Читать книгу Auf königlichem Pfad - Deborah Joyner Johnson - Страница 11
Kapitel Eins
ОглавлениеIch habe dich von den Enden der Erde geholt, aus ihrem äussersten Winkel habe ich dich gerufen. Ich habe zu dir gesagt: „Du bist mein Knecht, ich habe dich erwählt und dich nicht verschmäht.“
(Jesaja 41,9)
Zoe spähte angestrengt in die Weite und wagte kaum zu atmen, weil sie fürchtete, es würde alles wieder verschwinden. Ein Mann stand bei ihr. „Was siehst du?“
Den Blick immer noch in die Ferne gerichtet, antwortete sie: „Einen Ort, der schöner ist als alles, was ich mir je hätte vorstellen können.“
Er lächelte, als er die Sehnsucht in ihren Augen sah. „Du kannst dorthin kommen …“ Ihre Augen rissen sich von dem Land los, als sie den Mann voller Hoffnung anblickte.
Er fügte schlicht hinzu: „Es gibt einen Weg.“
Das waren stets die letzten Worte ihres Traumes. Zoe liess ihn immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen, weil sie verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, ob ihr der Mann nicht vielleicht doch noch gesagt hatte, wie sie dieses wunderbare Land finden könnte – aber es half alles nichts. Sie ging nach draussen und setzte sich an den Bach, um nachzudenken. Sie erinnerte sich wieder an die überraschende Unterhaltung, die sie erst gestern mit angehört hatte, als ein Mann mit einer Frau über ein Land weit jenseits des Kristallmeeres sprach. Sie hatten es Remira genannt und erwähnt, dass ein Freund dorthin gereist war. Es war ein so wunderschöner Ort, dass er beinahe wie eine Wunschvorstellung erschien – das ganze Land war erfüllt von Frieden und Freiheit. Ganz unwillkürlich dachte sie, dass sich dieser Ort ganz genau so anhörte wie das Land in ihrem Traum. Wenn er es nun wirklich war, sehnte sie sich mehr als alles andere danach, dorthin zu kommen. Sie warf kleine Kieselsteine ins Wasser und musste plötzlich feststellen, dass sie noch niemals in ihrem Leben etwas Abenteuerliches unternommen hatte. Noch ahnte sie nicht, dass sich all das bis zum Sonnenuntergang schlagartig verändern sollte.
Die Zeit verging. Zoe wurde langsam hungrig. Deshalb ging sie auf dem ausgetretenen Pfad zurück zu ihrem kleinen Steinhäuschen. Wenn ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren, kam es häufiger vor, dass sie das Essen einfach vergass, wie man an ihrer schmalen Gestalt erkennen konnte. Mit ihrer zierlichen Figur, den goldbraunen Augen und der strahlenden Gesichtsfarbe, die von den vielen Stunden stammte, die sie im Freien verbracht hatte, war sie wirklich eine seltene Schönheit – eine Tatsache, derer sich Zoe aber nicht im Geringsten bewusst war.
Als Zoe sich ihrem Häuschen näherte, hielt sie im Rosengarten an, um den Duft der vollen Blüten einzuatmen. Sie blickte sich um und musste innerlich zugeben, dass dies der erste Ort war, der ihr jemals wie ein Zuhause vorgekommen war. Es gefiel ihr hier, aber dennoch wusste sie tief in ihrem Inneren, dass es in diesem Leben noch mehr geben musste. Sie konnte dieses Gefühl einfach nicht abschütteln.
Drinnen liess ihr der Duft von frischem Haferbrei über dem Feuer das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie schöpfte sich schnell eine grosse Schüssel voll und setzte sich zum Essen, als es plötzlich an der Türe klopfte. Sie spähte durch das Fenster und entdeckte einen Fremden, der seltsam gekleidet war. Seine Kleider sahen ganz anders aus als die der Leute in ihrem Dorf Brenmoor. Als Zoe ihm ins Gesicht sah, setzte ihr Herzschlag für einen Augenblick aus. Es war der Mann aus ihrem Traum. Er hatte sogar den gleichen wilden, weissen Haarschopf und die Kleider aus Schaffell. Er klopfte erneut. Sie zögerte noch, die Tür zu öffnen, aber dann war ihre Neugier stärker als ihre Vorsicht – sie musste einfach wissen, wer er war und was er wollte.
