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Mobilität und erste Erfahrungen

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Mit 15 machte ich meinen Führerschein Klasse V. Man musste dazu nur einen Fragebogen richtig ausfüllen und durfte dann mit diesem Schein Mopeds bis 50 cc fahren mit einer maximalen Geschwindigkeit von 40 km/h. Ich verbrachte fast meine komplette Freizeit in den Pferdeställen hinter unserem Haus. Dort wohnte mittlerweile ein älterer Mann in einem winzigen Zimmer. Herr Eichler war Kriegsversehrter, aber immer noch drahtig und sehr gut dabei. Er mistete die Ställe aus, pflegte das Anwesen und war so etwas wie Mädchen für alles. Und er hatte einen Rabeneick Motorroller, den er mich fahren ließ, so oft ich es nur wollte. Ich verbrachte Stunden mit ihm in seinem Zimmer. Immer saßen wir uns an seinem kleinen Esstisch gegenüber, und er erzählte mir aus seinem Leben als Angestellter bei der Post und natürlich von seinen Kriegserlebnissen, die er mir in allen Details schilderte. Auch von seinen Erlebnissen mit Frauen erzählte er, und das eine war für mich so interessant wie das andere. Heute frage ich mich, warum meine Eltern niemals irgendeinen Verdacht hegten, denn wenn mein Sohn lange Stunden bis in die Nacht bei einem älteren Mann verbringt, hätte das für mich auf jeden Fall Fragen aufgeworfen. Aber man war damals offenbar eben noch völlig unbedarft, was den Missbrauch von Kindern und Jungen im Speziellen anging. Wohlgemerkt – in meiner Beziehung zum Pferdepfleger Eichler lag absolut nichts Anstößiges – nicht einmal ansatzweise. Aber aus heutiger Sicht wundere ich mich doch, wie unbedarft meine Eltern – oder vielleicht sollte ich sagen, Eltern ganz allgemein in dieser Hinsicht waren. Nachmittags half ich beim Ausmisten der Boxen, ich fütterte die Pferde, striegelte sie und durfte hin und wieder auch ein wenig reiten. Und dann saß ich bis zum Abendessen bei ihm, und wir erzählten, was eher hieß, er erzählte – ich hörte zu.

Mit dem Motorroller erledigte ich Besorgungen, machte Spazierfahrten und genoss diese neue Freiheit, die mir meine größere Reichweite verschaffte. Und als Eichler sich für ein neues Gefährt erwärmte, eine Zündapp, schenkte er mir einfach seinen alten Roller. Da war ich 15 oder 16, und von diesem Tag an fuhr ich morgens mit meinem Roller in die Schule – beneidet von meinen Klassenkameraden, denn ein Motorroller war damals schon etwas Besonderes. Im Winter schützte ich mich vor der Kälte mit Zeitungen, die ich mir aufgefaltet unter die Jacke oder den Mantel schob – ein Tip meines Vaters, der ja auch jahrelang eine Goggo gefahren hatte. Vielleicht kam auch deswegen so wenig Gegenwehr von Seiten meiner Eltern, weil Daddy ja selber Rollerfahrer gewesen war. Dass Rollerfahren gefährlicher war und ist als Fahrradfahren, liegt auf der Hand. Und es gibt wohl kaum einen Motorradfahrer, der nicht schon einmal gestürzt wäre. Mir ist das zwei Mal passiert – zum Glück ohne größere Schäden – weder am Roller noch an meiner Gesundheit. Ich habe immer versucht, meine Kinder von motorisierten Zweirädern fernzuhalten, was mir bis heute gelungen ist. Vielleicht war ich auch durch einen Unfall traumatisiert, bei dem ein Motorradfahrer direkt vor unserem Haus zu Tode gekommen war. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine lange Nacht von Wehklagen seiner Frau und Töchter, die im Hotel nebenan – gleich auf der anderen Seite der Wand, an der mein Bett stand - den Tod ihres Mannes und Vaters beweinten.

