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IV.

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Als der Gute Träumer die Lichtung erreichte, hatte sich die Sonne bereits seit zwei Stunden hinter den Horizont zurückgezogen. Im Wald hatte die Finsternis der Ewigkeit geherrscht und Michael hatte sich bei der Suche nach dem rechten Weg vor allem auf die Instinkte seines Pferdes verlassen. Endlich hatte sich das Dach aus Ästen über seinem Kopf gelichtet und den Blick auf einen klaren Sternenhimmel und einen Mond im ersten Viertel freigegeben.

Michael hatte ein Feuer entfacht, seine Decken auf dem Boden ausgebreitet, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es keine Skorpione und Spinnen gab, und sich danach niedergesetzt und ein einfaches, aber stärkendes Mahl begonnen.

Während er Brot und Wurst verzehrte und zwischendurch in einen Apfel biss, dachte er an den bisher zurückgelegten Weg. Er war vor nicht ganz zwei Wochen in seinem Heimatdorf Ramos aufgebrochen, um den Traumlord zum Kampf zu stellen und zu besiegen. Niemand hatte ihn ausgesandt. Die Menschen in Ramos waren alle ihrer Träume beraubt und daher nicht in der Lage, eigene Entscheidungen von solcher Tragweite zu treffen, wie jene, einen Mann auszusenden, um ihren Peiniger zu vernichten. Sie, die Männer und Frauen von Ramos, waren ebenso wie die meisten Menschen im Reich gerade noch in der Lage zu entscheiden, wann sie Essen und Trinken mussten, um nicht zu sterben, und dass sie den Befehlen des Traumlords gehorchen mussten, um keine Schmerzen oder den Tod zu erleiden.

Der Vater des Guten Träumers, ein stattlicher und schöner Mann, dessen Traum viele glückliche Kinder waren, war vom Schwert eines Ninja getötet worden, den der Traumlord ausgesandt hatte. Michaels Vater hatte einfach nicht mehr den Willen aufgebracht, sich aus dem Bett zu erheben, um seine Arbeit auf den Feldern des Traumlords zu tun. Er hatte im Bett auf seine Träume warten wollen, die ihm gestohlen worden waren. Deshalb hatte der Traumlord ihn ermorden lassen. Er nannte das ‚ein Exempel statuieren‘. Das war geschehen, bevor Michael entdeckt hatte, dass seine Träume stark genug waren, die des Traumlords zu besiegen.

Das hatte er erst begriffen, als die Sache mit Luisa geschehen war. Luisa war einmal das Mädchen des Guten Träumers gewesen. Sie hatte immer davon geträumt, Tänzerin und Schauspielerin zu werden. Sie hatte sogar Talent, jedenfalls glaubte Michael das noch immer. Aber dann hatte man ihr die Träume gestohlen, und sie war zu einer billigen Schlampe geworden. Jeder hatte sie haben können, der ihr im Wirtshaus nur einen Schnaps spendierte. Weil sie schön war, bekam sie viel Schnaps.

Trotzdem hatte Michael nie ganz aufgehört, sie zu lieben. Er hatte gewusst, dass nicht Luisa selbst, sondern der Traumlord an ihrem neuen Schicksal die Schuld trug.

Eines Tages hatte er gesehen, wie ein Ritter der Dunklen Garde Luisa aus dem Wirtshaus herauszerrte. Es war ganz offensichtlich, dass er sie zu seinem Pferd bringen wollte, um sie zu verschleppen. Luisa mochte zu einer verkommenen Hure geworden sein, doch so verdorben, dass sie es für einen von der Dunklen Garde getan hätte, war sie nicht. Michael konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mädchen so verdorben sein könnte. Luisa hatte sich gewehrt, hatte dem Ritter das Gesicht zerkratzt und ihn gebissen. Sie hatte sich gebärdet wie eine tolle Hündin, obwohl sie sich bei anderen Männern eher wie läufig aufführte. Schließlich war sie doch auf dem Pferd des Ritters der Dunklen Garde gelandet.