Sie biss sich auf die Unterlippe und war entschlossen, ihre Furcht nicht zu zeigen, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete. „Guten Tag“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich bin Kieran, ein Bote des Königs. Seid Ihr Zoe Hirschfeld?“
Ihre Stirn legte sich in Falten, während sie nervös mit ihren langen braunen Locken spielte. „Ja, das bin ich.“
„Ich habe etwas für Euch vom König.“ Er hielt ihr ein säuberlich eingewickeltes braunes Bündel entgegen, an dem vorne ein Umschlag befestigt war.
Mit grossen, verwunderten Augen öffnete sie die Tür ein wenig weiter, um das Bündel entgegenzunehmen. „Vom König – für m… mich?“
„Ja, ich habe eine weite Reise auf mich genommen, um es Euch zu bringen.“ Er bemerkte ihre Unsicherheit und lächelte erneut.
Sie sah den Umschlag an, der an dem Bündel befestigt war, und strich mit den Fingern über das Berg-Wappen, mit dem er versiegelt war. Sie scharrte unruhig mit den Füssen und fragte: „Was ist das? Worum geht es?“
Er grinste breit: „Möchtet Ihr nach Remira kommen?“
Ihre Augen weiteten sich ungläubig: „Remira?“
Der Bote entgegnete geduldig: „Wo der König lebt.“
In ihren Augen leuchtete ein Hoffnungsschimmer auf. „Ich habe bisher nur Geschichten über Remira gehört, aber Ihr sagt, dass es dieses Land wirklich gibt?“
„Aber gewiss doch – alle dort leben in Frieden, weil unser König in Gerechtigkeit herrscht und allen Freiheit schenkt. Es gibt weder Krankheit noch Tod in Remira, weil die Liebe dort in ihrer höchsten und reinsten Form regiert, und die Liebe ist stärker als der Tod. Hier habt Ihr einen Feind, der versucht, alles Leben zu zerstören, indem er immer wieder neuen Streit und Zwietracht hervorbringt. Aber er ist aus Remira verbannt. Alle Lebewesen sind von Harmonie und Wohlgefallen erfüllt, vom Gras bis zu den Blumen, von den Tieren bis zu den Menschen.“
„Ist es wirklich möglich, dass es einen solchen Ort gibt, und dass wir von hier aus dorthin reisen können?“, fragte Zoe, die kaum fassen konnte, was der Bote gesagt hatte.
Kieran lächelte und nickte so voller Gewissheit, dass Zoe spürte, wie auch sie anfing zu glauben. Dann fuhr er fort: „Es steht mir nicht frei, Euch alles zu offenbaren, was Eure Suche betrifft. Aber eines kann ich Euch sagen: Wenn Ihr Euch für diese Reise entscheidet, werdet Ihr Euch verändern. Wenn Ihr erfolgreich seid, wird Euer Leben nicht länger von Furcht geprägt sein, wie Ihr es so oft in Eurer Vergangenheit erlebt habt. Ihr werdet vielmehr ein Leben in Frieden führen; und Ihr werdet gebraucht werden, um Frieden an diesen Ort zurückzubringen.“
„Ich glaube nicht, dass mein Leben von Furcht geprägt ist, wie Ihr sagt. Ich lebe sehr friedlich hier allein.“
„Wenn das so ist, weshalb wagt Ihr Euch nie sehr weit von zu Hause fort?“
Zoe starrte den Mann nur kurz an. „Woher wisst Ihr das?“
„Ich bin ein Bote des Königs, und Er weiss alles. Er kennt Euch besser als jeder andere.“
„Aber wie kann das sein? Ich habe den König noch nie gesehen.“
„Ihr werdet es noch verstehen, wenn Ihr Euch entschliesst, diese Reise zu machen.“
Sie überdachte die Einladung gründlich. Kieran erwartete von ihr, sich im Glauben zu einem Ort aufzumachen, den sie bislang nur in einem Traum gesehen hatte, und von dem sie andere Leute hatte reden hören – wenn es denn der gleiche Ort war. Wie konnte sie sicher sein, dass es diesen Ort wirklich gab?
