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XI.

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Der Gute Träumer hatte den größten Teil seines Weges von Toulux nach Asgood bei herrlichem Frühlingswetter zurückgelegt. Oftmals schien es geradezu so, als wäre die Sonne eine Verbündete im Kampf gegen den Traumlord. Doch just an jenem Tag als er die Stadttore von Asgood durchschritt, sein Pferd am Zügel hinter sich führend, goss es wie aus Kannen. Große Tropfen prasselten vom Himmel herab, der schwarz war wie der Deckel eines Sarges. Die Tropfen hatten sich in den Straßen der Stadt zu Seen und Sturzbächen vereinigt. Traufen liefen wie Wasserfälle von den Dächern. Es regnete Blasen und gerade als Michael einen trockenen Unterstand fand, setzte ein Hagelschauer ein. Die Eiskörner, die nun auch noch vom Himmel herunterprasselten, hatten teilweise die Größe von Taubeneiern.

Unter der Markise, die sich der Gute Träumer als Unterschlupf gewählt hatte, standen noch weitere Menschen. Die meisten von ihnen waren ärmlich gekleidet. Alle aber, auch die, die offenbar einen etwas besseren Stand besaßen, blickten apathisch in den Regen, als hätte das schlechte Wetter magische Kräfte, die ihre Seelen lähmten. Aber Michael wusste es besser. Es lag nicht am Wetter. Dies waren allesamt Menschen, denen man ihre Träume geraubt hatte.

Noch nie hatte der Gute Träumer eine solche Ansammlung von Traumlosen auf einem Haufen gesehen. In Ramos gingen die Leute selten aus, und wenn, so landeten sie allesamt im Wirtshaus. Dort aber saß jeder allein an einem Tisch und starrte stumpfsinnig in sein Glas, egal ob dieses voll oder schon leer war.

Man spürte sofort, dass man in einer großen Stadt war. Es gab so viele Menschen, dass sie sich nicht aus dem Wege gehen konnten. Sie mussten aufeinandertreffen, selbst unter den gegebenen Umständen.

Michael lugte unter seinem Unterstand hervor, um sich ein wenig zu orientieren. Für ihn kam es zunächst einmal darauf an, ein Wirtshaus zu finden, wo er für die Nacht ein Lager bereitet bekam. Ausgeruht wollte er sich am nächsten Tag auf den Weg machen, um den geheimnisvollen Stern zu finden, der in den Mauern dieser Stadt verborgen sein sollte. Kaum hatte Michael die Nasenspitze unter der Markise hervorgesteckt, da warf ihm ein heftiger Windstoß einen Schwall Wasser ins Gesicht, der mit Eiskörnern vermischt war. Der Gute Träumer schloss in einem Reflex die Augen und zog sich wieder einen Schritt zurück. Es würde ihm nichts weiter übrig bleiben, als abzuwarten, bis sich das Wetter endlich wieder besserte.

Die Markise, die dem Guten Träumer und den anderen Menschen an seiner Seite als Schutz vor dem Regen diente, gehörte zu einem Laden, dessen Besitzer mit Tuchen und Stoffen handelte. In den Auslagen wetteiferten kostbarer Brokat, feine Seide und derbe, unverwüstliche Wollstoffe um die Gunst der Kunden. Der Ladenbesitzer stand hinter seinen Auslagen und blickte hinaus in den Regen und auf die Menschenansammlung vor seinem Geschäft. Er war ein schmächtiges Männchen, das ein heftiger Regen wie der heutige im Rinnstein davongespült hätte. Seine Lider lagen wie alte Säcke halb über seinen Augen, was ihm einen schläfrigen Ausdruck verlieh. Von den Mundwinkeln strahlten scharfe Falten des Missmutes ab. Sein Geschäft litt offensichtlich unter der Herrschaft des Traumlords. Träume von Schönheit und neuer Mode gab es nicht mehr. Wen interessierten da die Auslagen eines Tuchhändlers. Selbst jetzt, wo sich viele Menschen unter der Markise drängten blickte keiner in Richtung des Ladens außer dem Guten Träumer.

Michael entschloss sich, den Laden zu betreten und nach einem Wirtshaus zu fragen. Es mochte sein, der Händler wies ihn schroff ab, wenn er erfuhr, dass Michael nichts kaufen wollte, aber er war wenigstens nicht so apathisch wie die Menschen, die ihn gerade umstanden.