Da hatte Michael zum ersten Mal den Weißen Ritter herbeizitiert. Er war erschienen, hatte den fremden, dunklen Ritter besiegt und Luisa befreit. Luisa war noch in derselben Nacht aufgebrochen und in ein Kloster gegangen. Das änderte für Michael nichts an seiner Situation bezüglich des geliebten Mädchens, aber es war dem Herz angenehmer als ihr Hurenleben.

Michael hatte begriffen, welche Macht seine Träume hatten, und ihm war zum ersten Mal der Gedanke gekommen, den Traumlord zu besiegen. Zwar vergingen noch fast vier Monate, ehe er wirklich aufbrach, aber der Grundstein zu seinem Entschluss wurde an jenem Tag gelegt. In der Zwischenzeit trainierte der Gute Träumer seine Phantasie, um für den großen Kampf gerüstet zu sein.

Michael brach von Ramos an einem Frühlingsmorgen, wie er schöner nicht hätte sein können, auf. Die Sonne erhob sich als strahlender Ball aus Gold über den fernen Bergen und goss ihr wärmendes Licht über der grünen Ebene aus. Schmetterlinge, Bienen und allerlei andere Insekten auf der Suche nach süßem Blütensaft berauschten sich an den Düften, die die Wärme weckte. Vögel jubilierten hoch in der Luft und priesen die Schönheit des Frühlings mit ihren besten Liebesliedern. Sie warben umeinander und bald würden vielfach gesprenkelte Eier in warmen, wohlbehüteten Nestern liegen, um von besorgten und eifrigen Eltern liebevoll ausgebrütet zu werden.

Michael wusste, dass auch diese Idylle um Ramos nicht mehr lange währen würde, denn der Traumlord hatte Pläne mit dem gesamten Reich und in diese Pläne passten keine unberührten Wiesen. Michael wusste nicht, woher er diese Information hatte, er wusste auch nicht, was der Traumlord genau vor hatte, aber er wusste genug über diesen Tyrannen, um die Wahrheit dieser Information nicht anzuzweifeln.

Zwei Tage später hatte der Gute Träumer Toulux erreicht. Dort hatte er zum ersten Mal erfahren müssen, dass der Traumlord über alle Aktivitäten im Reich ausgezeichnet informiert war. Er hatte ihm ein Rudel wilde Hunde auf den Hals gehetzt, wie es wilder nicht hätte sein können. Michael hatte für einen winzigen Augenblick geglaubt, seine Reisen, die zum Traumlord und die durch sein Leben im Diesseits, wären zu Ende. Doch dann war ihm ein rettender Gedanke gekommen, der sich tatsächlich als wirkungsvoll erwiesen hatte.

In Toulux hatte Michael den greisen Stephan aufgesucht, den man auch den Weisen nannte. Er hatte noch vor seinem Aufbruch aus Ramos herausgefunden, dass dieser Mann vermutlich der einzige im Reich war, der ihm sagen konnte, wo er den Traumlord fand und wie er ihn besiegen konnte. Wenn Michael jetzt im Nachhinein an seinen Besuch beim Weisen Stephan dachte, kamen ihm die gewonnenen Informationen spärlich, ja geradezu nichtig vor. Aber er wollte nicht undenkbar sein.

Als Michael das Haus des alten Mannes betreten hatte, war ihm sofort der Geruch aufgefallen. Es war nicht der Geruch, den Michael in einer Alchimistenküche oder dem Haus eines Weisen erwartet hätte. Es roch nach Urin und Schmutz. Es roch wie alter Mann.

Stephan war ein alter Mann. Vermutlich lebte er bereits weit mehr als hundert Sommer. Die Zeit hatte eine wahre Gebirgslandschaft aus Falten und Runzeln in sein Gesicht eingeprägt. Der Kopf war völlig kahl und zeigte dunkle Altersflecken. Was Michael sofort auffiel, waren Stephens wasserhelle Knopfaugen, die ihn abschätzend betrachteten, kaum dass er den Raum betreten hatte, in dem der alte Mann saß. Michael glaubte, dieser alte Mann würde in ihm lesen wie in einem offenen Buch.

