Читать книгу Tod im Bankenviertel - Detlef Fechtner - Страница 9
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ОглавлениеEin paar Minuten war Oskar orientierungslos durch Foyers und Gänge der Alten Oper geirrt. Dann aber hatte er doch den Agentur-Arbeitsraum gefunden. Er war leer, alle Reporter saßen wahlweise unten im Mozartsaal und lauschten den Vorträgen oder warteten am VIP-Eingang, um Bundesbankchef Berenbrink abzufangen. Oskar schlich durch die Reihen und lunste auf die Bildschirme der aufgeklappten Laptops. Überall blinkten Schlagzeilen und Zahlenkolonnen. Schreibfelder warteten darauf, mit neuen Nachrichten ausgefüllt zu werden. Oskar entdeckte vorformulierte Meldungen auf den Bildschirmen und schnüffelte in den handschriftlichen Zetteln herum, die überall auf den Tischen lagen.
Es ist schon ein abgeschmacktes Leben, das die Agenturleute führen, dachte er für sich. Irgendwo ankommen, die Computer anschließen, alle möglichen Quellen anzapfen, um sich so schnell wie möglich auf den aktuellen Stand zu bringen. Dann herumlungern, Prominente abfangen – eine Meldung rausdonnern, vielleicht auch zwei oder drei. Und danach sofort wieder abbauen und abhauen. Journalistische Nomaden, Wegelagerer, deren einzige Verwurzelung in einer kabellosen Verbindung zur Heimatredaktion bestand.
Oskar blieb vor einem Laptop stehen, der augenscheinlich seinem Rugby-Kollegen Benjamin Beckmann gehören musste. Denn erstens lief auf ihm das Programm der Agentur Worldnews, bei der Ben arbeitete. Und zweitens lag daneben ein Adressbuch, auf dem ein Aufkleber der Eintracht-Abteilung prangte: Spende Blut, spiele Rugby!
Auf dem Bildschirm des Laptops blinkten die aktuellen Meldungen der vergangenen Minute, darunter eine Eilmeldung in roter Schrift: Berenbrink: „Kein Zweifel an der Solidität deutscher Banken“. Oskar schüttelte den Kopf. Was für eine überdrehte Welt, was für ein irrer Wettlauf mit der Zeit!
Durch das geschlossene Fenster hatte er den Opernvorplatz im Blick und konnte dort die Limousine des Bundesbankchefs erkennen. Wenige Meter davon entfernt schüttelten sich Menschen die Hände, die wichtig aussahen und von anderen umringt wurden. Oskar erkannte unter ihnen den Präsidenten der Österreichischen Nationalbank. Und ihm gegenüber stand … na klar, das war Berenbrink – jetzt, wo sich der Bundesbankchef drehte, konnte Oskar ihn einwandfrei identifizieren. Mein Gott, da unten, in Rufweite, stand der oberste deutsche Währungsmanager und hatte noch nicht einmal das Foyer betreten. Aber das, was er vor wenigen Sekunden gesagt hatte, als er aus seinem Auto ausstieg, war durch schnellen Zuruf per Handy an die Newsdesks in den Agenturen übermittelt und von dort aus in alle Welt verbreitet worden – und deshalb nun bereits auf jedem Nachrichtenticker in den Börsenhandelsräumen zwischen New York und Singapur zu lesen, also auch hier auf den Laptops in der zweiten Etage der Alten Oper.
