Читать книгу Tod im Bankenviertel - Detlef Fechtner - Страница 13

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Im Grunde musste Oskar seinem Hausnachbarn Karim, dem marokkanischen Gemüsehändler im Erdgeschoss, dankbar sein. Denn hätte Karim sich an diesem Samstagmorgen nicht aus Wut über parkende Autos vor seiner Hofeinfahrt an der Hupe seines Kleinbusses ausgetobt und mit lauter Stimme alle Schimpfworte der arabischen Welt durch den Oeder Weg gebrüllt, wäre Oskar wohl erst am frühen Nachmittag aufgewacht und hätte sein Rugby-Spiel verschlafen. Denn er war erst um halb sechs morgens eingeschlafen.

Nach der merkwürdigen Verfolgungsjagd in Sachsenhausen nämlich, bei der er unversehends vom Jäger zum Gejagten geworden war, und nach einem anschließenden hektischen Wettlauf gegen den Redaktionsschluss, war Oskar am gestrigen Freitagabend viel zu durcheinander gewesen, um früh ins Bett zu gehen. Um sich abzulenken, war er stattdessen am späten Abend noch ins Spurlos gezogen, in seinen Lieblingsclub um die Ecke vom Goethehaus. Dort hatte er sich ohne großen Anlauf betrunken. Aber selbst eine ordentliche Dosis Alkohol reichte nicht, um richtig müde zu werden. Zuhause in seinem Bett lag Oskar noch fast zwei Stunden wach und versuchte, die Mosaiksteine der Geschichte zu ordnen, die er am Vortag erlebt hatte und die für ihn immer noch keinen rechten Sinn ergab. Erst als es draußen schon wieder hell wurde und unten der Zeitungsbote an den Briefkästen klapperte, schlief Oskar endlich ein – für immerhin sechs Stunden. Eben bis sein Nachbar Karim mit seinem Kleinbus unfreiwillig vor der Einfahrt stoppen musste und deshalb einen solchen Radau machte, dass davon selbst Menschen im Tiefschlaf und mit Restalkohol im Blut aufgeweckt wurden. Oskar hatte gerade noch Zeit für eine Dusche und für einen raschen Blick auf die Titelseite des Finanzblatts, als er es unten aus dem Briefkasten zog. Gleich unter dem Bruch platziert war der Einspalter, den Oskar gestern noch rasch in der Redaktion zusammengeschrieben hatte – über die Beruhigungsversuche der Bundesbank mit Blick auf die NordwestLB: Berenbrink nimmt Banken in Schutz. Darunter stand auf gerade einmal zwanzig Zeilen eine Kurzzusammenfassung vom Auftritt des Bundesbankpräsidenten vor der Alten Oper und ein Schnelldurchlauf der neuesten Gerüchte über die Landesbank. Eingeleitet war die Meldung mit der Ortsmarke Frankfurt am Main und dem Kürzel des Verfassers: owi – für Oskar Willemer.

Auf den wenigen Schritten zu seiner Vespa fiel Oskar noch ein anderer Einspalter auf der Titelseite ins Auge. In der Ecke unten links stand der Artikel über den Sturz aus dem Tower der Hypo-Union. Das Opfer, so hieß es im Leadsatz, sei nach Informationen dieser Zeitung bereits tot gewesen, bevor es auf dem Boden aufgeschlagen war. Verdammt, wo hatte Stolberg das denn aufgeschnappt, dachte sich Oskar – bevor ihm wieder einfiel, dass er es ja eigentlich sehr eilig hatte. Es war allerhöchste Zeit, um sich mit der Vespa Richtung Niddapark aufzumachen.

Als Oskar gegen halb eins mittags mit dem Motorroller von der Rosa-Luxemburg-Allee abbog und kurz darauf das Stadiongelände erreichte, war die gegnerische Rugby-Mannschaft aus Heusenstamm gerade dabei, ihren Bus zu verlassen. Oskar eilte in die Umkleiden, wo ihn seine Mannschaftskameraden schon sehnlichst erwarteten, wechselte seine Schuhe, zog seine Stutzen hoch, stopfte das rot-weiße Trikot in die schwarze Rugby-Shorts und stapfte zum lauten Klang, den die Stollenschuhe auf dem Steinboden erzeugten, mit den anderen Jungs durch den Kabinengang an die frische Luft.

Erst jetzt fiel Oskar auf, dass die Eintracht nicht in Bestbesetzung antrat. Benjamin Beckmann – Oskars Busenfreund und rasender Reporter bei Worldnews – fehlte.

„Wo zum Teufel ist denn Ben?“, fragte er seinen Teamkollegen Gerard.

„Der hat vorhin absagen müssen, hat irgendwelchen Ärger gehabt und musste zur Polizei.“ Für weitere Erklärungen blieb keine Zeit.