Das Kinn und die nach unten gebogene Nase des Alten sprangen scharf aus dem Gesicht hervor. Sie kamen sich mit den Spitzen so nahe, dass man sofort an den Schnabel eines Vogels denken musste. Selbst wenn er sprach, war die Täuschung noch immer perfekt.

Stephan trug alte, zerlumpte Kleidung, die vermutlich auch eine geraume Weile keiner Reinigung mehr unterzogen worden war. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem kleinen Teppich mitten im Zimmer auf dem Boden. Aus einem seiner Mundwinkel rann ein wenig Speichel. Das gab ihm einen keineswegs weisen Ausdruck.

Aber die Augen, diese Augen machten Michael klar, dass man ihn nicht zum falschen Mann geschickt hatte.

„Guten Tag, mein Sohn“, begrüßte Stephan seinen Gast. Seine Stimme klang, als säßen eingerostete Scharniere in seinen Mundwinkeln.

„Guten Tag, Weiser, ich grüße dich. Ich, Michael aus Ramos, Sohn des David.“ Michael verbeugte sich so tief vor dem weisen Mann, dass sein Kopf fast den Boden berührte. Man hatte ihm gesagt, dass für Stephan Ehrerbietung alles bedeutet. Geld wollte er nicht, aber Hochachtung.

‚Wenn er mir sagen kann, wie ich den Traumlord besiege, werde ich ihm selbst den Hintern küssen, wenn er es verlangt‘, dachte Michael.

„Nimm Platz, mein Sohn und sage mir, weshalb du zu mir kamst.“

Michael sah sich hilflos um, denn da war nichts im Zimmer, wo er hätte Platz nehmen können außer auf dem Boden. Etwas ungeschickt ließ er sich fallen und versuchte eine einigermaßen bequeme Sitzhaltung zu finden. Im Gesicht des Weisen Stephan zeigte sich ein feines Lächeln, das Michael jedoch übersah. Er war zu sehr mit seinen Beinen beschäftigt.

„Sitzt du bequem?“ War das ein Anflug von Ironie? „Dann sage mir, was du von mir willst, mein Sohn“, erneuerte Stephan seine Frage.

„Ich will den Traumlord besiegen“, platzte Michael heraus „Man sagt, du kannst einem dabei helfen.“

„Ich bin alt, ich bin schwach. Wie sollte ich dir helfen können?“

Michael spürte, dass der alte Mann ihn auf die Probe stellen wollte. Er wusste nur nicht, was für eine Art Probe das sein sollte. Er fühlte sich auf den Arm genommen. ‚Ruhig bleiben, besonnen antworten‘, raunte er sich im Geiste dennoch zu. „Du bist alt, das stimmt, doch du bist weise. Alle Welt lobt und preist deine Weisheit. So sage mir also, wie ich den Traumlord besiegen kann.“

Der Alte lächelte.

‚Prüfung bestanden‘, schoss es Michael durch den Kopf.

„Du musst stark sein und mutig“, begann der Weise Stephan seine Erklärung mit Dingen, die Michael auch ohne ihn gewusst hätte. Die Prüfung dauerte an.

„Gewiss“, erwiderte Michael, „doch deine übergroße Weisheit sieht sicher mehr.“

„Ja“, nickte der Alte. „Stärke und Mut allein reichen nicht aus. Du musst gute Träume haben, nicht nur ein paar, die haben alle. Du musst so viele gute Träume haben, dass sie der Traumlord dir nicht nehmen kann. Du musst ihn ersäufen in guten Träumen.“ Plötzlich war die Stimme des alten Mannes schrill und enthusiastisch. Doch dieser Moment war so schnell vergangen wie er gekommen war. Mit seiner knarrenden Stimme fuhr er fort: „Und du brauchst drei Dinge aus dem Reich, ohne die du den Traumlord nicht besiegen kannst.“

„Welche Dinge?“, platzte Michael ungestüm heraus und dachte im gleichen Augenblick, dass er damit alles verdorben habe. Aber der Weise Stephan überhörte die Unschicklichkeit. Ihm lag auch viel am Ende des Traumlords. Mehr als ein Mensch im Reich ahnte. Er hätte den Traumlord selbst besiegt, wenn er die Kraft dazu besessen hätte.

