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KAPITEL 1

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Niemals hätte Zoe Collins erwartet, dass sie je wieder einen Fuß auf die Straßen von Copper Creek setzen würde. Doch nun war das Einzige, was sie dazu hätte bewegen können, passiert.

Ein wenig wackelig auf ihren hohen Absätzen stieg sie aus dem dunklen Sedan. Brady, ihr Bruder, hakte sich wortlos bei ihr unter, während sie ihrem Vater über den gepflegten Friedhof folgten, der Grannys neue irdische Ruhestätte werden würde.

Sie atmete die Frühlingsluft tief ein und betrachtete die Berge und Tannenwälder, die sie umgaben. Copper Creek schmiegte sich in die hügeligen Ausläufer der Berge von Georgia. Manche mochten sagen, ein Besuch in dem Städtchen sei ein wie ein Ausflug in alte, einfachere Zeiten, aber für Zoe waren die Erinnerungen an zu Hause eine widersprüchliche Mischung aus Glückseligkeit und Jammer und Elend. Vor allem Jammer und Elend.

Ihr Freund, Kyle, war mit ihrer Tochter Gracie im Hotel geblieben. Zoes lange begraben geglaubte Trauer und ihre Schuldgefühle rangen mit dem überwältigenden Gefühl der Erleichterung darüber, endlich allein zu sein. Sie beschloss, sich auf Letzteres zu konzentrieren, und füllte ihre Lungen mit dem vertrauten süßen Duft der Heimat: Es roch nach Hyazinthen, Sonnenschein und Freiheit.

Als sie sich dem Zelt näherten, kam Zoes beste Freundin auf sie zu. Hope Daniels hatte sich kein bisschen verändert – mit ihrem dunklen, gewellten Haar und den funkelnden grünen Augen war sie immer noch eine Naturschönheit. Wenn sie lächelte, sah sie Rachel McAdams täuschend ähnlich. Aber heute war keine Spur ihres breiten Lächelns zu sehen.

Zoe löste sich von Brady, um sie zu begrüßen, und fand sich in einer Riesenumarmung wieder, wie nur Hope sie zustande brachte. Ein Teil Liebe, zwei Teile Boa Constrictor.

„Zoe.“

„Hey, Hope“, quetschte Zoe heraus.

„Es tut mir so leid, dass ich es nicht zur Trauerfeier geschafft habe.“

„Mach dir keine Gedanken. Es tut gut, dich zu sehen.“

Obwohl Hope das Rusty Nail eigentlich nur am Wochenende managte, hatte sie einspringen müssen, weil eine Grippewelle einen Teil der Angestellten aus dem Verkehr gezogen hatte. Ihre große Liebe galt dem Radio. Auf einem Lokalsender moderierte sie eine tägliche Talkshow namens „Living with Hope“, bei der Hörerinnen und Hörer anrufen und über ihre Probleme reden konnten. Dabei konnte sie ihren Abschluss in Psychologie gut gebrauchen, für den sie so hart gearbeitet hatte.

„Wie geht es dir?“

„Ganz okay, glaube ich.“

Hope ließ sie los. Zoe schaffte es, einmal tief durchzuatmen.

„Oh, ich habe dich so vermisst“, sagte ihre Freundin. „Fünf Jahre sind viel zu lang – und kaum ein Anruf“, schimpfte sie. „Aber macht nichts. Ich spare mir die Gardinenpredigt für einen besseren Zeitpunkt auf.“

„Das mit deinem Feingefühl wird immer besser. Gut gemacht.“

„Nicht wirklich. Wart‘s nur ab.“ Hopes Blick huschte zum Zelt hinüber. „Also, wo ist denn jetzt dieser süße kleine Engel, den ich endlich mal zu fassen bekommen will? Es ist wirklich ein einziges Elend, wenn man sich mit Facebook und Instagram begnügen muss.“

„Ich habe gedacht, eine Beerdigung sei vielleicht ein bisschen verwirrend für eine Vierjährige. Außerdem wollte ich auch nicht, dass sie Dad ausgerechnet hier kennenlernt, also habe ich sie bei Kyle gelassen.“ „Ich kann nicht glauben, dass du immer noch mit dem zusammen bist.“

Zoe legte den Kopf schief. „Und du wunderst dich, warum ich nie anrufe. Kyle war für uns da, Hope.“

„Lass uns später darüber reden. Angemessener Zeitpunkt und so.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Zoes Augen wanderten zum Zelt. „Ich finde es grässlich, dass ich nicht bei den Vorbereitungen helfen konnte. Wir konnten einfach nicht früher aus Nashville weg.“

Hope presste die Lippen zusammen. Offenbar unterdrückte sie den Impuls, einen weiteren Gedanken zu äußern. „Nun ja … du weißt ja, wie deine Großmutter war. Sie hatte schon alles soweit geregelt, Gott sei ihrer Seele gnädig. Viel war gar nicht zu tun. Wie geht es denn Brady heute? An dem Tag, als sie gestorben ist, war er völlig fertig.“

Zoe betrachtete ihren Bruder, der jetzt unter dem Zelteingang stand. Der schwarze Anzug passte gut zu seiner großen, stattlichen Erscheinung und den kurzen, dunklen Haaren. Er plauderte mit ihrem Vater, und sie versuchte, die beiden nicht um ihr entspanntes Verhältnis zueinander zu beneiden. Seit sie weggegangen war, hatte Zoe nur noch sporadischen Kontakt mit Brady gehabt – und mit allen anderen eigentlich auch.

