte darauf hinweisen, dass der Aufsatz benotet wird und in der Gesamtwertung doppelt zählt. Und das sind die Teams: Flynn und Miranda, Sie gehen in die Kuppel. Catherine und Andréa, Kuppel. Orion und Isis, Wasserquartiere …«

Ich würde am liebsten im Boden versinken. Orion Parker soll mich in die Water-Zone begleiten? Das ist Selbstmord. Dieser Van Duick muss zu viele Grünalgen geraucht haben. Er fährt mit seiner Aufzählung fort, ohne sich um die Protestrufe zu kümmern, die immer lauter werden. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Welcher Tag ist heute? Dienstag. Ausgerechnet Dienstag … Ich frage mich, wie ich das hinkriegen soll. Eins aber weiß ich sicher: Die nächsten Stunden werden die schwierigsten meines bisherigen Lebens.

Mein Magen erinnert mich daran, dass ich seit 24 Stunden nichts gegessen habe. Es läutet. Während ich Van Duick und seine bescheuerte Idee verfluche, trabe ich mit den anderen zur Cafeteria. Natürlich reden alle nur über eins: das soziale Projekt.

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