Die Eintracht tat sich überraschend schwer gegen die Gäste aus dem Umland. Zur Halbzeit stand es unentschieden – neun zu neun – und Ulli, der Spielercoach, war damit ganz und gar nicht zufrieden.

„Verdammt noch eins, warum traut ihr euch denn heute überhaupt nichts zu, Jungs?“, stauchte er seine Mannschaftskollegen zusammen – und wandte sich besonders eindringlich direkt an Oskar: „Mann, Oskar, trau dich und zieh einfach gerade!“

Die zweite Hälfte begann – und sofort kam die Eintracht in arge Bedrängnis. Erst wenige Meter vor der eigenen Linie gelang es, einen Heusenstammer gerade noch zu stoppen, bevor er punkten konnte. Das Ei sprang nach links, dann nach rechts und landete schließlich bei Oskar. Der hatte eigentlich genug Zeit, das Spielgerät mit einem Befreiungs-Kick aus der Gefahrenzone zu dreschen. Oskar aber dachte überhaupt nicht daran, sondern fasste sich ein Herz. Ihm kamen die mahnenden Worte seines Trainers in den Kopf: Mann, Oskar, trau dich und zieh einfach gerade! Und als hätte er überhaupt keine andere Wahl, nahm Oskar direkt Kurs auf seinen völlig überraschten Gegenspieler.

Genau das hatten sie unendlich oft im Training geübt: Du läufst auf dein Gegenüber zu und schaust ihm direkt ins Gesicht. Dann steht vor dir nicht mehr dieser wuchtige Kerl mit den dicken Armen, der dir Furcht einflößt. Vielmehr wirst du in diesem Augenblick, in dem du kerzengerade auf ihn zustapfst, selbst den stärksten Gegner verunsichern. Spätestens dann hast du gewonnen, weil du dich dann traust, ihn frontal anzugreifen.

Oskar rannte also in vollem Tempo auf seinen Gegenspieler zu und sah dessen weit aufgerissene Augen. Mit viel Schwung und ausgestrecktem Arm schob Oskar den verdutzten Heusenstammer Gegner wie eine Pappfigur aus dem Weg und rannte mit festem Schritt und nahezu ungebremst weiter. Statt einem sofort heranrasenden Deckungsspieler der Heusenstammer auszuweichen, entschied sich Oskar erneut für die frontale Konfrontation – und abermals gelang es ihm, den Gegner dank seiner Unverfrorenheit aus dem Weg zu räumen. Damit hatte er ein Loch in die Defensive der Gäste gerissen und sich einen kleinen läuferischen Vorsprung herausgearbeitet. Mit langen Schritten stiefelte er auf die Heusenstammer Stangen zu und landete nach einem abschließenden Sprung schließlich hinter deren Linie.

Nach diesem 90-Meter-Sprint hatte Oskar zwar nicht mehr genug Puste, um zu jubeln. Aber ihm war, noch bevor ihn seine Mitspieler umarmten, klar, dass er eben den fulminantesten Alleingang seiner Rugby-Karriere hingelegt hatte.

Es war bereits halb sechs, als sich Oskar – mittlerweile frischgeduscht – wieder auf den Heimweg machte. In den Umkleiden unten in den Katakomben des Waldstadions hatte die Eintracht den letztlich dann doch noch klaren Sieg gegen die Heusenstammer ausgiebig gefeiert – und vor allem Oskar hochleben lassen. Denn dessen beherztes Solo zu Beginn der zweiten Halbzeit hatte dem Spiel die entscheidende Wendung gegeben. Am Ende stand es 36:15 – Grund genug für eine ausgedehnte Siegesfeier in der Kabine, mit zwei Kästen Bier, allerlei Gesängen, Sprechchören und Tänzen unter der Dusche.

Oskar spürte seine schweren Beine, als er die alte Steintreppe hochstieg und über den Parkplatz zu seinem Motorroller schlenderte. Auch schmerzte ihn der rechte Unterarm ein wenig, denn der Heusenstammer Halbspieler war ihm mit seinen Stollenschuhen unabsichtlich auf den Ellenbogen getreten. Trotzdem fühlte Oskar sich pudelwohl und ließ lächelnd die Eindrücke des Spiels noch einmal in Gedanken Revue passieren, bis ihn eine vertraute Stimme jäh aus seinen Tagträumereien riss. Es war Ben Beckmann.

„Gratuliere, Matchwinner“, sagte Benjamin und klatschte Oskar ab.

„Ach, naja“, murmelte er etwas verlegen. „Aber, sag mal, wo warst du denn überhaupt?“

Benjamin setzte zur Antwort an, biss sich auf die Lippe, holte tief Luft und nahm erneut Anlauf – aber statt zu antworten, brach er in Tränen aus.

