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1 ISIS Zehn Jahre später – Jahr 2125
ОглавлениеIch liege morgens gerne lange im Bett. Ich liebe diese dem Tag geklauten Minuten, in denen man den Moment hinauszögert, bis man die Wärme der Decke verlässt. Es macht mir Spaß, die Tatenlosigkeit der Nacht zu verlängern, während alle anderen aktiv sind. Nur leider komme ich höchst selten in diesen Genuss.
Ich heiße Isis. Wenn man mich so sieht, wie ich in Unterhose und BH bäuchlings auf dem Bett liege, würde man wohl nicht vermuten, dass ich die Hoffnung meiner Familie bin. Aber das bin ich. Und was meine Bekleidung betrifft, gibt es mildernde Umstände: Die sommerliche Hitze hier in New York ist einfach unerträglich. Vor der verdammten Klimaerwärmung herrschten hier angeblich mal angenehme Temperaturen. Aber jetzt sind es im Sommer vierzig Grad und mehr und im Winter nie weniger als fünfundzwanzig. Es ist nicht auszuhalten. Klar, die Bewohner der Kuppeln haben das Problem nicht. Ihre Häuser sind riesig und klimatisiert. Aber das ist eine andere Geschichte. Außerdem habe ich eine Regel: nie vor zehn Uhr von ihnen zu sprechen. Es macht nur schlechte Laune, an die Reichen zu denken. Wie spät es wohl ist? Ich versuche, ein Auge zu öffnen. Die gleißende Helligkeit scheint entschlossen, mir die Netzhaut zu verbrennen. Es ist also Tag. Ich strecke mich blinzelnd. Durch das Fenster fällt ein Rechteck aus Licht ins Zimmer. Aber der Smog ist so dicht, dass man die Tageszeit nicht anhand der Sonne bestimmen kann. Man weiß nur, dass sie da ist, weil man vor Hitze fast erstickt. Ich gähne. Gestern Abend habe ich bis spät in die Nacht gelernt. Heute habe ich einen Mathetest und keine Lust, ihn zu vermasseln.
Normalerweise haben die Kinder der Armen, zu denen auch ich gehöre, keinen Zugang zur Schule. Sie ist denjenigen vorbehalten, die in den Kuppeln leben: den Unantastbaren. Doch vor ein paar Jahren hat die Regierung, auf Bestreben der Justiz und um soziale Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen, beschlossen, eine kleine Zahl Kinder aus benachteiligten Vierteln zu den Schulen der Unantastbaren zuzulassen.
Alle drei Jahre durchlaufen alle Kinder von sechs bis neun Jahren eine Reihe an Tests, und die besten von ihnen bekommen die Ausnahmeerlaubnis, zur Schule zu gehen. In meinem Viertel war ich eine der zwei Auserwählten. Der andere ist mein Kumpel Flynn. Wer die Chance hat, zur Schule zu gehen, lässt sie nicht ungenutzt. Denn nur, wer sie mit einem guten Diplom abschließt, hat die Chance, seine Familie aus den Wasserquartieren herauszuholen.
»Isis kommt zu spät zur Schule!«
Der da gerade gebrüllt hat, ist mein kleiner Bruder Zach, sechs Jahre alt. Die reinste Nervensäge, auch wenn meine Eltern behaupten, er sei ganz harmlos. Ich taste nach einem zusammengerollten Sockenpaar und werfe es in seine Richtung.
»Verzieh dich, Gartenzwerg!«
Er weicht dem Geschoss mühelos aus. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich kaum die Augen geöffnet habe. Sonst hätte ich ihn nicht verfehlt. Ich drehe mich zum Wecker, um mich zu vergewissern, dass Zach mich nur ärgern wollte.
»Verdammter Tsunami!«, rutscht es mir raus.
Dazu muss ich wohl erklären, dass wir im schwimmenden Slum von New York leben, dem größten der Ostküste. Durch die Klimaerwärmung ist der Meeresspiegel mehr als zwanzig Meter angestiegen, und die Türme Manhattans stehen jetzt mit den Füßen im Wasser. Ich wohne genau unter einem, in der Water-Zone, einem der Elendsviertel New Yorks. Aus diesem Grund können wir Tsunamis nicht besonders gut leiden.