Als Michael den Laden betrat, schellte eine feine Glocke in einem der Hinterzimmer. Dies war im Augenblick natürlich völlig überflüssig, denn dienstbeflissen stand der Ladenbesitzer seinem mutmaßlichen Kunden sofort gegenüber. Plötzlich trug er ein feines Lächeln zur Schau, als sei es für ihn die größte Freude des Tages, Michael gegenüber zu stehen. In Anbetracht der Geschäftslage mochte dies vielleicht sogar zutreffen.

„Guten Tag, edler Herr, was kann ich für euch tun“, sagte der Ladenbesitzer mit einer Stimme, die an das Krächzen eines Raben erinnerte.

„Ich bin fremd in der Stadt und suche ein Quartier. Könnt ihr mir mit einer Auskunft behilflich sein?“ Michael erwartete bereite eine schroffe Erwiderung der Art, man sei keine Auskunftei und habe auch keine Gastwirtschaft, doch zu seiner Überraschung lächelte der Ladeninhaber und sagte: „Ich rate euch zur Pension ‚Zur Quelle‘. Sie ist gut und der Preis ist nicht hoch. Für nur einen halben Taler könnt ihr dort übernachten und erhaltet ein reichliches Frühstück.“

„Ich danke euch für diese Auskunft. Wie finde ich die Pension?“

„Ihr folgt dieser Straße bis zum Markt. Von dort zweigen fünf Straßen ab. Ihr nehmt jene, die direkt am Rathaus nach rechts abbiegt. Sie steigt ein wenig an und endet dann in einer Stiege. Wenn ihr diese hinaufgestiegen seid, werdet ihr erneut auf einen Weg treffen. Geht hier nach links und ihr habt die Pension in wenigen Minuten erreicht.“ Der Tuchhändler blickte Michael offen und freundlich ins Gesicht. Man sah, dass es ihm nichts ausmachte, einem Fremden lediglich mit einer Auskunft und nicht mit Waren zu dienen. Michael fragte sich, ob der Händler wohl einen Vorteil von seiner Auskunft zu erwarten hatte. Aber offen fragen wollte er auch nicht.

„Ihr wisst gut Bescheid in der Stadt“, sagte der Gute Träumer und hoffte, den Händler so ein wenig aushorchen zu können.

„Ich muss bekennen, die Pension ‚Zur Quelle‘ gehört meinem Bruder. Ich bin selbst oft dort zu Gast. Aber glaubt mir, ihr könnt es kaum besser treffen als dort.“

„Das glaube ich gern“, antwortete Michael. Er wusste, dass ein halber Taler für eine Nacht und Frühstück wahrlich ein kaum zu unterbietender Preis war. Es tat ihm beinahe Leid, dass er am Ende nur mit einem Traum bezahlen würde. Dieser Tuchhändler sah zwar nicht gerade wie ein Menschenfreund aus, doch war er weitaus freundlicher als die meisten Kaufleute, die Michael kannte.

„Es kommen nur noch selten Fremde nach Asgood, seit der Traumlord das Reich beherrscht. Viele Gasthäuser und Pensionen in der Stadt haben nicht mehr geöffnet. Die Besitzer sind fortgezogen oder haben sich anderweitig verdingt. Ich weiß sogar, dass einer zur Dunklen Garde übergetreten ist.“

Der Tuchhändler schien lange darauf gewartet zu haben, wieder einmal mit einem Menschen zu sprechen, der nicht wie eine weidende Kuh vor sich hin starrte. „Der Traumlord hat mich verschont. Kaufleute verschont er fast immer, solange sie keine aufrührerischen Reden führen. Aber ich liebe den Traumlord nicht. Ich habe ein Geschäft, in dem man viele Träume finden kann. Aber wer will so was heute noch kaufen, frage ich euch?“

„Weshalb erzählt ihr mir das? Ich könnte einer von den Leuten des Traumlords sein.“ Michael versuchte listig dreinzuschauen.

„Nein, die erkennt jeder auf hundert Meter Entfernung. Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber zum Traumlord gehört ihr mit Sicherheit nicht. Erzählt mir, was führt euch nach Asgood?“

Michael war sich nicht sicher, ob er diesem Händler trauen konnte. Gewiss, er hatte eine gewinnende Art, schien ehrlich zu sein, und was den Traumlord betraf, zumindest neutral, aber seine Mission war eine gefährliche. Es konnte den Tod bedeuten, wenn er zu schnell dem äußeren Anschein folgte. Andererseits war ein Mensch so gut wie der nächste, wenn er eine Spur des rätselhaften Sterns finden wollte. Michael entschloss sich, einen Zipfel der Wahrheit zu zeigen.

