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3 ISIS

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»Die Schule ist ein Schutzraum, in dem die soziale Herkunft in den Hintergrund tritt und jeder Einzelne das Feld seiner Möglichkeiten erweitern kann.« So lautet das Motto unserer Schule. Das Motto gefällt mir. Nur leider sieht die Wirklichkeit komplett anders aus.

Ich glaube, ich bin noch nie im Leben so schnell gerannt. Zu spät zu kommen ist schrecklich. Ich biege um die Ecke und schwenke scharf nach rechts.

Autsch! Was war denn das?

Eigentlich war ich immer gut darin, Wegstrecken zu berechnen. Aber diesmal habe ich das Hindernis in meiner Bahn nicht gesehen. Ich sitze am Boden, und mir gegenüber sitzt ein anderer Schüler, der ebenfalls auf dem Hinterteil gelandet ist. Nicht so schlimm, könnte man meinen?

Tja, leider ist der Schüler nicht irgendwer. Er ist ein Unantastbarer. Der es bestimmt nicht toll findet, dass seine schöne weiße Uniform jetzt schmutzig ist. Ich mustere ihn und verkneife mir einen Fluch (ich fluche ständig, aber nie in der Schule). Noch dazu ist es nicht irgendein Unantastbarer. Es ist Orion Parker, der Sohn von Arthur C. Parker, dem reichsten Mann der Welt.

Automatisch huscht mein Blick von Orion zu dem Schild an der Wand des Gebäudes.

Es erinnert alle Schüler der Wasserquartiere daran, dass es ausdrücklich verboten ist, Körperkontakt mit einem Unantastbaren zu haben. Ich lese die roten Wörter:

Wer diese Regel missachtet, wird von der Schule verwiesen.

Ich atme stockend ein. Im Bruchteil einer Sekunde lösen sich meine Träume in Luft auf. Leb wohl, Traum von einer Wohnung auf festem Boden, von einem guten Job, von genug zu essen … Stattdessen werde ich von der Schule fliegen, weil ich Orion Parker berührt habe. Ich stelle mir vor, wie meine Eltern reagieren werden. Wie soll ich ihnen beibringen, dass ich alles vermasselt habe, nur weil ich meinen Wecker nicht gehört habe? Weil ich so lange gelernt habe, um die beste Note zu bekommen, so wie immer? Ich kann schon unsere Nachbarin mit ihren dummen Sprüchen hören: Das Beste ist der Feind des Guten. Hättest du dich doch einfach mit einer guten Note zufriedengegeben! Ich habe ja schon immer gesagt, dass du auf der Schule der Reichen scheitern wirst. Aber so bin ich nun mal. Ich hasse Niederlagen. Ich bin gerne die Beste, und ich tue alles dafür. Ganz egal, was die Nachbarin sagt. Und meistens ist Ehrgeiz ja auch etwas Gutes. Ich will nicht, dass Orion mich für weinerlich hält, trotzdem schießen mir Tränen in die Augen.

»Alles okay? Hast du dir wehgetan?«

Mein Gehirn decodiert nur mühsam seine Worte. Träume ich, oder hat er mich gerade gefragt, ob es mir gut geht? Das muss der Schock sein.

»Äh, nein, alles in Ordnung. Tut mir wirklich leid.«

Was soll ich auch sonst sagen? Ich habe einen Fehler gemacht und werde teuer dafür bezahlen.

Schon kommt Miranda angerauscht, diese Plage. Stimmt ja, die beiden kommen jeden Morgen zusammen in einem Auto, das vermutlich so viel kostet wie zehn Wohnungen auf festem Boden. Ich hasse dieses Mädchen. Sie ist schön, reich und hat eine strahlende Zukunft vor sich. Trotzdem ist sie hinterhältig, missgünstig und nur mittelmäßig in der Schule.

»Bist du verrückt geworden?«, schreit sie mich an. »Was fällt dir ein? Alles okay, Orion? Hat die Lumpensammlerin dir was getan?«

»Wir sind vor der Tür zusammengestoßen. Es war meine Schuld«, erwidert Orion. »Ich habe nicht aufgepasst.«

»Deine Schuld? Blödsinn. Dafür kann sie von der Schule geworfen werden! Ich gehe sofort zum Direktor.«

»Nein!«

Ich verfolge verdattert diese surreale Diskussion. Hat Orion gerade Nein gesagt?