Wenn ich die Schule gut abschließe, kann ich vielleicht genug verdienen, um eine Wohnung in einem der Türme zu bezahlen oder, noch besser, auf dem Festland. Aber dafür muss ich mich jetzt erst mal mit Lichtgeschwindigkeit fertig machen, weil ich sonst durch den Mathetest falle, für den ich gestern so lange gebüffelt habe.
»Ich hab deinen Busen gesehen!«, kreischt mein idiotischer Bruder.
Wenn man wie wir in einer winzigen Hütte lebt, kann man Privatsphäre vergessen. Ich schneide eine Grimasse und ziehe mich schnell an. Meine Schuluniform ist ziemlich hässlich. Eine graue Bluse und ein Rock in derselben Farbe. Ich binde mir die vorgeschriebene Krawatte lose um den Hals und stopfe alles, was ich heute brauchen werde, in meinen Rucksack.
Etwa eine Sekunde später rausche ich durch unsere zehn Quadratmeter große Ess-Wohn-Küche, drücke meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und zische wie eine Rakete nach draußen.
»Trinkst du deinen Algentee nicht?«, ruft meine Mutter mir hinterher.
»Keine Zeit! Bin spät dran!«, rufe ich zurück.
Während ich im Slalom zwischen den improvisierten Häusern hindurchflitze, schalte ich meine geistige Stoppuhr ein. Es wird knapp werden … Bis zur Schule sind es gut zwei Kilometer, und ich habe nur noch zehn Minuten, bis sich die Tür schließt. Ich laufe schneller und ignoriere die Rufe derer, denen ich an den Kreuzungen vor die Füße laufe. Manche schimpfen, aber die meisten erkennen mich dank meiner Uniform und sagen nichts. Sie sind stolz darauf, dass eine Bewohnerin ihres Viertels zur Schule zugelassen wurde.
Ich renne gern. Es ist eins der wenigen Dinge, bei denen ich mich wirklich frei fühle. Am Ende der Water-Zone werfe ich einen Blick zurück. Hinter dem Dschungel aus auf- und nebeneinandergebauten Bruchbuden erkennt man den Arm der Freiheitsstatue, der im 45-Grad-Winkel aus dem Wasser ragt. Sie ist vor etwa zwanzig Jahren nach vorne gekippt, hat man mir gesagt, aufgrund der Auswirkungen von Rost und Wellen. Ich kenne Fotos von der Statue aus der Zeit, als sie noch aufrecht stand. Natürlich weiß ich, dass es unmöglich ist, aber ich würde viel darum geben, sie einmal ganz zu sehen, nur ein einziges Mal. Vielleicht ja beim nächsten Tsunami, bevor die Riesenwelle uns alle verschlingt …
Ich erreiche den festen Boden. Meine Schritte sind hier sicherer als auf den schwimmenden Straßen, und ich kann noch etwas schneller laufen. Nach ein paar Minuten kommt endlich die Schule in Sicht. Das hypermoderne Gebäude passt nicht so recht ins Viertel, aber die Autoritäten wollten die »gemischten« Schulen, wie sie sie nennen, unbedingt außerhalb der Kuppeln einrichten, um der ganzen Welt zu beweisen, dass auch die Kinder der Armen ihren Platz im Bildungssystem haben. Dass ich nicht lache! Vor allem wollen sie nicht, dass wir zu ihnen in die Kuppeln kommen.
Trotz meiner Anstrengungen habe ich es nicht rechtzeitig geschafft. Ich halte mein Auge vor den Scanner am Eingang und erwarte das Urteil.
»SIE SIND ZU SPÄT, IMMACULÉE-SISSY MUKEBA!«, verkündet der Computer, bevor er die Tür entriegelt.
Tja, das also ist mein echter Name: Immaculée-Sissy. Meine Eltern hatten wohl zu viel Kartoffelschnaps intus, als sie ihn ausgesucht haben. Verständlich, warum ich mich lieber Isis nenne, oder?
Ich durchquere den Eingangsbereich, laufe zum Vaporisator und schließe die Augen. Das Desinfektionsmittel füllt die Kabine. Ich hasse den Geruch. Aber es steht außer Frage, die Unantastbaren mit Bakterien zu gefährden. Nach diesem Zwischenstopp komme ich endlich in den Hof. Mein Klassenzimmer befindet sich am anderen Ende des Gebäudes.
Ich hole tief Luft und renne weiter.