„Ich suche nach einem Gegenstand, den man den Stern von Asgood nennt“, sagte er gemessen. Er rechnete mit dem Schlimmsten und war zu sofortiger Flucht bereit.

Der Händler aber sah sein Gegenüber nur verständnislos an. Offenbar wusste er weder, wo man den Stern von Asgood fand, noch wozu er dienen mochte. Er zuckte hilflos die Schultern und sagte: „Ich habe noch nie von so einem Stern gehört. Wozu braucht ihr ihn?“

Das war eine verdammt gute Frage, fand Michael. Aber er war auch der Meinung, es würde auf alle Fälle besser sein, sie nicht zu beantworten. Natürlich musste er irgendetwas erwidern, sonst würde er diesen Mann vor den Kopf stoßen und sich selbst verdächtig machen.

Michaels Vorsicht mag ein wenig seltsam erscheinen, da die vorangegangenen Abenteuer deutlich zu zeigen schienen, dass der Traumlord sowieso über alle seine Schritte im Reich informiert war, aber die Sachlage war anders. Es war sicherlich wahr, keiner wusste über die Vorgänge im Reich so gut Bescheid wie der Traumlord, aber wie schon gesagt, er war böse doch nicht der Teufel persönlich oder ein düsterer Gott. Einen großen Teil seiner Informationen über die Geschehnisse im Reich erhielt der Traumlord von Spionen, die sich in seinen Dienst begeben hatten, weil er ihren Traum – Geld und Macht – erfüllen konnte. Der Rest seines Wissens fußte auf Deduktion und Intuition, zwei Fähigkeiten, die jedem mächtigen Mann gut zu Gesicht stehen, wenn er seine Macht festigen und erweitern will. Besonders seine Fähigkeit, die Züge des Gegners wie ein guter Schachspieler vorauszusehen, und daraus eine eigene Strategie abzuleiten, war bewundernswert.

Als der Traumlord erfahren hatte, dass sich wieder einmal einer aufgemacht hatte, ihn zu besiegen, war ihm auch sofort klar, dass dieser sich nach Toulux wenden würde, um den Weisen Stephen um Rat zu befragen. Es gab nur wenige Menschen im Land, die um die Möglichkeit ihn, den Traumlord, zu besiegen, wussten. Er selbst kannte nur den Weisen Stephan. Auch der weitere Weg des Guten Träumers war damit vorgezeichnet. Fallen hatte der Traumlord immer dort aufgestellt, wo eine Verteidigung schwierig zu bewerkstelligen war. Den Wald der ewigen Finsternis hätte der Gute Träumer möglicherweise noch umgehen können, aber es hätte ihn zwei Tagesreisen gekostet. Die Brücke über den Askar war die einzige Möglichkeit über den Fluss zu kommen, wenn man nicht schwimmen wollte. Dieses Vorhaben war zur gegebenen Jahreszeit aber kaum zu empfehlen.

Der Gute Träumer wusste, dass der Traumlord ein gut Teil seines Weges verfolgt hatte. Er ahnte, dass es Späher gab, die seiner Fährte wie Hunde folgten. Aber hinter der Brücke mochten sie ihn verloren haben. Der Traumlord wusste, dass da einer unterwegs war, ihn zu vernichten und Michael wusste, dass der Traumlord dies wusste. Aber es gab keinen Grund es jedem zu erzählen, der ihn nach seinen Zielen fragte. Der Traumlord hatte, wie jeder grausame Herrscher, nicht nur Feinde.

„Ein Zauber geht von diesem Stern aus. Er soll heilen können, welche Krankheit man auch immer hat.“ Michael fand, dies war eine gute Begründung.

„Wer hat dir gesagt, dass man in Asgood so etwas findet?“, forschte der Händler weiter. „Ich glaube fast, man hat einen bösen Scherz mit dir getrieben.“

„Ein weiser, alter Mann hat mir von diesem Gegenstand erzählt. Er nannte ihn den Stern von Asgood, und also folgerte ich, dass ich ihn hier finden würde. Morgen werde ich mit der Suche beginnen, aber nun will ich erst zu jener Pension gehen, die ihr mit empfohlen habt. Außerdem habe ich seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen außer Beeren, die ich im Wald fand.“ Michael versuchte den Rückzug anzutreten. Es lag ihm nicht allzu viel daran, noch mehr über sich und seine Ziele zu berichten.