„Gemach, mein Sohn“, rügte der alte Mann daher nur leicht. „Ich werde es dir sagen. Du brauchst für deine Aufgabe drei Dinge: den Stern von Asgood, den Fels aus der Wüste Gohan und das Buch von Nekros. Suche diese Dinge, nimm sie mit auf deine Reise und du wirst den Traumlord besiegen.“

„Du sprichst in Rätseln, weiser Mann“, sagte Michael. Er hoffte auf mehr Information.

„Dann löse sie“, antwortete der Weise Stephan nur.

„Wo finde ich den Traumlord?“, fragte Michael noch einmal genauer nach.

„Du wirst es erfahren, wenn es an der Zeit ist“, kam prompt die Antwort, die Michael befürchtet hatte.

„Gehe jetzt deines Weges, Guter Träumer, und finde die drei Dinge, die ich dir nannte. Eine Hilfe will ich dir noch geben. Asgood, die große Stadt, liegt im Süden.“ Der alte Mann nickte dem Guten Träumer, er hatte ihn als erster Mensch so genannt, zu und deutete damit an, dass die Unterredung beendet war. Michael zog sich zurück und dachte über die drei Dinge nach, die er finden sollte. Er konnte sich weder vorstellen, was dies für Dinge waren, noch konnte er erkennen, wie sie ihm helfen sollten, den Traumlord zu besiegen. Vielleicht hatte sich der Alte nur über ihn lustig gemacht? So kam ihm die ganze Sache von Anfang an vor. Vielleicht war alles nur ein subtiler Scherz des Traumlords, eine Falle weitaus raffinierter als die Attacke der wilden Hunde?

Während Michael ins Freie trat und, von der Sonne geblendet, schützend eine Hand vor seine Augen hielt, saß der Weise Stephan noch immer auf seinem Teppich und dachte über den jungen Mann nach, der ihn gerade verlassen hatte. Stephan war sich sicher, dass, wenn je einer zu ihm gekommen war, dem er zutraute, den Traumlord zu finden und zu besiegen, dieser soeben vor ihm gestanden hatte. Er hatte ihm gesagt, was es zu sagen gab. Wenn er wirklich der Richtige war, der wahre Gute Träumer, dann würde er das Rätsel um die drei Dinge lösen. Nur ein Mann, der dieses Rätsel löste, war am Ende auch wirklich fähig, dem Traumlord gegenüberzutreten, um ihn zu besiegen. Für jeden anderen war es besser, wenn er dem Traumlord niemals begegnen würde. Darum wies Stephan allen, die ihn fragten, den Weg mit diesem Rätsel. Einer würde es eines Tages bewältigen und er würde dann den Traumlord vertreiben, damit die Menschen im Reich wieder glücklich und voller Träume leben konnten.

Der alte Mann nickte still vor sich hin, die eigenen Gedanken bekräftigend. Es war richtig, diese seltsame Antwort auf die klare Frage zu geben. Sie bedeutete Leben für den Fragesteller, ob er die drei Dinge fand oder nicht. Eine direkte Antwort hätte bei vielen, die vor diesem jungen Mann gekommen waren, Tod bedeutet.

Während der Weise Stephan in seine Betrachtung der Lage vertieft war, schwang sich der Gute Träumer auf sein Pferd und ließ es in südliche Richtung traben. Dort, so hatte der alte Mann gesagt, sollte die große Stadt Asgood liegen, in deren Mauern Michael einen Stern finden musste, wenn er den Traumlord besiegen wollte.

Während er Richtung Süden ritt, begann Michael, über seine Aufgabe nachzudenken. Er sollte einen Stern in einer Stadt finden. Sicherlich war damit kein wirklicher Stern, kein glühender Feuerball vom Firmament gemeint. Aber was, in drei Teufels Namen, war dann dieser rätselhafte Stern? Gab es irgendwo in Asgood eine steinerne Nachbildung eines Sterns? Das würde sich erst klären lassen, wenn er die Stadt erreichte. Also hieß die Devise: schnell nach Asgood gelangen und dann weitersehen. Aber selbst dies war kein so leichtes Unterfangen, wie es schien.

