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Kapitel 3

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So viele Blaulichter hatten Hauptkommissar Berger und sein Kollege Paulsen am Alten Garten in Schwerin noch nie gesehen. Das Areal wurde vom Theater, dem Museum und dem Schloss umsäumt und seitlich vom Schweriner See und dem Burgsee begrenzt – eigentlich ein Hot-Spot für Touristen und Gäste aus aller Welt. Jetzt war der Bereich um das Theater weiträumig abgesperrt. Niemand – außer bevollmächtigte Polizeibeamte – kam in das Areal hinein oder heraus. Polizeifahrzeuge, Sondereinsatzwagen und zahlreiche Krankenwagen standen auf dem großen und repräsentativsten Platz der Stadt bereit.

Zwei Präzisionsschützen des SEK hatten sich auf dem Dach des anliegenden Museums positioniert. Sie lagen mit der Waffe im Anschlag bereit und warteten hochkonzentriert auf Anweisungen. Der Chef des SEK saß mit seinem Stabsteam im Einsatzwagen unterhalb der Museumstreppe.

Der Museumsdirektor hatte vorsorglich einige Mitarbeiter zusammengetrommelt und veranlasst – so schnell es überhaupt möglich war –, die wertvollsten Gemälde der Galerie abhängen zu lassen, um sie vor einer möglichen Explosion zu schützen.

Trotz der Situation lag eine gespenstische Ruhe über dem Alten Garten. Die Sonne ging bereits hinter der Staatskanzlei des Landes Mecklenburg-Vorpommern unter und verfärbte den Himmel blutrot.

Berger und Paulsen saßen im Polizeiwagen direkt an der Schlossbrücke zwischen Christian Genschows Skulpturen »Obotrit, sein Pferd bändigend« und »Obotrit, sein Pferd rüstend«. Und wie zwei Obotriten in Gefechtsbereitschaft lauschten beide Hauptkommissare angespannt dem Polizeifunk. Das Spezialeinsatzkommando hatte diesen außergewöhnlichen Fall bis auf Weiteres übernommen. Die Beamten wollten die mutmaßlichen Täter überwältigen und festnehmen. Niemand konnte genau sagen, ob die Verantwortlichen überhaupt im Theater waren oder ob das ganze Szenario von außerhalb gesteuert wurde. Nach der vor Kurzem deutlich hörbaren Detonation war jedem Anwesenden bewusst, wie ernst die Lage war. Hunderte von Menschenleben standen auf dem Spiel.

Lars Paulsen war erst vor ein paar Jahren nach Schwerin gekommen. Er hatte in Hamburg lange Zeit beim SEK gearbeitet, bis es wohl zu einem Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten gekommen war. Da er regelmäßig irrtümlich »Sonder« anstelle von »Spezialeinsatzkommando« gesagt hatte, hatte ihm sein damaliger Chef mit einem Disziplinarverfahren gedroht, denn das Wort sollte wegen seiner Benutzung in der Nazizeit keine Verwendung mehr finden. Paulsen war daraufhin für kurze Zeit in einer Verhandlungsgruppe eingesetzt worden – für Gesprächsführungen in akuten Lagen also. Dabei hatte er es oftmals direkt mit Tätern zu tun bekommen. Oder mit Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollten. Er war gut in seinem Job gewesen. Er vermochte die Betroffenen zu motivieren, entweder aufzugeben oder sich der Polizei zu stellen. Wahrscheinlich hätte der Profi die heutige Einsatzlage auch selbst leiten können. Er war psychischen Ausnahmesituationen bestens gewachsen.

Berger hatte in den vergangenen Jahren oft – dienstlich und privat – Paulsens Stressresistenz und Charakterstärke bemerkt. Körperlich und konditionell war der Mann nicht mehr ganz so gut drauf wie ein 20-Jähriger, aber er trainierte immer noch zweimal wöchentlich in einem Kampfsportverein Ju-Jutsu und konnte in seiner Altersklasse sogar Auszeichnungen auf Bundesebene vorweisen.

Um die Zeit des Wartens zu überbrücken, erzählte Paulsen, dass es in einigen SEK-Einheiten deutschlandweit viele Disziplinarverfahren gab. Hubschrauber wurden für Privatausflüge verwendet und Rekruten manchmal bei Aufnahmeritualen gequält.