„Um Gottes Willen, Ben“, erschrak Oskar, ließ seine Sporttasche fallen und nahm seinen Freund in die Arme, der vor ihm Rotz und Wasser heulte wie ein kleines Mädchen in der Geisterbahn. Die vorbeigehenden Sportler blickten sich verwundert um, schließlich bekamen sie so etwas nicht jeden Tag zu sehen: Ein Fast-Zwei-Meter-Hüne mit breitem Kreuz stützte sich auf seinen Mitspieler, weil er von einem Weinkrampf so durchgeschüttelt wurde, dass man um seine Gesundheit bangen musste.

„Ich verstehe das einfach nicht, denn nichts passt da zusammen“, startete Ben von Neuem, nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte. „Ich meine: Wer zur Hölle will mich denn umbringen?“

Jetzt kam auch Oskar mächtig durcheinander: „Umbringen? Wie kommst du denn auf sowas, Ben?“

Benjamin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann Oskar zu schildern, was am Mittag geschehen war. Wie er morgens mit dem Alfa Bertone noch einmal kurz ins Büro bei Worldnews gefahren war – und wie er danach Richtung Niederursel aufbrach.

„Du musst dir das vorstellen, ich fahre ganz normal auf der Orscheler Landstraße, noch nicht einmal schnell. Aber irgendwann muss ich trotzdem ziemlich abbremsen, weil sich ein goldener BMW vor mir im Schneckentempo bewegt – ohne jeden erkennbaren Grund. Ich also folge ihm zunächst ein paar Meter mit vielleicht 20, 25 Stundenkilometern, vor mir nur dieser Schleicher – und ich denke noch, was muss das für ein geschmackloser Mensch sein, dass er sich einen Beamer ausgerechnet in diesem hässlichen Gold bestellt. Irgendwann wird es mir zu blöd, also gehe ich auf die Überholspur und beschleunige. Und was macht dieser Wahnsinnige? Er gibt ebenfalls Gas und lässt mich nicht zurück auf die Spur, sondern hält sich ziemlich genau parallel. Ich bekomme es mit der Angst, schließlich nähert sich langsam die nächste Kurve. Also trete ich voll durch und probiere an ihm vorbeizuziehen. Aber er zieht mit, wir rasen mit 80 oder 90 Sachen nebeneinander her, ich immer noch auf der Gegenfahrbahn, werde zusehends panisch und auf einmal taucht vor mir ein Auto auf, das mir entgegenkommt. Ich gehe voll auf die Eisen, aber dieses Arschloch neben mir bremst ebenfalls voll ab. Gott sei Dank auch der arme Kerl gegenüber – der hat mich wahrscheinlich für einen irren Geisterfahrer gehalten. Und dann habe ich einfach nur verdammten Massel.“

„Wie denn, Massel?“, brach es aus Oskar heraus, der Bens Geschichte entgeistert folgte.

„Na, du kennst ja die Strecke nach Niederursel. Nach der Abzweigung zu den Kleingärten verläuft die Landstraße lange Zeit deutlich oberhalb der Felder links und rechts, und wenn du da irgendwie von der Fahrbahn abkommst, dann gnade dir Gott. Denn da saust du erst einmal ein paar Meter steilen Abgrund herunter. Am Ende der langen Gerade allerdings gleitet die Straße langsam auf das Niveau der Umgebung herab, die Leitplanke endet und du kannst, ohne jeden Graben oder Hügel direkt nach links aufs Feld ausscheren – und genau das habe ich gemacht. Die Federung des Alfa hat mich zwar ein wenig hin und her geschüttelt, aber ich habe die Notausfahrt aufs Feld unversehrt überstanden.“

Oskar war von Benjamins Schilderung erschrocken und völlig durcheinander. Seine Hände begannen zu schwitzen und er merkte, dass sein ganzer Körper von einem leichten Zittern überfallen wurde. Alles, was er zunächst herausbrachte, war ein kopfschüttelndes: „Mannomann.“ Er war zwar viel zu verwirrt, um die Ereignisse kombinieren und einordnen zu können. Aber ihm schwante, dass das bedrohliche Manöver auf der Landstraße nicht gegen seinen Freund Ben gerichtet war, sondern gegen den wahren Besitzer des Alfa, also gegen Tim O’Bowman – oder besser gesagt gegen den, der sich gestern als Tim O’Bowman in der Alten Oper ausgegeben hatte und etwas gesehen hatte, was er wohl nie hätte sehen sollen – also gegen ihn selbst. „Hast du erkennen können, wer den BMW gesteuert hat?“, fragte Oskar nach, als er seine Gedanken wieder einigermaßen geordnet hatte.