Benjamin hatte ihm neulich nach dem Rugbytraining unter der Dusche erzählt, dass sie bei Worldnews und Realtime mittlerweile daran arbeiteten, Nachrichten von Computern schreiben zu lassen, die sie wiederum so formulierten, dass andere Computer sie fehlerfrei lesen konnten. Denn viele Kunden nutzten Programme, die automatische Börsenaufträge in Tausendstelsekunden aufgeben konnten. Mit ihnen war es möglich, um den Bruchteil einer Sekunde eher im Orderbuch der elektronischen Handelssysteme aufzuschlagen und die Gebote auf der Gegenseite schneller abzuräumen, als das selbst dem schnellsten Händler mit manueller Auftragseingabe gelingen konnte. Völlig losgelöst von der realen Wirtschaft, in einer jenseits der Wahrnehmungsgrenze beschleunigten Welt, wechselten milliardenschwere Wertpapier-Pakete ihre Besitzer – und die Nachrichten verkümmerten in diesem entrückten Handelssystem zur Verdichtung von Kauf- und Verkaufsignalen, zu einem Sammelsurium von positiven und negativen Codes, die von Maschinen mit pawlowschen Reflexen formuliert und übersetzt wurden.
Oskar stand am Fenster und beobachtete, wie sich die kleine Menschentraube auf dem Opernvorplatz auf den Eingang zubewegte. Er kippte das Fenster, der leichte Luftzug tat gut. Er drehte sich noch einmal zu Benjamins Laptop um. Dort war der Name Berenbrink bereits vom Bildschirm verschwunden. Die Eilmeldung über die Banken war längst verdrängt durch Rohstoffmeldungen aus Lateinamerika und Schlagzeilen über das Quartalsergebnis einer Schweizer Versicherung. Was vor zwei Minuten noch den DAX bewegte, war jetzt schon Geschichte.
Oskar richtete sich in der letzten Reihe des Arbeitsraums ein. Hier oben war es nicht nur frischer als unten im stickigen Mozartsaal, es gab auch Verpflegung. Außerdem würde er hier inmitten der Agenturen wohl kaum etwas Wichtiges verpassen. Einzig ärgerlich war, dass beim aufgestellten Großbild-Fernseher, der die Reden aus dem Mozartsaal übertrug, der Ton abgeschaltet war. Na gut, dachte sich Oskar, da muss ich mich wohl selbst drum kümmern, das Gerät auch akustisch wieder zum Laufen zu bringen.
Er öffnete eine Colaflasche an der Stahlkante des Serviertischs, trank sie halb leer und krabbelte dann unter den mit einer großen weißen Decke abgehängten Tisch, auf dem der Großbildschirm stand. Hier unten war es ein wenig muffig, der Teppichboden roch leicht säuerlich. Außerdem war es duster, weil die Tischdecke nach vorne hin abdunkelte.
Es gab so viele Kabel und Stecker, dass Oskar einige Momente brauchte, um sich zu orientieren. Er robbte noch ein Stück nach vorne, sodass auch seine Beine und Füße komplett unter dem Tisch und der Tischdecke verschwanden. Dann drehte er sich leicht seitwärts, um besser in die eigene Hosentasche greifen zu können, kramte sein Handy hervor und nutzte es als Taschenlampe, um die Kabel genauer zu inspizieren. Er musste nicht lange suchen, um das Problem zu entdecken. Der Ton konnte gar nicht übertragen werden, denn die Audiokabel waren durchgeschnitten.
„Was soll das denn?“, wunderte sich Oskar. Er versicherte sich noch einmal, dass er die Leitungen nicht verwechselt hatte, aber es gab nicht den geringsten Zweifel: Die Ton-Übertragungskabel waren mit einem scharfen Schnitt durchtrennt – ein Umstand, auf den sich Oskar auch nach einigem Überlegen keinen Reim machen konnte. Ergebnislos brach er seinen Reparaturversuch ab, verstaute das Mobiltelefon wieder in seiner Hosentasche und begann, sich rückwärts zu bewegen, um unter dem Tisch hervorzukriechen.
Er hielt allerdings sofort inne, als er nur wenige Meter hinter sich Schritte hörte. Und eine Stimme, die etwas flüsterte.
