Читать книгу Fünf Dinge, die wir nicht ändern können und das Glück, das daraus entsteht - David Richo, David Richo, Дэвид Ричо - Страница 9
Gegebenheiten als Geschenke
ОглавлениеDas Wort Gegebenheit hat zwei Bedeutungen. Es ist ein Umstand, an dem wir nichts ändern können, aber es ist auch etwas, das uns gegeben wurde. Sobald wir Ja sagen, offenbaren sich die Gegebenheiten plötzlich als Geschenke, als geschickte Mittel der Evolution. Die Gegebenheiten sind unerbittlich, aber auch reich an Weisheit. Nur unter solch anspruchsvollen und fordernden Bedingungen konnten wir uns entwickeln. Die Gegebenheiten des Lebens sind Geschenke, weil sie die Zutaten von Charakter, Tiefe und Mitgefühl sind.
Wie finden wir den Aspekt des Geschenks in den vielen Herausforderungen des Lebens? Zuerst und vor allem müssen wir davon ablassen, sie kontrollieren oder abwenden zu wollen. Dann verwandeln sich die mysteriösen Gegebenheiten in Türen zur Freiheit. Aber wir Menschen haben schon seit langer Zeit mit Abwehr und Widerstand auf die Herausforderungen des Lebens reagiert. Tatsächlich ist unser Widerstand gegen Unannehmlichkeiten Teil unseres menschlichen Erbes. Es entbehrt nicht der Ironie, dass wir so verzweifelt versuchen, das abzuwehren, was zu unserem Menschsein gehört und was die Bedingungen darstellt, die letztlich unser Wachstum bewirken.
Der Satz „Die Dinge hinnehmen, die wir nicht ändern können“ mag sich so anhören, als müssten wir die Dinge nur deshalb akzeptieren, weil wir sie nicht ändern können. Haben wir erst einmal wirklich verstanden, dass das, was sich unserer Kontrolle entzieht, vielleicht genau das ist, was wir brauchen, erkennen wir, dass das Annehmen der Wirklichkeit unsere eigene Art und Weise sein kann, aktiv an unserer eigenen Evolution teilzunehmen. Gelassenheit ergibt sich nicht nur daraus, dass wir annehmen, was wir nicht ändern können, sondern auch daraus, dass wir es aufgeben, immer die Kontrolle haben zu wollen. Das, was uns geschieht, hat einen Sinn, und dieser Sinn ist vielschichtig, daher werden in diesem Buch immer wieder darauf zurückkommen.
Das bedingungslose Ja macht uns bereit, Freude ebenso wie Schmerz zu erfahren. Die Welt zu ihren Bedingungen anzunehmen, heißt, ein heldenhaftes Leben zu führen. In den klassischen Heldensagen gibt es immer eine Zeit des Kampfes, in der der Held sich den Bedingungen der Existenz stellen muss. Ein Held ist jemand, der Schmerz durchlebt hat, von ihm transformiert wurde und ihn benutzt, um anderen zu helfen. So wie Shakespeare in King Lear sagte:
Ein sehr armer Mann, zu den Streichen des Glücks zahm gemacht,
den die Kenntnis und das Gefühl aller Arten von Elend gegen andre mitleidig macht.
Die Gegebenheiten des Lebens statten Lear mit Mitgefühl gegenüber anderen aus. Unsere spirituelle Arbeit ist nicht bloß persönlich. Wir Individuen werden von dem glühenden Drang beseelt, die evolutionären Möglichkeiten des kollektiven menschlichen Geistes zu aktivieren. Letzten Endes widmen wir uns der spirituellen Praxis, damit wir die ganze Menschheit zusammen mit uns zur Erleuchtung bringen können. Es ist tatsächlich eine in das Gutsein eingebaute Eigenschaft, von sich selbst zu geben: Wie Aristoteles sagt: „Güte kann nicht anders als sich zu verschenken.“
Für Wesen, die so komplex und kreativ sind wie wir, wäre es nicht befriedigend, in einer Welt ohne herzzerreißende Gegebenheiten zu leben. Shakespeare, Mozart oder Einstein hätte es in einer Welt, in der die Dinge sich nicht verändern und nicht enden, in der alles vollkommen vorhersehbar ist, in der es im Leben kein Leiden gibt und jeder uns wirklich liebt, nicht gegeben. Eine solche Welt wäre oberflächlich und letztlich „ekel, schal und flach und unersprießlich“, wie Hamlet von seiner begrenzten Welt sagt.
Für kreative Menschen haben die Bedingungen der Existenz einen Sinn, der weit über die Bedeutung hinausgeht, die unsere Gesellschaft ihnen beimisst. Sie modellieren die Gegebenheiten des Lebens als Kunstwerk um. Das liegt daran, dass die Gegebenheiten Quellen der Kreativität und neuer Möglichkeiten sind. Unsere eigenen Unvollkommenheiten und die der Welt werden zum Rohmaterial für ein Meisterwerk. Der Künstler nimmt es und verdaut es, verarbeitet es zu etwas Nützlichem und Aufbauendem für andere, so wie ein Vogel, der seine Jungen mit Futter füttert, das er vorverdaut hat.