„Ich habe nur ganz kurz Blickkontakt gehabt, aber ich werde diese Visage wohl nie wieder vergessen“, antwortete Ben. „Ein fieser Kerl: ein rundes Gesicht, dick mit Doppelkinn, Glatze. Ich habe diesen Scheißkerl noch nie zuvor gesehen, aber wenn er mir irgendwann noch einmal unterkommt, dann steh ihm Gott bei“, sagte Benjamin drohend.

„Hat die Polizei denn keine Fahndung nach diesem Typen eingeleitet?“, fragte Oskar nach.

„Wo denkst du hin, Oz. Die haben mir die ganze Geschichte mit dem BMW sowieso nicht richtig geglaubt, sondern mich für einen blöden, leichtsinnigen Raser gehalten, der sich und die Straße völlig falsch eingeschätzt hat. Meinen Führerschein haben sie erst einmal behalten, den Alfa übrigens auch – aber das macht mir nicht annähernd so viel Sorgen wie die Tatsache, dass es da wohl irgendeinen Vollidioten gibt, der es womöglich auf mich abgesehen hat.“

Benjamin war tatsächlich ziemlich neben der Spur. Oskar kannte ihn bereits seit vielen Jahren, aber er hatte ihn noch niemals unsicher erlebt und erst recht nicht ängstlich. Jetzt aber wirkte er so, als ob er am liebsten in ein fernes Land fliehen würde – oder sich zumindest in irgendein Loch verkriechen, Hauptsache weg von dieser unbekannten Gefahr –, um nicht fürchten zu müssen, an der nächsten Ecke wieder auf diesen dickgesichtigen Glatzkopf zu treffen. Benjamin Beckmann, einer der furchtlosesten Stürmer der zweiten Rugby-Bundesliga, hatte die Hosen voll.

„Ich glaube, ich muss dir eine ganze Menge erzählen, Ben“, sagte Oskar mit schwerer Stimme. „Komm, wir fahren zu mir, ich nehm dich auf dem Roller mit.“

Benjamin verstand zwar kein Wort, folgte aber seiner Aufforderung. Sie fuhren zu Oskar in den Oeder Weg, machten sich zwei Tiefkühlpizzen warm und tranken die Cola-Bestände leer, während Oskar seinem Kumpel haarklein berichtete, was er gestern in der Alten Oper erlebt hatte und wie er wenig später im Malerviertel vor einigen zwielichtigen Typen geflüchtet war. Beide versuchten sie, die verwirrenden Mosaiksteine rund um einen Computerdiebstahl und ein Überholmanöver in eine vernünftige Ordnung zu bringen, aber es gelang ihnen nicht wirklich.

„Wieso gehst du nicht zur Polizei?“, fragte Benjamin.

„Was soll ich denen denn erzählen?“, konterte Oskar und blickte Ben fragend an. „Dass ich jemand beobachtet habe, der einen Computer ausgewechselt hat – obwohl ich noch nicht einmal sicher weiß, ob das wirklich hinter dem Rücken der Besitzer geschehen ist? Und dass mir einige Kerle gefolgt sind, nachdem ich auf deren Grundstück herumgeschnüffelt habe? Nein, Hand aufs Herz, Ben. Da kann ich nun wirklich nicht erwarten, dass deshalb die Polizei ausschwärmt und die Fährte aufnimmt. Außerdem weißt du ja, dass ich ein Problem bekomme, wenn ich mich an die Polizei wende – und erst einmal beichten muss, dass ich mich seit Jahren unter falscher Adresse gemeldet habe.“

„Mag ja alles so sein“, entgegnete ihm Benjamin, „aber ich warne dich davor, der ganzen Sache aus Leichtfertigkeit keine Bedeutung beizumessen. Ich habe diesen Typen im goldenen BMW gesehen – und ich schwöre dir, das war ein richtiges Arschloch, der hatte keine Skrupel. Wenn deine Vermutung also nur ansatzweise stimmt und die Episode mit dem Laptoptausch tatsächlich in irgendeiner Verbindung steht mit dem Albtraum, den ich auf der Orscheler Landstraße erlebt habe, dann tust du sehr gut daran, dich erst einmal verdammt vorsichtig zu verhalten.“

Benjamin klang, als er diesen Ratschlag aussprach, zwar fast wie sein eigener Großvater. Aber nach allem, was in den vergangenen Stunden geschehen war, war jetzt weiß Gott nicht der Zeitpunkt für Lässigkeit.

„Wir müssen unbedingt mehr über dieses Momentum herausbekommen“, dachte Oskar laut vor sich hin, bevor er sich leicht korrigierte: „Ich muss mehr über dieses Momentum herausbekommen.“

Tod im Bankenviertel

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