Der Händler bemerkte das. Er war kein Spion des Traumlords. Die Besorgnis des Guten Träumers war unbegründet. Hätte dieser gewusst, dass auch die Frau des Tuchhändlers ihrer Träume beraubt war, und wie sehr der Mann darunter, besondere in den Nächten, litt, er hätte diesem gewiss mehr von seinem Vorhaben erzählt.

Der Händler wollte seinen Kunden, der eigentlich gar keiner war, noch nicht so schnell fortlassen. Seit der Zeit, da der Traumlord die Macht im Reich übernommen hatte, war es öde geworden in seinem Laden. Nur selten verirrte sich jemand herein, und unterhalten konnte man sich mit keinem mehr richtig. Seine Frau saß gewöhnlich apathisch in ihrem Schaukelstuhl und strickte. Sie strikte Schals, die so lang waren, dass kein normaler Mensch sie mehr um den Hals wickeln konnte, denn sie bemerkte nie, wenn es Zeit gewesen wäre, die Arbeit an einem zu beenden und den nächsten zu beginnen. Es war auch unwichtig, denn es gab niemanden, dem sie einen Schal hätte schenken wollen. Sie vergrub sich einfach nur in diese monotone Handarbeit, die Ersatz wurde für ihre geraubten Träume.

„Eine letzte Frage noch“, wandte sich der Händler also an Michael. „Seid ihr wirklich sicher, dass sich dieser Stern von Asgood noch in der Stadt befindet? Dass der weise Mann den Gegenstand so nannte, beweist noch lange nicht, dass er sich auch hier findet. Vielleicht ist er nur hier erschaffen worden und nun in einem fernen, unzugänglichen Winkel des Reiches verborgen.“

„Dann hätte ich noch weniger Hoffnung ihn zu finden, als ich es ohnehin schon habe“, war Michaels Antwort. Er hatte sich eine solche Variante des Problems noch nie vorher überlegt, aber wenn er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass seine Mission dann endgültig scheitern musste. Etwas zu finden, von dem man weder wusste, was es war, noch annähernd wo es war, wäre unmöglich.

„Wie heißt ihr, Fremder?“, wollte der Händler plötzlich noch wissen. Michael hatte sich schon halb abgewandt.

„Michael, Michael aus Ramos“, antwortete der Gute Träumer. „Ich danke euch noch einmal für eure Hilfe.“

Plötzlich zeigte sich auf den Lippen des Tuchhändlers ein eindeutig freundliches Lächeln. Die Falten in den Mundwinkeln und um die Augen herum verwandelten sich und strahlten plötzlich statt Härte Lebenserfahrung aus. „Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht. Der Traumlord bedrückt schon viel zu lang unser Reich.“

‚Er hat es gewusst‘, dachte Michael erst erschreckt und dann mit einem Anflug von Lachen in der Kehle. Er hatte sich so bemüht, um den heißen Brei zu schleichen, und dann war er so einfach zu durchschauen. Er grüßte den Tuchhändler noch einmal und verließ den Laden.

Es regnete noch immer, doch hatte es aufgehört zu hageln und auch der schlimmste Guss war zu Ende. Nun konnte Michael sich auf den Weg machen. Erst einmal wollte er etwas essen. Dann musste er einen Unterstand für sein Pferd finden, denn wenn eine Stiege zu der Pension führte, konnte er es unmöglich dorthin mitnehmen. Wenn er soweit gekommen war, wollte er sich auf den Weg zu seinem voraussichtlichen Nachtlager für diese und die kommenden Nächte machen.

Michael führte sein Pferd den beschriebenen Weg in Richtung Markt. Er hoffte, dort eine Gaststube oder eine Bäckerei zu finden. Der Hunger nahm langsam Formen an, so dass man ihn als quälend bezeichnen konnte. Es hatte schon mehrfach Zeiten gegeben, in denen die Familie des Guten Träumers nicht gerade üppig gelebt hatte, aber einen Hunger wie seit diesem Morgen hatte Michael noch nie vorher verspürt.