Sicherlich war es nicht möglich, einfach stur geradeaus nach Süden zu reiten, um irgendwann einmal in Asgood anzukommen. Man musste den Wegen durch Wälder folgen, Wege, die möglicherweise verschlungen waren, sich kreuzten, ein Labyrinth bildeten. Er musste damit rechnen, dass ein Fluss seinen Weg kreuzte, so dass er gezwungen war, eine Brücke oder Furt zu finden. Nein, es war gewiss nicht so leicht, nach Asgood zu gelangen, wie der alte Mann es gesagt hatte. Einfach immer nach Süden.

Was Michael brauchte, war eine Karte. Eine Karte des ganzen Reiches, die ihm nicht nur den Weg zur Stadt Asgood wies, sondern auch einen Weg durch die Wüste Gohan und zu dem Ort, der Nekros hieß.

Von der Wüste Gohan hatte der Gute Träumer früher des Öfteren gehört, doch nie Gutes. Es musste eine gewaltige Ansammlung von Sand und Salz sein, die schon viele Karawanen verschlungen hatte, die sie bezwingen wollten. Stürme rasten ständig über das flache, leblose Gebiet und vernichteten alle Eindringlinge, die die Stille des Todes stören wollten. Michael schauerte ein wenig zusammen bei dem Gedanken, dass er sich allein in die Wüste wagen musste, um einen ominösen Felsen zu finden. Und wie, wenn er ihn denn fand, sollte er ihn aus der Wüste herausschleppen?

Ja, und dann war da noch dieses Buch von Nekros. Michael wusste weder was Nekros war, noch wo es lag. Er hatte vor seinem Besuch beim Weisen Stephan nicht einmal gewusst, dass es so einen Ort im Reich geb. In Anbetracht der anderen Rätsel konnte Nekros ebenso gut eine Bibliothek sein, die Millionen von Büchern enthielt, von denen er ein einzelnes, wirklich wichtiges finden musste, wie euch eine versunkene Insel in einem unendlich tiefen Meer.

Michael, der Gute Träumer, schüttelte ratlos den Kopf. Egal, wie es weitergehen sollte, als erstes benötigte er eine Karte des Reiches, und zwar eine gute.

Nachdem Michael einen Tag lang in Richtung Süden geritten war, verbrachte er die Nacht in einem riesigen Maisfeld. Die Sprosse waren noch jung und ihr frisches Grün übte eine belebende Wirkung auf den müden Reiter aus. Wenn aber der Sommer vorüber sein würde, blieb hier ein unheimlicher Ort. Der Wind würde beständig in den dürren Blättern rascheln, die die geldgelben Kolben umgaben. Dann wäre es hier wie in der Wüste, nur es wäre eine Wüste aus Mais.

Am nächsten Morgen brach Michael schon mit dem ersten Sonnenstrahl wieder auf und als sich die Sonne langsam dem Zenit entgegenschob, erreichte er ein Dorf, kaum größer als Ramos. Obwohl Frühling war, Zeit zu säen und auf den Feldern jetzt Sorge zu tragen, dass die Saat auch aufging, lagen die Felder um das Dorf herum in Totenruhe. Auch im Dorf selbst herrschte die Betriebsamkeit eines Friedhofes um Mitternacht. Keine Kinder liefen durch die Straßen. Fenster und Türen des Wirtshauses waren mit Brettern vernagelt. Ein einzelner Hund, hinkend und mit einem zerfetzten rechten Ohr, lief über die Straße, passierte den Guten Träumer und hob an der nächsten Straßenecke ein Bein. Nur dieser Hund und ein lauer Wind von Westen schienen noch in diesem Dorf zu Hause zu sein.