Granny. Jetzt war es zu spät. Die Schuld drückte sie schwer. Aber sie schüttelte das Gefühl ab.

„Wie macht sich Brady seit der Scheidung?“, fragte Zoe.

Hope zuckte die Schultern. „Wie es zu erwarten war, glaube ich. Ich weiß nicht, wie er je mit dieser Frau zurechtkommen konnte, aber den kleinen Sam liebt er auf jeden Fall sehr. Alle zwei Wochen darf er ihn am Wochenende haben, weißt du.“

Während Zoes Abwesenheit hatte Audrey Brady verlassen und ihm zweifellos das Herz gebrochen. Noch eine Person, die sie im Stich gelassen hatte.

„Er wollte das Sorgerecht, aber Audrey ist dagegen vorgegangen und hat gewonnen. Ich könnte schwören, dass sie das nur aus Trotz gemacht hat.“

Nach allem, was Zoe über Audrey wusste, stimmte das womöglich. Aber sie wollte nicht mehr über ihren Bruder nachdenken. Das Thema kam einem Bereich zu nahe, den sie unbedingt vermeiden wollte.

„Wie geht es dem Hof, jetzt, wo Granny nicht mehr da ist?“, fragte sie.

„In den letzten paar Jahren hat sie kaum noch selbst die Aufsicht darüber geführt. Sie hat sich um die Einzelhändler gekümmert, aber davon abgesehen ist der Laden quasi wie von selbst gelaufen. Kein Wunder, bei all der Hilfe, die sie hatte.“ Hope öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas hinzufügen, biss sich aber auf die Lippe.

Zoe schloss die Augen und konnte die Pfirsiche beinahe riechen, so kurz vor der Ernte. Konnte die samtweiche Haut spüren und das saftige, süße Fruchtfleisch schmecken. In ihrer Kindheit hatte sie jede freie Stunde auf der Plantage verbracht. Dort war es schöner gewesen als zu Hause, besonders, nachdem ihre Mama gestorben war. Sie hätte vor ihrer Abreise gerne noch ein paar stille Stunden dort verbracht. Schade, dass Kyle es so eilig hatte, nach Nashville zurückzukehren.

„Ich hätte nie gedacht, dass es ausgerechnet ihr Herz sein würde“, sagte Zoe.

„Ja, das stimmt. Sie wirkte fit wie ein Turnschuh. Gerade letzte Woche noch kam ich in die Scheune, und da stand sie hoch oben auf einer Fünf-Meter-Leiter. Ich habe sie gefragt: ‚Was machst du denn da oben, Granny Nel?‘, und sie antwortete: ‚Ich wechsele eine Glühbirne.‘ ‚Komm bloß da runter‘, habe ich gesagt, ‚du bist ja vier Meter hoch über dem Boden!‘ Und sie antwortete: ‚Was die perfekte Höhe ist, um diese Glühbirne auszuwechseln.‘“

Zoe grinste wehmütig. „Klingt ganz nach ihr.“

Reue wütete in ihr wie eine Sturmflut im Frühling. Zoe war von zu Hause weggegangen, weil sie geglaubt hatte, sie hätte Granny und alle anderen enttäuscht. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr Weggang selbst die größte Enttäuschung überhaupt sein würde. Die Reue drohte, sie in die Tiefe zu ziehen, aber sie kämpfte darum, an der Oberfläche zu bleiben. Das tat sie häufig in letzter Zeit. Eines Tages würde sie den Kampf verlieren.

Hope drückte Zoes Unterarm. „Hey. Jetzt reicht es aber mit den traurigen Augen. Granny Nel hätte nicht gewollt, dass du ihretwegen heulst.“

Zoe blinzelte die Tränen weg und schaute von Hope zu den Autos, die immer noch eintrafen. Sie ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen, während Hoffnung und Grauen in ihr um die Oberhand rangen. Schnell wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.