Wie er erwartet hatte, bot der Marktplatz ein buntes Bild. Obwohl die meisten Menschen in der Stadt offenbar ihrer Träume beraubt waren, boten die Händler ihre Waren an, als hätte sich im Reich nichts geändert. Dass dem allerdings nicht so war, mussten vor allem jene spüren, die Waren feilboten, die jenseits des täglichen Lebens ihre Daseinsberechtigung hatten – Schmuck, Duftwässer, künstlerische Schnitzereien, Tuche, Kleider, wertvolle Waffen und Rüstungen. Besser trafen es da jene Händler an, auf deren Tischen sich Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch ein munteres Stelldichein gaben. Einfache Gewänder waren ebenfalls gefragt. Am Stand eines Bierverlegers drängte sich eine Traube vorwiegend männlicher Käufer.

Die Bude eines Märchenerzählers allerdings war verweist. Nicht einmal mehr die Kinder wollten seinen Geschichten lauschen. Vielleicht hatte ihn der Traumlord auch vernichtet.

Auch in den Häusern rings um den Marktplatz hatten sich Händler einquartiert. Da fand man Geldverleiher, mehrere Wirtshäuser, einen Bäcker und einen Tuchhändler. Die Türen dieses Ladens waren mit Brettern vernagelt. Auch er hatte, wie der Märchenerzähler, in der neuen Zeit keinen Platz mehr gefunden.

Der Gute Träumer führte sein Pferd an den Buden des Marktes vorbei. Er strebte einem der Wirtshäuser zu, das mit einem schreiend roten Reklameschild für seine preiswerten Mittagsmahlzeiten warb. Keine Macht der Welt hätte ihn jetzt noch auf einen anderen Gedanken als den an Essen bringen können. In seinen Eingeweiden rollten Felsen wild gegeneinander und polterten laut. Er würde seine Mission besser erfüllen können, wenn er wieder gesättigt war.

Er band sein Pferd vor der Eingangstür des Wirtshauses fest und betrat die gastliche Stätte.

Es war noch nicht die Mittagsstunde. Nur wenige Gäste saßen an den klobigen Eichentischen. Die meisten waren in grobe Leinenkleidung gehüllt, die Kleider der einfachen Leute. Sie starrten in halbvolle Bier- und Schnapsgläser und wandten sich nur flüchtig nach dem neuen Gast um, als dieser eintrat. Einige bewegten sich gar nicht. Wie Lockvögel auf dem Teich verharrten sie reglos in ihrer Stellung.

Nur ein einziger Gast, der an einem entfernten Tisch in einer Nische saß, wollte nicht in dieses Bild passen. Seine Augen blitzten auf, als er Michael registrierte. Dann riss er den Kopf ein wenig zu heftig herum, und starrte auf das Bild eines röhrenden Hirsches das seinem Platz gegenüber hing. Michael war allerdings viel zu hungrig, um diesem Mann die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm möglicher Weise zukam.

Der Mann in der Nische war nur wenig älter als der Gute Träumer. Er hatte ein strenges, aber angenehmes Gesicht. In besseren Zeiten wäre er sicherlich ein berühmt-berüchtigter Frauenheld geworden, ein Mann den die Ehemänner verfluchten und die Frauen herbeisehnten, wenn sie sich in unruhigen Träumen von der einen zur anderen Seite des Bettes wälzten. Der gut gepflegte Oberlippenbart, den der Mann trug, hätte seine Wirkung auf das andere Geschlecht noch verstärkt. Außerdem hatte er Augen von der Tiefe und dem Blau des endlosen Ozeans im Süden des Reiches.

Er hatte die goldbraune Haut und den seltsam langgezogenen Akzent der Menschen, die auf der grünen Insel in eben diesem Ozean wohnten.

Sein Haar war pechschwarz. Er trug es in einer Weise hochgesteckt, wie es hier in Asgood nur bei den Frauen üblich war. Wenn er es löste, fiel es ihm gewiss bis auf die Schultern oder weiter hinab.

In einer Scheide am Gürtel seiner enggeschnittenen Hose trug er einen fein ziselierten Degen, eine Waffe von tödlicher Eleganz. Wer dem Mann in die Augen blickte, wusste, er hatte diesen Degen schon mehrfach benutzt, doch nie um Kaninchen zu töten.