»Wie, nein? Du kannst doch nicht zulassen, dass diese Versagerin dich anfasst!?«, tobt Miranda. »Da hat sie schon das Glück, dieselbe Luft zu atmen wie wir, und dann …«

»Nein. Hast du nicht gehört? Es war meine Schuld. Sie wird nicht von der Schule geworfen, und der Direktor wird nicht informiert.«

»Aber …«

»Ich hasse es, wenn mir jemand vorschreiben will, was ich tun soll, Miranda. Du bist meine Freundin. Ich verlasse mich darauf, dass du meine Entscheidung respektierst. Gib mir dein Wort darauf.«

Miranda dreht sich zu mir und legt so viel Verachtung in ihren Blick, wie sie nur kann – und sie hat eine ganze Menge davon in ihrer schäbigen Seele auf Lager. Ich sehe ihr kurz in die Augen, dann senke ich den Blick.

»Gut, wenn es das ist, was du willst, gebe ich dir mein Wort, Orion. Aber ich warne dich, Isis Mukeba, wenn du es wagst, mich auch nur zwei Sekunden lang anzuschauen, sorge ich dafür, dass du und die anderen Grauen augenblicklich in eure Schimmelviertel zurückgeschickt werdet.«

Die Grauen, so nennen uns die Unantastbaren. Wegen der Farbe unserer Uniformen, aber nicht nur. Es ist auch die Farbe der Welt, in der wir leben. Der Smog ist überall, legt sich auf die Gebäude, die Straßen, sogar auf die Menschen. Die Einwohner der Wasserquartiere sind blass, und ihre Kleidung hat im Lauf der Jahrzehnte die Farbe verloren. Warum soll man auch bunte Sachen kaufen, wenn man die Farben ohne das Licht der Sonne sowieso nie richtig sieht? In der Water-Zone bin ich eine der wenigen, die versucht, sich fröhlich zu kleiden (zumindest, wenn ich nicht in der Schule bin). Ich weiß, dass die meisten aus unserem Viertel mich deshalb komisch anschauen, aber so bin ich nun mal. Es macht mir nichts aus, anders zu sein. Vielleicht ärgert sich Miranda aber auch nur über mein Aussehen. Ich habe lange schwarze Haare und einen goldenen Teint, der meine grünen Augen zur Geltung bringt. So, wie die meisten Jungs mich anschauen, würde ich mal sagen, ich bin ziemlich hübsch. Wenn Miranda glaubt, sie könne mich ärgern, indem sie mich eine Graue nennt, macht mir das nichts aus. Ich fühle mich alles andere als grau und habe jede Menge Farben in mir, die nur darauf warten, zum Vorschein zu kommen.

Orion rappelt sich auf und streckt mir, ohne nachzudenken, die Hand entgegen, um mir hochzuhelfen.

Doch das Schild mit der roten Schrift hat sich in mein Gehirn gebrannt: Einen Unantastbaren berührt man nicht. Mit einem entschuldigenden Lächeln stütze ich die Hände auf den Boden und stehe allein auf.

Wir eilen schweigend durch die Gänge zu unserem Klassenzimmer.

Der Lehrer wirft uns einen finsteren Blick zu, als wir nach dem Anklopfen eintreten.

»Wisst ihr, wie spät es ist?«, fragt er streng.

Dann fällt sein Blick auf Orion, und seine Miene wird milder.

»Es tut uns leid«, sagt der. »Wir sind durch einen Massenauflauf aufgehalten worden, wenige Straßen von hier.«

»Alle drei?«, fragt der Lehrer überrascht.

»Alle drei«, bestätigt Orion.

Der Lehrer würde sich niemals erlauben, Orion Parkers Worte infrage zu stellen.

Wir setzen uns schweigend auf unsere Plätze, die Unantastbaren auf der rechten Seite des Raums, ich auf der linken. Die Klassen sind offiziell gemischt, aber Weiß und Grau bleiben doch getrennt. Man kann ja nie wissen, ob Armut nicht doch ansteckend ist. Innerlich danke ich Orion Parker. Er hat mich heute Morgen gleich zweimal gerettet. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich schiele zu ihm hinüber. Miranda durchbohrt mich mit ihrem Blick. Ein Glück, dass ihre Augen keine Laser sind, sonst würde sie mich auf meinem Stuhl pulverisieren. Kein Zweifel, ich habe mir heute keine Freundin gemacht.

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