Während er sich umsah, rechnete der Gute Träumer ständig mit einem Angriff des Traumlords. Er hatte es in Toulux mit wilden Hunden versucht. Jetzt waren wohlmöglich Geister oder Zombies an der Reihe. Wachsam sah Michael sich um, doch nichts geschah. Nur der Wind wehte beständig von Westen und trieb Papier vor sich her über die Straße.

Nachdem er eine ganze Weile beobachtet hatte, entschloss sich der Gute Träumer weiterzureiten. Er drang weiter zur Mitte des Dorfes vor, doch auch dort herrschte nur der Wind. Das Zunftschild eines Barbiers schaukelte quietschend hin und her. Eine Ratte sprang behände in eine Abfalltonne, als sie den Reiter bemerkte.

Dieses Dorf war verlassen. Vielleicht hatte der Traumlord seine Bewohner als Sklaven verkauft, vielleicht hatte er sie umbringen lassen, weil sie nicht ausreichend gehorsam waren, obwohl er ihre Träume genommen hatte. Vielleicht hatten sie in einem Anfall kollektiver Massenhysterie gemeinsam Selbstmord begangen. Im Reich war alles möglich, seit der Traumlord regierte.

Michael hatte das Dorf schon fast passiert, da entdeckte er den Mann, der an der Eingangstür seines Ladens stand und offenbar auf Kunden wartete, die hier gewiss nicht sehr oft vorbeikamen. Der Laden lag in einer Nebenstraße, doch waren seine Auslagen von der Hauptstraße aus noch recht gut auszumachen.

Die Situation war grotesk. Das es in diesem Geisterdorf einen Laden gab, der geöffnet hatte und einen Ladenbesitzer, der auf Kundschaft wartete, war so vernünftig, wie sich in einen Baum zu setzen, um im Wald zu angeln. Immer stärker roch es nach einer Falle des Traumlords, doch Michael fühlte sich gewarnt und also gewappnet. Außerdem war er neugierig. Schließlich, vielleicht war es doch keine Falle, und dieser Ladenbesitzer hatte gar eine Karte des Reiches.

Michael lenkte sein Pferd vor die Eingangstür des Ladens. Er warf einen Blick auf die Auslagen, die ein buntes Gewimmel aus allen Branchen darstellten und stieg ab.

„Guten Tag, was kann ich für euch tun, edler Herr“, vernahm Michael die Stimme des Ladenbesitzers, kaum dass seine Füße den Boden berührt hatten. Die Stimme war ölig und voll von falscher Höflichkeit. Es war die Stimme eines Krämers, der alle Kunden übers Ohr hauen möchte.

Michael sah dem Ladenbesitzer ins Gesicht. Es war feist und rund und zeigte ein Lächeln, das ebenso schmierig war wie die Stimme. Das Haar war kurz geschoren und dunkel. Es stand wie die Stacheln eines Kaktus vom Kopf ab. Außerdem hatte der Mann Ohren die soweit abstanden, dass er bei Sturm gewiss nicht auf die Straße gehen durfte ohne Gefahr zu laufen, weggeweht zu werden. Das gab ihm eine lächerliche Note, doch wäre es falsch gewesen, diesen Mann für eine lächerliche Figur zu halten. Er war verschlagen, geldgierig und hinterlistig. Seine Träume waren Träume von Geld und von Kunden, die er heimtückisch ausgenommen hatte. Diese Träume waren ihm geblieben

„Habt ihr Landkarten?“, fragte der Gute Träumer nach eingehender Musterung des Ladenbesitzers.

„Landkarten sind selten geworden im Reich“, entgegnete der Ladenbesitzer. „Umso größer ist euer Glück, dass ihr gerade Mikos beehrt mit eurem Wunsch, denn Mikos kann fast alle Wünsche erfüllen und Landkarten habe ich viele.“

„Ich brauche eine neue und genaue Karte des gesamten Reiches“, präzisierte Michael seinen Wunsch.

„Sofort“, erwiderte Mikos und verschwand wieselflink in den hinteren Teil seines Ladens. Er schob seinen Körper, der ebenso rund war wie sein Gesicht, durch einen Durchgang, der mit einem roten Samtvorhang vom eigentlichen Laden abgetrennt war, und erschien kurze Zeit später mit einer Papierrolle wieder. Die Rolle war auf der für Michael sichtbaren Seite makellos weiß und wurde von einem roten Band zusammengehalten.