Aber die Begeisterung über meine plötzliche Motorisierung überwog bei weitem die Ängste vor einem Unfall – so wie ich auch viele Jahre später immer noch oft eine gewisse Unbekümmertheit an den Tag gelegt habe – aber ich halte es auch heute noch für besser, spontaner und mit einem gesunden Bauchgefühl an so manche Situation heranzugehen, anstatt sie bis zum Ende durchzuplanen.

Karl-Heinz begleitete mich oft auf einer dieser Spritztouren. Dabei hatte der Rabeneick Roller dann doch mächtig mit dem erheblichen Zusatzgewicht zu kämpfen, so dass wir von der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von ohnehin nur 40 km/h meist weit entfernt blieben.

Ich war damals 16, er noch 15, und irgendwann wuchs in uns der Beschluss, dass wir unsere geschlechtliche Reife doch endlich einmal an den Mann, bzw. an die Frau bringen wollten. Karl-Heinz hatte mit dem anderen Geschlecht insofern seine Probleme, als er stark übergewichtig und daher eher komplexbeladen war, was es nicht eben einfacher machte, mit Mädchen Kontakt aufzunehmen. Ich war damals (und im Übrigen noch auf Jahre hinaus) ein sehr schüchterner Junge, und ich hätte mich niemals überwinden können, ein Mädchen anzusprechen. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein amouröses Abenteuer! Und in letzter Konsequenz blieb nur – zumindest aus unserer damaligen Sicht – ein Besuch im Freudenhaus. Ich behaupte, dass 16jährige 1966 wesentlich kindlicher waren, als sie es heute sind. Wir hatten jedenfalls einen Heidenbammel, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Doch es bot sich immer donnerstags eine Gelegenheit – wenn wir uns gegenseitig besuchten – was zumindest unsere Eltern glaubten. An einem Oktobertag war es schließlich soweit: Nachmittags vertrieben wir uns die Zeit in irgendeinem Kino, wahrscheinlich waren wir sogar auch noch in einem zweiten Film. Ob wir etwas gegessen haben an diesem Abend, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich waren wir aber viel zu aufgeregt. Irgendwann am späteren Abend parkten wir den Roller direkt vor der Schule und machten uns auf den Weg. Das Dreikönigsgymnasium war damals noch in der Stadtmitte am Thürmchenswall, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt im Eigelsteinviertel mit seinem mittelalterlichen Stadttor gelegen. Eigentlich ein urkölsches Viertel, und auf dem Eigelstein, der Straße, die vom Stadttor in Richtung Dom führt, wurde damals nur reinstes Kölsch gesprochen und in den Kneipen nur Kölsch getrunken. Eine kleine Gasse führte vom Eigelstein ab (das tut sie im Übrigen noch heute) – der Stavenhof, heute eine schöne, sehr atmosphärische, gepflasterte alte Straße mit ein paar Kneipen und Galerien. 1966 allerdings zählte der Stavenhof zu den Gassen, die man besser mied. In mehreren Häusern ging man dem ältesten Gewerbe der Welt nach, aber die Damen dort waren nun einmal die, die in der Brinkgasse in der Nähe des Neumarktes - dort, wo der Hauptbordellbetrieb in Köln damals ablief – keine Chance mehr gehabt hätten. Die Brinkgasse – heute gibt es dort Geschäfte und elegante Galerien, denn das horizontale Gewerbe ist längst aus der Stadtmitte ausgelagert worden – war für uns Jungs ein besonderer Anziehungspunkt. Sie war kaum 100 Meter lang und an beiden Enden durch geteilte Sichtmauern vor den Blicken der Außenwelt abgeschirmt. Die Immobilien dienten ausschließlich der Ausübung der Prostitution, und die Straße selbst war so etwas wie der Kontakthof. Manchmal liefen wir nach der Schule dorthin, um diesem Treiben dort zu zuzusehen, und einmal sah ich sogar einen Lehrer unserer Schule in einem der Häuser verschwinden – wohl nicht, um Deutschunterricht zu geben! Der Eigentümer dieser Häuser und damit der Vermieter war übrigens – die katholische Kirche!