„Du hast recht. Erzähl mal, was hier so los ist. Wie geht es dir? Was habe ich verpasst?“

„Ach, du kennst doch Copper Creek. Hier ändert sich nicht viel. Ich mache immer noch meine Radiosendung und arbeite am Wochenende im Rusty Nail.“

„Du bist viel zu bescheiden. Ich habe im Internet einen Artikel gesehen, in dem stand, dass ,Living with Hope‘ immer beliebter wird. Du hast einen Preis gewonnen, oder?“

Hope antwortete mit einem Schulterzucken. „Ich liebe, was ich tue. Aber das ist nur ein Lokalprogramm.“

„Nicht mehr lange. Du bist auf einem guten Weg, meine Liebe.“

„Das werden wir sehen. Aber wie steht’s bei dir?“ Hope stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. „Vorprogramm für richtig coole Bands und so.“

Kyles Band, Brevity, war die Vorgruppe für einige berühmte Künstler gewesen. Das war schon etwas Besonderes gewesen, vor so einem großen Publikum aufzutreten.

„Na ja, ich bin ja nur Backgroundsängerin.“

„Also bitte! Dein Gesang ist umwerfend. Weißt du was, Last Chance spielt morgen Abend im Rusty Nail. Mit denen solltest du ein paar Lieder singen.“

„Oh, so lange bleiben wir aber gar nicht. Nach der Beerdigung fahren wir wieder.“

Hope schaute überrascht. „Machst du Witze? Du bist doch gestern Abend erst angekommen. Ich habe fast fünf Jahre darauf gewartet, dass du mal wieder vorbeischaust.“

„Tut mir leid. Wir haben einen Auftritt, für den wir zurückmüssen.“ Und so schön es auch war, wieder mit Hope zu reden und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen − es gab auch andere Leute, die sie weit weniger gerne sehen wollte.

Die Nachzügler trudelten im Zelt ein, eine kleine Gruppe von Menschen in gedeckten Farben. Es war beinahe an der Zeit, anzufangen.

Sie drückte Hopes Hand. „Ich muss los. Wir reden später.“

Sie wandte sich um, strebte über den unebenen Weg zum Zelt und wäre beinahe gestolpert, als ihr Blick auf die Person fiel, nach der sie Ausschau gehalten hatte.

Cruz Huntley hatte noch nie besser ausgesehen. Sein frisches weißes Hemd bildete einen schönen Kontrast zu seiner puerto-ricanischen Hautfarbe, und die Anzugsjacke betonte seine breiten Schultern. Genau in dem Moment sah er auf. Der Blick aus seinen dunklen Augen durchbohrte sie förmlich.

Ihr Herz schlug wie eine Basstrommel in ihrer Brust, während sie seinem Blick einen langen, schmerzhaften Moment lang standhielt. Erinnerte er sich an die letzte Beerdigung, die sie zusammen besucht hatten? Und an alles, was sonst an jenem Tag geschehen war?

Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln.

Sie riss sich los. Fixierte den weißen Sarg, der im Zelt aufgebaut war. Konzentrierte sich auf die Farbexplosion des Blumenschmucks, der auf dem Sarg arrangiert war. Schüttelte sich Cruz aus den Gedanken. Daran würde sie heute nicht denken. Mal davon abgesehen, dass sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Mal davon abgesehen, dass er ihr einmal das Herz gestohlen hatte – nur, um es anschließend gründlich zu brechen.

Du bist ein dummes Gör, Zoe.

Im Zelt setzte sie sich auf einen Stuhl zwischen ihren Bruder und Dad. Sie versuchte, die Kälte, die ihr Vater ausstrahlte, zu ignorieren. Im Beerdigungsinstitut hatte sie versucht, ihn zur Begrüßung zu umarmen, aber er war in ihren Armen nur steif geworden. Sie war zurückgewichen. Seine Zurückweisung traf sie wie ein Stachel, der sich immer weiter in sie bohrte.

Dad war noch nie Grannys größter Fan gewesen. Seine Schwiegermutter war für seinen Geschmack viel zu munter gewesen und hatte Zoes Streben nach Unabhängigkeit nur bestärkt. Das war immer schon ein Streitpunkt zwischen den dreien, was nach dem Tod von Zoes Mutter nur schlimmer geworden war.

Aber sie würde jetzt nicht über der Beziehung zu ihrem Dad brüten. Heute ging es um Granny. Darum, sie zu ihrer letzten Ruhe zu betten.

Zoe leerte ihre Lungen und ließ den Gedanken sacken. Ließ zu, dass der Schmerz in ihrer Brust anschwoll, bis er sich nach außen Bahn brach. Als spürte er die Welle des Schmerzes, die sie überkam, drückte Brady ihre Hand. Sie drückte zurück.

Granny ist nicht mehr da.

Der Gedanke traf sie wie ein Vorschlaghammer, als Pastor Jack nach vorne ging, um ein paar letzte Worte zu sagen. Ihre Großmutter war nicht mehr da. Und mit ihr war auch die Liebe weg, die Zoe selbst aus der Ferne noch begleitet und gestärkt hatte.

Irgendwie fühlte sich das unwirklich an. Irgendwie hatte sie gedacht, Granny würde sie alle überdauern. Aber nichts hielt für immer. Nicht einmal die Liebe.

Der Duft von Pfirsichen

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