„Nowitzki, ich hab unseren Laptop gefunden. Bleib du vorne an der Tür, solange ich hier umbaue.“
Oskar erstarrte unter dem Tisch. Für einige Sekunden stellte er sogar das Atmen ein, aus Angst, das Geräusch könnte ihn verraten. Er hatte jahrelang als Gerichtsreporter gearbeitet. Er kannte Hunderte Berichte von Zeugen – und erstaunlich viele fingen mit den Worten an: Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl: Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Genau dieses Gefühl umschlich in diesem Moment auch Oskar. Er konzentrierte sich auf alles, was er hören konnte. Kabel wurden aus Steckdosen gezogen, technisches Gerät ein- und ausgepackt. Plötzlich klingelte ein Handy. Erschrocken und hektisch griff Oskar in seine Hosentasche, um es auszuschalten. Erst im nächsten Augenblick stellte er erleichtert fest, dass es gar nicht sein Handy war, das da läutete. Eigentlich hätte er es sofort am Klingelton erkennen müssen, denn der spielte nicht seine Telekom-Melodie, sondern die Rocky-Balboa-Hymne Eye of the Tiger – bammm … bamm-bamm-bamm.
Oskar drehte sich leise um die eigene Achse und schob vorsichtig die Tischdecke einen Spalt nach oben. Nur zwei Schritte entfernt vor ihm stand ein kleingewachsener Südländer im weißen Anzug und schwarzen Schuhen, schätzungsweise höchstens Größe 38. Er machte einen nervösen Eindruck und war sichtlich verärgert darüber, dass man ihn gerade jetzt störte.
„Was zur Hölle ist denn los?“, zischte er ins Mobiltelefon. „Ja, da bin ich doch gerade bei – also warte doch verdammt nochmal fünf Minuten, ich melde mich dann schon.“ Danach legte der Mann auf. „Der Schatzmeister ist doch ein verdammter Scheißkerl. Geht mir total auf die Nerven mit seinen ständigen Kontrollanrufen und Anweisungen“, schimpfte er vor sich hin. Dabei packte er einen mitgebrachten Laptop aus, der exakt so aussah wie der von Realtime, den er gerade eben abgebaut und entkabelt hatte.
„Vorsicht, Vito, da kommt einer“, rief ihm sein Kumpel an der Tür zu. Oskar schob die Decke noch etwas höher und konnte nun auch den Mann erkennen, der am Eingang zum Presseraum Schmiere schob. Ein blonder Hüne mit ewig langen Beinen, die Figur eines Basketball-Spielers. Sieht diesem Deutschen ähnlich, der in Dallas gespielt hat, dachte sich Oskar – und war sich im gleichen Moment nicht mehr sicher, ob er gerade eben tatsächlich den Namen Nowitzki gehört oder sich das nur eingebildet hatte. Oskar sah, wie vorne an der Tür ein Passant vorbeiging. Der Kerl im weißen Anzug hatte seine Arbeit deswegen kurz unterbrochen, jetzt fuhr er eilig damit fort, den mitgebrachten Laptop hochzufahren.
„Na, komm schon, Baby, mach Tempo“, redete er auf das Gerät ein. Dann tippte er ein paar Tasten, wartete gebannt, gab noch ein paar Codes ein, und drehte den Laptop schließlich genauso hin wie das Originalgerät zuvor dagestanden hatte. Anschließend packte er hektisch die Umhängetasche, in die er den echten Realtime-Laptop verstaut hatte. Zehn Sekunden später war er gemeinsam mit Nowitzki aus dem Raum verschwunden.
Oskar robbte zwei Meter rückwärts unter dem Tisch hervor, rappelte sich hoch und rannte zur Tür, aus der er vorsichtig seinen Kopf streckte. 30 Meter vor ihm bog das ungleiche Duo gerade zum Aufzug ab. Oskar wusste, dass er sich eigentlich dringend um die Konferenz und seinen Artikel für das Finanzblatt zu kümmern hatte. Und dass es im Grunde Unfug war, die beiden zu verfolgen. Aber er war viel zu neugierig, um das merkwürdige Diebespaar einfach so ziehen zu lassen.
Also nahm er die Verfolgung auf. Eine Entscheidung, die er schon in wenigen Stunden mehr bereuen sollte als alles andere in seinem Leben.