„Hier ist das Gewünschte“, verkündete Mikes ein wenig atemlos, als er wieder vor seinem Kunden stand.

„So eine Karte ist allerdings nicht billig“, fügte er dann hinzu, wobei er den Kopf schieflegte wie ein Vogel, der einen Wurm ins Visier nimmt. „Fünf Taler!“

„Bei diesem Preis will ich doch erst sehen, ob dies wirklich die rechte Ware ist“, erwiderte Michael. „Öffnet die Rolle, damit ich einen Blick auf die Karte werfen kann.“

Die Wahrheit war, dass Michael nicht mehr als einen Taler bei sich trug, doch er musste Zeit gewinnen, um sich etwas einfallen zu lassen,

Der Händler öffnete das rote Band und entrollte die Karte vor den Augen des Guten Träumers. Tatsächlich war es eine Karte des Reiches. Soweit Michael dies überhaupt einschätzen konnte, war es auch eine recht neue Karte. aber in dieser Hinsicht musste er Mikos vertrauen, auch wenn dieser nicht wie ein Mensch aussah, dem man vertrauen durfte.

„Gut, ich werde die Karte nehmen“, sagte Michael nach kurzer Betrachtung.

„Wie gesagt, fünf Taler.“

Fünf Taler für eine Karte waren Wucher. Als das Reich noch nicht vom Traumlord beherrscht wurde, war eine Karte für weniger als ein Zwanzigstel dieses Preises zu haben. Aber jetzt regierte der Traumlord und eine Karte hatte ihren Preis!

Michael griff in die Tasche, legte eine Münze auf den Holztisch neben der Tür zum Laden und sagte: „Bitte, aber die Preise sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

„Harte Zeiten“, erwiderte Mikos und nahm die Münze.

Michael hatte erst mit dem Gedanken gespielt, dem Händler eine Zehn-Taler-Goldmünze vorzugaukeln, aber dann hatte er sich entschieden, dass dies nicht nur zu dick aufgetragen wäre für seinen Aufzug (‚verdächtig, der Typ ist verdächtig‘), sondern dass es ihn auch auf eine Stufe mit diesem schmierigen Betrüger stellen würde. Also zahlte er mit einer erträumten Fünf-Taler-Goldmünze und verabschiedete sich.

„Empfehlen Sie mich weiter“, sagte Mikos, als sich Michael wieder auf sein Pferd schwang. Dabei machte er eine Verbeugung, die so tief war, als wolle er Michaels Pferd die Hufe küssen. „Es ist eine harte Zeit, es kommen nur wenige Kunden.“

‚Das glaub‘ ich gern‘, dachte Michael, dann ließ er seinem Pferd die Zügel und ritt im Galopp davon. Wenn er weit genug entfernt war, würde statt der Goldmünze ein Nickel auf dem Tisch des Händlers liegen – das Zehntel eines Talers.

Wenn Michael jetzt, jenseits des Waldes der ewigen Finsternis, an diesen Händler dachte, musste er unwillkürlich lachen. Er war ein betrogener Betrüger geworden und das bereitete dem Guten Träumer Vergnügen.

Er breitete die Karte vor sich aus, trug mit einem Rotstift die zurückgelegte Wegstrecke des vergangenen Tages ein, markierte mit blauer Farbe das neue Tagesziel und stellte fest, dass er Asgood in vermutlich drei Tagen erreichen würde. Dies setzte voraus, dass die Brücke, die in der Karte verzeichnet war, noch existierte.

Zufrieden mit dem an jenem Tag erreichten rollte der Gute Träumer die Karte wieder zusammen. Danach warf er noch etwas Holz ins Feuer und legte sich nieder. Im Wald riefen Tiere mit heiseren Stimmen, Vögel der Nacht kreischten und Zikaden musizierten auf der Wiese um die Wette. Dennoch fiel der Gute Träumer bald in tiefen Schlaf.

Der Traumlord

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