Читать книгу New Earth Project - Давид Муате - Страница 9

4 ISIS

Оглавление

Ich habe New York noch nie verlassen. Reisen können nur die Reichen. Als ich klein war, hat mich das traurig gemacht, doch dann habe ich entdeckt, dass Bücher diesen Mangel ausgleichen können. Auf den Seiten von Büchern bin ich schon viele Male um die Welt gereist.

Nach der Schule laufen Flynn und ich zusammen nach Hause. Flynn ist eine lange Bohnenstange mit notorisch guter Laune. Seine zotteligen kastanienbraunen Haare reichen ihm bis auf die Schultern. Man könnte meinen, es sei für ihn eine Frage der Ehre, sich niemals zu kämmen. »Das ist meine wilde Seite«, behauptet er immer. Hinter seinem nachlässigen Auftreten versteckt sich ein hochintelligenter Junge. In Mathe ist er fast so gut wie ich. Fast. Aber das ist es nicht, worauf es ankommt. Flynn ist mein bester Freund, ihm kann ich alles erzählen. Er ist für mich wie ein Bruder. Also, natürlich nicht wie mein richtiger Bruder, dieser Horrorwicht, der mir von früh bis spät die Existenz verpestet …

»Da hast du heute ja noch mal Glück gehabt«, sagt Flynn.

»Kann man wohl sagen.«

»Die zweite Verspätung in einer Woche wäre bestimmt nicht einfach so durchgegangen.«

Als ich an meinen unheilvollen Tagesbeginn zurückdenke, kommt mir die Verspätung beinahe nebensächlich vor. Ich muss unwillkürlich lächeln.

»Hab ich was Komisches gesagt?«, fragt Flynn.

»Nein. Ich musste nur daran denken, was heute früh passiert ist. Ich bin mit Orion Parker zusammengestoßen, und er ist auf dem Hintern gelandet.«

»Machst du Witze?«

Ich berichte ihm haarklein von meinem Zusammenstoß mit Orion.

»Un-glaub-lich!«, sagt Flynn. »Wenn ich das den anderen erzähle …«

»Gar nichts erzählst du«, unterbreche ich ihn.

»He, du erlebst die Story des Jahres und erwartest, dass ich mit niemandem darüber spreche?«

»Ganz genau.«

»Du bist echt hart, Immaculée-Sissy.«

Ich verpasse ihm einen Stoß gegen die Schulter.

»Autsch!«

»Du weißt, dass ich es hasse, wenn man mich so nennt.«

»Jep. Aber es macht nun mal solchen Spaß.«

»Es wird dir keinen Spaß mehr machen, wenn du Hilfe im Literaturkurs brauchst und ich dich durchrasseln lasse.«

»Das würdest du doch nie tun!«

Ohne es zu merken, sind wir in unserem Viertel angekommen. Trotz der gigantischen Wellenbrecher einen Kilometer vor der Küste ist das Meer heute unruhig, und unser kleines Universum schaukelt auf und ab.

»Oh nein, ich werde bestimmt wieder seekrank«, jammert Flynn, der nicht für das Leben auf dem Wasser gemacht ist.

Wir nähern uns der Hütte meiner Familie. Die Vorstellung, meinen kleinen Bruder bis zum Sonnenuntergang ertragen zu müssen, ist alles andere als verlockend. Also schlage ich Flynn vor, unserer Plantage einen Besuch abzustatten. Zwei Minuten später holen wir unser Boot aus dem Versteck und entfernen uns von den schwimmenden Quartieren.

Vor drei Jahren haben wir beim Durchstöbern verlassener Gebäude (man muss sich ja irgendwie beschäftigen) einen Durchgang zu einem überfluteten Haus gefunden. Auch die Passage war halb vom Wasser bedeckt. Natürlich haben wir uns hindurchgewagt, auch wenn es bestimmt ziemlich unvorsichtig war. Auf der anderen Seite haben wir einen Schatz entdeckt: eine alte, vom Meer verschluckte Bibliothek. Der Großteil der Bücher war von Wasser und Salz zersetzt und nicht mehr zu gebrauchen, aber ein paar Regale waren verschont geblieben.

Das Internet verschafft uns Zugang zu Bergen von Informationen, viel mehr, als man in einem Menschenleben lesen kann, aber ich finde es viel besser, in einem echten Buch aus Papier zu blättern.

Flynn, geschäftstüchtig, wie er ist, hat schnell begriffen, dass unsere Entdeckung keinen müden Dollar wert war, und das Interesse daran verloren. Jeder sucht nach Mitteln und Wegen, seine Situation zu verbessern, und wir bilden da keine Ausnahme. Jeder Gegenstand aus den Ruinen des alten New York hat einen Verkaufswert. Und Verkaufswert heißt Nahrung. »Aber Bücher interessieren absolut niemanden mehr«, stellte Flynn pragmatisch fest.

Ich bin trotzdem oft in die Bibliothek zurückgekehrt. Es war eine besondere Bibliothek, die Bücher hatten alle etwas mit Ökologie, Wachstumsrückgang, Respekt für die Natur und so weiter zu tun, all diese Dinge, die die Menschheit nie hinbekommen hat. Wenn man den heutigen Zustand des Planeten sieht, könnte man meinen, dass sie sich doch ein bisschen dafür hätte interessieren sollen, statt Millionen von Menschen mit viel Aufwand an einen Ort zu verfrachten, der Lichtjahre von hier entfernt ist. Sage und schreibe dreißig Prozent des Planeten sind in weniger als einem Jahrhundert im Wasser versunken. Aber ich schweife ab.