Berger war stolz, dass es in Mecklenburg-Vorpommern bisher keine derartigen Vorkommnisse gegeben oder er es zumindest nicht mitbekommen hatte.

»Sag mal, hast du Knoblauch gegessen?«, fragte Paulsen seinen Chef.

»Ja, vor einer halben Stunde. Lea und ich hatten gerade zu Abend gegessen, als du mich gestört hast«, zog Berger Paulsen auf. »Ich hätte gern einen schönen Abend mit ihr verbracht. Aber wieder einmal macht mir der Job einen Strich durch die Rechnung.«

»So spät, und noch essen? Pass mal bisschen auf deinen Bauch auf!«, maßregelte Paulsen ihn schmunzelnd und schlug ihm mit der flachen Hand auf einen kleinen Bauchansatz. »So könntest du nie beim SEK anfangen. Die Ausrüstung wiegt über fünfzehn Kilogramm. Dann noch deine kleine Plauze!«

»Vorsichtig, mein Lieber! Ich hatte auch nicht mehr vor, beim SEK einzusteigen. Mit fünfundvierzig Lebensjahren ist bei denen eh Schluss«, lachte Berger. Er behielt beim Wortgefecht immer das Theater im Blick und hörte aufmerksam den Polizeifunk mit. Beide Männer waren froh, dass sie trotz immenser Anspannung niemals ihren Humor verloren.

»Schau mal, dort drüben!«, unterbrauch Paulsen seinen Kollegen und zeigte mit dem Finger in Richtung Theater. »Das Sprengstoffkommando rückt an.«

»Einen Bestattungswagen können sie auch schon anfordern. Wer weiß, was hier noch abgeht. Die Krankenhäuser sind alle in Bereitschaft. Wir haben hier fast fünfhundert Gäste. Da kommt einiges auf die Kliniken zu. Hoffentlich haben sie vorsorglich auch Polizeiseelsorger angefordert.«

»Jetzt kommen noch die Kollegen von der Hundestaffel«, erklärte Paulsen, als er den dunkelgrauen VW-Bus mit der geöffneten Dachluke erkannte.

»Ich verstehe nicht, warum die Sprengstoffsuchhunde erst jetzt kommen und in den Einsatz gehen. Bei so einer Gala mit der kompletten Landesregierung müssen die doch vorher durch das Theater laufen, so wie im Schloss, bevor die Landtagssitzungen beginnen. Da wird vorher alles akribisch durchforstet – der Plenarsaal, die Sitzungsräume, selbst alle Toiletten.« Berger schaltete die Zündung an, um mithilfe der Klimaanlage die Hitze im Auto herunterzuregulieren.

»Wer weiß, wer hier geschlafen und nicht an die Hunde gedacht hat?!«, mutmaßte Paulsen und trank einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die er einem Fach in der Beifahrertür entnommen hatte.

»Jetzt kommt auch noch ein Übertragungswagen vom NDR. Mal sehen, wo die sich hinstellen.« Berger schwitzte und war angespannt. Er überlegte, ob er Lea anrufen sollte, um ihr mitzuteilen, dass er sicher vorm Theater stünde und sie sich keine Sorgen machen müsste.

Der Sprecher der Polizeiinspektion Schwerin wies dem NDR einen Parkplatz neben dem ZDF-Fahrzeug zu und gab erste Informationen an einen wissbegierigen Reporter und Kameramann weiter.

Plötzlich war eine erneute Explosion zu hören. Berger und Paulsen schauten sich an und schluckten schwer. Keiner sagte ein Wort. Es lag nicht in ihrem Kompetenzbereich, einzuschreiten oder irgendetwas zu veranlassen. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Die Wartezeit im Dienstwagen machte beide zunehmend nervöser.

Es hatte begonnen: Blitzschnell stürmten die schwer bewaffneten SEK-Beamten mit durchsichtigen Schutzschilden in den Eingangsbereich des Theaters. Berger und Paulsen hielten für einen winzigen Moment die Luft an.

Mörderisches Schwerin

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