Als wüsste er, was gerade in ihrem Kopf vor sich ging, sagte er: „Ihr müsst Euer Herz prüfen. Ihr werdet die Antwort tief in Eurem Innersten finden.“
Zoe blickte auf den Bach vor ihrem Haus. Mit einem Mal erkannte sie, dass sie entweder ihr restliches Leben in Tagträumen verschwenden oder sich auf diese Suche begeben konnte. Aber auf der anderen Seite, weshalb sollte sie die Behaglichkeit ihres hübschen, kleinen Heims aufgeben, um sich auf diese Reise ins Unbekannte zu machen? Sie bewegte diese Gedanken hin und her. „Gewährt Ihr mir einen Tag Bedenkzeit?“
„Ja. Ich kehre morgen um diese Zeit zurück und erwarte Eure Antwort.“ Als er sich zum Gehen wandte, hielt er noch einmal inne und blickte ihr tief in die Augen. „Wenn Ihr Eure Entscheidung trefft, lasst Euch nicht von Furcht beherrschen. Wenn Ihr das zulasst, werdet Ihr in einem Leben des Bedauerns gefangen sein. Ich versichere Euch, sobald Ihr Euch bei dieser Suche auf den Weg macht, wird der König Euch zu Hilfe kommen.“
Der Bote sah sie noch durchdringender an und fragte: „Wisst Ihr, was Euer Name bedeutet, Zoe?“
„Nein. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.“
„Euer Name bedeutet Leben. Der König hat ein Leben in Fülle für Euch, und gleichzeitig neues Leben. Ihr habt doch immer schon gespürt, dass es noch mehr in Eurem Leben geben muss, als nur zu existieren, oder nicht?“
„Nun ja, also, ich meine, ich wollte schon immer einmal an andere Orte reisen und Neues sehen. Ich lebe so zurückgezogen – manchmal wünsche ich mir so sehr, etwas anderes zu tun …“ Ihre Augen schweiften träumerisch umher. „Ich wusste einfach nie, was es war, bis ich diesen Traum hatte.“
„Es gibt noch so viel mehr für Euch, Zoe. Aber Ihr werdet Glauben nötig haben, um dieses neue Leben zu beginnen, und grossen Mut, um weiterzugehen.“ Kieran lächelte sie beruhigend an. „Ich würde gerne noch bleiben, um mich länger mit Euch zu unterhalten; aber ich muss Euch jetzt verlassen, da ich noch eine weite Reise vor mir habe. Morgen kehre ich zurück, um Eure Antwort zu erfahren.“ Mit diesen Worten wandte er sich schnell zum Gehen und liess Zoe voller Fragen zurück.
Sie ging still ins Haus zurück und setzte sich auf ihren alten blauen Lieblingssessel. Die Federn knarrten und quietschten bei jeder Bewegung. Aber die Vertrautheit gab ihr Trost. Sie zündete eine Kerze an und öffnete langsam den Umschlag. Vorsichtig liess sie den Brief herausgleiten.
Meine liebe Zoe,
Du bist in mein Reich Remira eingeladen. Ich habe eine Karte mit einem vorgezeichneten Weg für dich bereit gemacht, auf dem du gehen musst.
Du musst dich fest an diesen Weg halten, der dich zu mir führen wird. Deine Reise ist voller Gefahren, und viele meiner Feinde werden versuchen, dich aufzuhalten, deshalb musst du unterwegs wachsam sein. Die Gefahren sind gross, aber wenn du erfolgreich bist und die Reise vollendest, wird der Lohn ungleich grösser sein.
Auf dem Weg wirst du auf Freunde stossen, die dir helfen werden. Nimm sie an und lerne von ihnen.
Dein König