In mehreren dieser alten Bücher habe ich Informationen dazu gefunden, wie sich Landwirtschaft mit einfachen Mitteln betreiben lässt. Eigentlich ging es dabei um Regionen, die man damals die Dritte Welt nannte, Länder in Afrika und Asien. Ich habe ordentlich gebüffelt und versteckt auf dem Dach eines verlassenen Hauses meine eigene kleine Plantage angelegt. Dabei habe ich mehrere Methoden ausprobiert, aber nur zwei haben wirklich funktioniert. Die erste nennt sich Aquaponik. Dabei setzt man ein paar Fische in ein Aquarium, mit dessen Wasser man die Pflanzen bewässert. Die Ausscheidungen der Fische dienen den Pflanzen als Dünger. Die Pflanzen wiederum filtern das Wasser, sodass es zurück ins Aquarium kann. So bekommt man schönes, saftiges Gemüse. Am Anfang hat Flynn sich die ganze Zeit über mich lustig gemacht. »Es ist unmöglich, Gemüse zu züchten, bei der Luftverschmutzung, der verseuchten Erde und dem sauren Regen! Das weiß doch jeder Vollidiot, Isis!«

Die größte Schwierigkeit war, an Gemüsesamen zu kommen. Wir haben tagelang im Müll in der Nähe der Kuppel gewühlt, bis wir mehrere Gemüsesorten beisammen hatten, aus denen wir geduldig die Samen herausgepult haben. Das mit den Fischen war einfacher. Wenn man auf dem Wasser wohnt, ist die Fischerei ein alltäglicher Weg, um an ein paar Proteine zu kommen, auch wenn die Fische immer seltener werden. Mein Vater sagt, sie werden mit jeder Generation schlauer. Aber ich glaube, dass das Wasser einfach immer dreckiger wird und es immer weniger Fische gibt. Die Fische, die wir gefangen haben, haben wir in ein altes Aquarium aus einem verlassenen Haus gesteckt und über Monate jeden Tag eine Handvoll Erde aus den Blumentöpfen in der Schule mitgehen lassen.

Als mein System dann tatsächlich funktionierte und wir unser erstes Gemüse ernten konnten, war Flynn fassungslos. Nach und nach haben wir die Anlage immer weiter verbessert, und heute können wir mehrere Familien damit versorgen, zuallererst natürlich unsere eigenen.

Es gibt noch eine andere Methode, die funktioniert, doch dazu später mehr. Wir haben das verlassene Gebäude erreicht. In diesem Teil Manhattans lebt niemand mehr. Die Fundamente der Gebäude sind durch das Wasser brüchig geworden und können jeden Moment einstürzen. Hier zu wohnen ist daher verboten. Wir haben uns das Gebäude ausgesucht, das uns am stabilsten vorkam – und nicht ganz so hoch war, weil wir mit unserem Boot nur bis zur fünften Etage kommen. Danach geht es zu Fuß weiter.

Jedes Mal, wenn ich auf unsere kleine Farm komme, wie wir die Plantage nennen, habe ich Angst, dass jemand uns das kostbare Gemüse gestohlen oder, noch schlimmer, die Anlage zerstört hat. Nach zehn Stockwerken im Treppenhaus brennen meine Beine. Mit Flynn kommt man nicht ohne ein Wettrennen da hoch. Und meistens gewinnt er.

Ich stoße ein erleichtertes »Uff!« aus, als ich mich vergewissert habe, dass alles unversehrt ist. Eine wunderschöne reife Zucchini und zwei Tomaten erwarten uns.

»Die Ehre gebührt dir«, sagt Flynn.

Nachdem ich die Fische gefüttert habe, ernte ich das Gemüse und verstaue es vorsichtig in meinem Rucksack.

Dann machen wir es uns in den alten Liegestühlen bequem, die wir hier hochgeschleppt haben, und betrachten den Ozean. Die riesigen Wellenbrecher in der Ferne sollen die Launen des Wassers in Schach halten und den Seegang regulieren. Sie erinnern an gewaltige Haifischzähne, die geduldig darauf warten, dass eine ahnungslose Beute dahergeschwommen kommt. Hinter der schützenden Grenze sehe ich wilde Wellen und schäumende Gischt in den Himmel schlagen.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Welt im Sonnenschein aussehen würde. Besser gesagt, ich versuche es mir vorzustellen, denn weder Flynn noch ich haben die Sonne je wirklich gesehen, außer in Filmen.

Flynn nimmt meine Hand. Ich ziehe sie instinktiv weg, dann zwinkere ich ihm zu.

»Zeit, nach Hause zu gehen!«, sage ich.

Flynn war schon immer ein bisschen verliebt in mich. Ich habe ihn wahnsinnig gern, mehr aber auch nicht. Aber ich traue mich nicht, es ihm zu sagen. Ich möchte ihn nicht verletzen.

New Earth Project

Подняться наверх