Aber zurück zum Stavenhof. Wenn man vom neonhellen Eigelstein in den Stavenhof einbog, umfing einen die Dunkelheit dieser fast schon gespenstischen Gasse. Vereinzelte Gaslaternen verbreiteten ein gelblich fahles Licht. Und vor einigen Häusern standen Frauen, deren Alter man nur schwer einschätzen konnte, aber vor denen ich wohl davongerannt wäre, wenn ich ihnen allein im Wald begegnet wäre! Sehr wahrscheinlich waren sie mindestens so alt, dass sie unsere Mütter hätten sein können. „Kommste mal mit?“ war der übliche Spruch. Ein Mann, der vor uns herlief, fragte nach dem Preis. „Fuffzig Mark“. „Und ohne Pariser?“ „Da kannste deine Omma poppen!“ Eigentlich war dies alles zum Davonlaufen, aber wir hatten einen Entschluss gefasst, und den setzten wir nun auch um. Wir hatten verabredet, dass wir uns als Seeleute ausgeben, die zu Besuch in Köln waren – dies nur für den Fall, dass sie uns nach unserem Alter fragen sollten. Aber dies hier war ja keine Kinokasse mit Ausweiskontrolle, sondern ein Puff – und dazu noch einer der alleruntersten Kategorie. Und daher fragte natürlich auch niemand nach unserem Alter. So, wie wir aussahen, war ohnehin klar, dass wir noch halbe Kinder waren! Irgendwann schleppten uns dann zwei dieser Schlachtschiffe ab – ausgesucht hatten wir sie ganz bestimmt nicht – dazu waren wir viel zu aufgeregt! Und vielleicht zehn Minuten, nachdem wir das nach Urin, Fäkalien und Fäulnis stinkende Haus betreten hatten, standen wir auch schon wieder auf der Straße – abgefertigt und wieder ausgespuckt in die Nacht. Aber wir fühlten uns so stark wie noch nie! Wir waren beide entjungfert worden – die widerlichen Umstände waren schnell vergessen, und wir glaubten, nun richtige Männer zu sein! Oh je – wie war es damals um unsere Wertvorstellungen bestellt! Es war mittlerweile ziemlich spät geworden – so spät waren wir noch nie durch die Straßen der dunklen Stadt gezogen. Wir liefen zurück zu meinem Roller und versteckten uns unterwegs hinter parkenden Autos vor vorbeifahrenden Streifenwagen, um nur nicht kontrolliert zu werden. Aber die lange Nacht hatten wir ja noch vor uns. Wir konnten natürlich weder zu meinem Freund noch zu mir nach Hause. Ein Hotel kam auch nicht in Frage, denn kein Hotelier hätte junge Burschen wie uns akzeptiert, und außerdem hätten wir uns das ja ohnehin nicht leisten können. Also fuhren wir hinaus an den Stadtrand, dorthin, wo ich wohnte und mich auskannte, in den Dünnwalder Wald. Mitten im dunklen Wald bog ich ohne Licht von einer einspurigen Straße ab auf einen engen Pfad. Der Pfad führte in ein Dickicht, wo wir nach ein paar Metern anhielten. Ich legte den Roller auf die Seite und deckte ihn mit Zweigen ab, um ein Reflektieren der Chromteile zu vermeiden, falls das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos uns erfassen sollte. Und dann saßen wir dort in der kühlen Oktobernacht, froren, erzählten, ich glaube, wir sangen auch ein paar Lieder – alles, um uns die Zeit bis zum Morgengrauen zu vertreiben, die immer länger zu werden schien – aber vor allem froren wir! Allerdings hielt die Euphorie des überstandenen Abenteuers an, und im Morgengrauen machten wir uns dann endlich auf den Weg, um irgendwo zu frühstücken. Aber zu dieser Zeit war dort draußen halt noch nichts geöffnet. Wir fuhren schließlich zurück in die Stadt, kauften uns am Hauptbahnhof etwas zu essen, und irgendwann ging es dann auch schon wieder in die Schule.

Auf dem Weg durch die Zeit

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