Der Mann saß mit dem Rücken zu Michael, dem Guten Träumer, aber aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er diesen genau. Michael, der gerade eine große Portion Fleisch und Gemüse bestellte, bemerkte es nicht. Vielleicht hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn er weniger mit dem Gedenken an ein gebratenes Schwein beschäftigt gewesen wäre. Der Mann in der Nische verstand es sehr gut zu beobachten, ohne bemerkt zu werden. Er würde seinen Kumpanen Bericht erstatten können, dass ihr Opfer in der Stadt eingetroffen war. Jetzt galt es nur noch, ihn im Auge zu behalten, bis sie ihre Arbeit auftragsgemäß erledigen konnten.

Als sich Michael gerade über sein üppiges Mahl hermachte, betrat ein vierschrötiger Kerl die Schenke. Er war so groß und breit, dass seine Gestalt den gesamten Türrahmen ausfüllte, als er eintrat. Er schwankte ein wenig, gewiss war dies nicht das erste Wirtshaus, in dem er an diesem Tage einkehrte. Er mochte schon einige Humpen Bier geleert haben. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Wildheit und Heiterkeit, die absolut nicht zusammenpassen wollte. Die dunklen Augen rollten mehrfach unter den schwarzen, buschigen Brauen herum, ehe er sich auf den Weg zu dem Tisch in der Nische machte, an dem der Mann saß, der eine Aufgabe zu erledigen hatte, die den Guten Träumer betraf. Sein Mund bewegte sich unaufhörlich. Er sprach mit sich selbst. Dabei sprühte er fortwährend Speicheltropfen vor sich her wie ein Rasensprenger. Ein wirklicher Gesprächspartner tat gut daran, einen Regenschutz zu benutzen. Das Gesicht des neuen Gastes wirkte grob und kantig, als sei es aus einem Stück des Mammutbaumes geschnitzt worden. Aber nicht von einem Künstler sondern von einem Holzfäller mit der Axt. Die Nase saß in diesem Gesicht wie eine Kartoffelknolle. Sein Spitzname hätte Knubbelnase sein können, aber bestimmt hätte es niemand überlebt, ihn mit einem solchen Titel zu belegen.

Michael schlang sein Essen in sich hinein. Er achtete nicht auf den neuen Gast, der sich zu dem Mann in der Nische setzte. Der vierschrötige Kerl hieß Gladblood, der andere Censo, doch er hatte einen Beinamen, der viel mehr verriet. Man nannte Censo die Viper.

„Wirt! Bier!“, brüllte Gladblood, kaum dass er sich neben Censo niedergelassen hatte. Dann schlug er diesem herzlich auf die Schulter, als wäre er ein alter Bekannter. „Für meinen Freund hier auch!“

Censo blickte den grölenden Riesen kalt an. Gewiss hätte Gladblood den Mann an seiner Seite um Haupteslänge überragt und war auch fast doppelt so breit, doch bei diesem Blick gefror ihm das Blut in den Adern.

„Ich wüsste nicht, dass wir uns schon begegnet wären, mein Herr“, vernahm Gladblood eine Stimme scharf wie ein Rasiermesser.

Er hatte diesen Gecken mit dem aufgetürmten Turban aus Haaren ein bisschen aufziehen wollen. Jeder Mensch wollte schließlich Spaß, wenn er ins Wirtshaus ging. Und Spaß bestand in den Augen Gladbloods in erster Linie darin, Schwächere zu verprügeln oder eine wehrlose Frau zu missbrauchen. Jetzt sah er allerdings, dass er sich ein schlechtes Opfer für seinen Spaß herausgesucht hatte.

„Nehmt es mir nicht Übel“, bat Gladblood in einem unterwürfigen Tonfall, den gewiss nur wenige bisher aus seinem Munde kannten. „Ich heiße Gladblood und lade euch zu einem Bier ein.“

„Tut mir Leid“, erwiderte Censo lächelnd. Es bereitete ihm Vergnügen den dummen Herkules winseln zu hören. „Ich muss einen kühlen Kopf bewahren. Das gehört zu meinem Beruf.“

Gladblood beugte sich neugierig vor und berieselte sein Gegenüber bei der Frage: „Was ist euer Beruf, Fremder?“

„Ihr seid zu neugierig. Seltsam, dass ihr noch lebt“, erwiderte der Gefragte. Er lächelte Gladblood erneut an, doch dem war nicht wohl bei diesem Lächeln.

Der Wirt kam und brachte Gladblood das Bier. Als er sich wieder abwandte, trat ihn jener kräftig mit dem Stiefel des rechten Fußes in den Hintern. Gladblood brauchte das im Moment. Er musste sich abreagieren. Dieses Bürschchen war zwar schmächtig, doch witterte Gladblood die Gefahr. Er war in dieser, wie in manch anderer Hinsicht wie ein Gorilla.

Der Wirt segelte ein Stück durch die Luft, dann schlug er hart auf dem Boden auf. Das Tablett, auf dem das Bier gestanden hatte, rutschte über den Boden und unter eine Bank. Es klapperte laut und vernehmlich. Dies war der Augenblick als Michael aufmerksam wurde. Er hob den Blick von seinem Teller und sah zu dem angeschlagenen Gastwirt hinunter. Denn ließ er den Blick zur Nische schweifen und stellte fest, wer den Mann so arg behandelt hatte. Der bullige Kerl mit dem wilden, ungepflegten Vollbart sah aus, als könne er einen Mann mit einem Fausthieb töten, aber auch sein Tischnachbar erschien Michael nicht sympathisch. Von seiner Erscheinung ging eine süßliche Falschheit aus wie von einer Hure.

Michael schob den Rest seiner Mahlzeit weg. Mit einem Mal war sein Hunger vergangen. Er wollte nur noch so schnell es ging dieses Wirtshaus verlassen und die Pension erreichen, wo er heute die Nacht zu verbringen gedachte.

„Idiot“, zischte Censo sein Gegenüber an, als er bemerkte, dass Michael ihnen den Blick zugewandt hatte. Censo verspürte nicht übel Lust, diesem aufgeblasenen, hirnlosen Kraftprotz mit einem einzigen Degenstreich die Kehle aufzuschlitzen. Dies war seine Methode, Gegner vom Leben zum Tode zu befördern und er hatte sie schon oft erfolgreich angewandt.

Gladblood lächelte hündisch ergeben. Er zuckte hilflos die Schultern, als wollte er sagen: Die Versuchung war einfach zu groß, ich konnte nicht anders. Der geschniegelte Geck mit dem tödlichen Lächeln wandte seine Aufmerksamkeit von ihm ab und Gladblood atmete auf. Er wusste, dass es besser war, dieses Wirtshaus schnell und ohne weitere Eskapaden zu verlassen. Sein Instinkt sagte ihm das. Michael war dabei, die Zeche zu zahlen, dann fragte er den Wirt nach einem Platz, wo er sein Pferd unterstellen konnte. Der Wirt bot ihm an, es im Stall hinter der Schenke zu lassen und der Gute Träumer nahm dankend an.

Als er dies erledigt hatte, machte er sich auf den Weg zur Pension ‚Zur Quelle‘.

Als der Gute Träumer den Markt überquerte, wanderte sein Blick wie magisch angezogen hinauf zum Schloss. Es lag direkt vor ihm auf der äußersten Kante des Felsplateaus. Wer dort auf einer Zinne der Befestigung stand, konnte bis tief ins Herz der Stadt blicken, wenn er ein gutes Glas besaß. Er sah das bunte Gewimmel auf dem Markt, das heute vom Regen fortgespült worden war. Er sah die vielen traumlosen Menschen in gramgebeugter oder traumwandlerischer Haltung durch die Straßen ziehen. Wer immer dort oben auch wohnte, musste wissen wie es um die Menschen im Reich stand. Wenn er es kalten Herzens ansehen konnte, musste er zu denen gehören, die der Traumlord ungeschoren gelassen hatte, weil ihre Kälte seinen Zielen nützte.

Vielleicht aber war auch der Herr über dieses Schloss traumlos und leer.

Michael wandte den Blick vom Schloss und lenkte seine Schritte nach rechts, wie es ihm der Tuchhändler geraten hatte. Er bedachte die kunstvollen Schnitzarbeiten am Gebälk des Rathauses mit einem flüchtigen Blick, dann war er in einer engen Seitengasse, die gut für einen Überfall aus dem Hinterhalt getaugt hätte. Doch unbehelligt erreichte er die Stiege, die sich nach halber Strecke nach linke wandte. Offenbar lag die Pension auf etwa halber Höhe des Schlossfelsens, direkt zu dessen Füßen.

Der Wirt der Pension ‚Zur Quelle‘ ähnelte dem Tuchhändler etwa so sehr wie das Schwein dem Reh. Kein Mensch hätte beide als Brüder erkannt. Der Wirt war wahrlich fett. Um seine Hüften lag eine dicke Wulst, die wie ein umgelegter Reifen aussah. Sein Gesicht war aufgedunsen. Er hatte Hängebacken wie ein Hamster und blickte aus kleinen Schweinsäuglein auf den Gast. Er trug keine Haare mehr auf dem Kopf, aber stattdessen hatte er eine mit Fettflecken übersäte flache Mütze auf dem kahlen Schädel. Diese riss er vom Kopf und verbeugte sich, als Michael sich auf zwei Schritte genähert hatte. Die Verbeugung bereitete ihm offensichtliche Mühe, denn er gehörte zu jenen Menschen, die die eigenen Fußspitzen höchstens im Spiegel sehen können.

„Ich grüße euch, Fremder. Wünscht ihr ein Zimmer in meinem bescheidenen Hause?“

„Man sagte mir, ihr hättet welche frei“, erwiderte Michael und trat näher. Durchdringender Schweißgeruch trieb ihn wieder ein wenig zurück. Der Wirt war nicht nur fett wie ein Schwein, er roch auch so.

„Man hat euch nicht zum Narren gehalten. Bei mir findet ihr Zimmer mit der besten Aussicht auf die Stadt. Außerdem bin ich bekannt für meine gute Küche.“

‚Hoffentlich kocht ihr nicht selbst‘, dachte Michael. „Was soll ein Zimmer kosten?“, wollte er wissen.

„Nun, ich werde es euch für vier Nickel überlassen“„ erwiderte der Wirt und ging Michael voraus ins Haus. Die Eingangstür war so schmal, dass er Mühe hatte sich hindurchzuzwängen.

‚Eines Tages wird er steckenbleiben‘, dachte sich der Gute Träumer und musste schmunzeln.

Das Haus war nicht besonders groß, schien aber sauber und gut geführt. Als der Gute Träumer es betrat, roch er zwar sofort den Geruch, den der Wirt verströmte, doch war er stark gedämpft und von Blütenduft überlagert. Dieser entströmte mehreren Schalen, die im Foyer und den Gängen aufgestellt waren und getrocknete Blüten und Blätter enthielten.

„Tragt bitte in dieses Buch euren Namen und woher ihr kommt“, bat der Wirt. „Ich werde euch mein bestes Zimmer geben. Es hat eine kleine Terrasse, von der man über die gesamte Stadt schauen kann. Ich bin sicher, es wird euch gefallen.“

„Leider bin ich nicht nur zum Vergnügen in Asgood“, sagte Michael und nahm den dargebotenen Schlüssel entgegen.

„Trotzdem kann es nicht falsch sein, sich einen guten Überblick über die Stadt zu verschaffen“, erwiderte der Wirt und hatte damit zweifelsohne Recht.

Außerdem, so dachte Michael, war seine Reise bisher nicht immer angenehm gewesen. Warum sollte er da nicht wenigstens für eine Nacht eine ihrer positiven Seiten genießen? „Recht habt ihr, Herr Wirt“, sagte der Gute Träumer also und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Er musste über sein Vorgehen am kommenden Tag nachdenken, denn nur wenn er sehr konzentriert zu Werke ging, sah er für sich eine Chance den Stern von Asgood zu finden.

Als er am Abend desselben Tages auf der Terrasse vor seinem Zimmer stand und über das schlafende Asgood blickte, dachte er an die vielen unglücklichen Menschen in den Häusern, die traumlose, hoffnungslose Tage und Nächte verbrachten, seit der Traumlord seine Macht ausübte. Er blickte auf die wenigen erleuchteten Fenster, die verloren gegen die Dunkelheit ankämpften und danach zu den Sternen empor. Sie leuchteten hell über der Stadt, denn nach dem Regen war der Himmel wieder aufgeklart. Jetzt war er wolkenlos wie die Träume eines Neugeborenen.

Irgendwo in der Stadt saßen zur selben Zeit fünf Männer beieinander und beratschlagten, wie man den Guten Träumer am besten zur Strecke bringen konnte. Dieser aber ahnte nichts davon. Er wusste genauso wenig davon, dass Gladblood in dieser Nacht Aranxa einmal mehr vergewaltigte. Er tat dies, obwohl sie ihre blutroten Tage hatte und es bereitete ihm gerade deshalb eine perverse Freude. Er tat es in jener Nacht auch, weil er sich noch immer ärgerte über sein Erlebnis in der Schenke, wo er vor einem Lackaffen, wie er ihn nannte, geduckt hatte.

So verging der alte Tag und der neue begann.

Der Traumlord

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