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4.

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Der Anrufbeantworter auf der Fensterbank blinkte rot und zeigte eine 5 an. Nok saß auf dem Küchenstuhl und hatte einen Mörser aus Ton zwischen die Oberschenkel geklemmt. Sie stampfte den Stößel in schnellem Rhyhtmus, um grüne und rote Chilischoten zu einem Brei zu hacken. Der CD-Player hinter ihr spielte Thai-Pop mit einer hohen männlichen Stimme aus Issan, dem Armenhaus Thailands.

Nok war einer dieser typischen thailändischen Spitznamen und bedeutete Vogel. Noks Alter war schwer zu bestimmen. Asiaten sahen meist wesentlich jünger aus als sie waren. Man mochte sie auf Mitte zwanzig schätzen. Sie hatte langes schwarzes Haar. Es war zu einem Zopf zusammengebunden, der zum Rhythmus des Stößels vor ihrer Brust baumelte. Sie trug ein rosafarbenes T-Shirt und verwaschene Jeans. Sie war klein und zierlich. Ihre nackten Fußspitzen berührten gerade einmal den PVC-Boden, während sie dasaß und die Chilischoten bearbeitete.

Auf der Anrichte der Einbauküche Ahorn Nachbildung lagen drei kleine Pakete mit Reisnudeln, eine Papaya, weitere Chilischoten und auf einem Kunststoffbrett eine angeschnittene Salami, daneben ein Messer. Nok erhob sich, schaute mit einem schnellen Blick aus dem Fenster, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Dann drückte sie die Abhörtaste des Anrufbeantworters. Der erste Anruf bestand aus dem schweren Atmen eines Übergewichtigen. Dann wurde aufgelegt. Das ging so weiter bis zur Zahl vier. Dann endlich hörte man den Bass eines älteren Mannes: »Nok. Melde dich doch. Ich weiß doch, dass du da bist. Ich will dich sehen. Hörst du?« Eine kleine Pause folgte. Man spürte, wie der Mann lauernd in die Stille hinein horchte. »Nok!« Dann legte er auf. Der fünfte Anruf bestand wieder nur aus schwerem Atmen. Nok zuckte mit den Schultern, setzte sich wieder hin und griff zum Mörser.

Sie lebte seit etwa einem Jahr allein. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, einem Alkoholiker, den sie vor zehn Jahren in Udon Thani, einer Großstadt im Nordosten Thailands kennengelernt hatte. Aber das war Vergangenheit, zumindest für sie. Nok ging hinüber zur Anrichte und riss die Plastikverpackungen mit den Glasnudeln auf. Der CD-Player wechselte zum nächsten Track, es klingelte an der Wohnungstür. Nok blieb erschrocken mitten in der Bewegung stehen und drückte dann die Stopptaste des CD-Players. Sie schlich wieder zum Fenster, lugte vorsichtig unter der Gardine her und überlegte einen Moment. Dann ging sie zur Tür.

Wagner stand im Korridor, einen grünen Rucksack über der Schulter. Er machte ein scheiß-freundliches Gesicht, so wie es Frauenversteher immer machen, wenn sie versuchen, die geschlechts-spezifische Spannung zwischen Mann und Frau zu überspielen. »Ach, Sie sind sicher Chawiwan Messerschmitt?«

»Wenn Sie das sagen«, Nok lächelte, aber das hatte nichts zu bedeuten.

»Tja, wissen Sie, also ich komme im Auftrag, oder nein, besser gesagt …« Wagner wand sich. Er wirkte, als wollte er versuchen, die Größe Noks zu erreichen, die er um anderthalb Köpfe überragte. »Also, ich bin Journalist und arbeite an einer Reportage über asiatische Einwanderer. Und da dachte ich …, also ich bin einfach das Telefonbuch durchgegangen und …«

»Und da hat es bei Messerschmitt Klick gemacht oder wie das bei Ihnen auf Deutsch heißt?«

»Nein, bei Chawiwan.«

»Sie haben das Telefonbuch nach Vornamen durchsucht?«

»Nein, es war eher Zufall«, antwortete Wagner verlegen. Schlecht vorbereitet, wie er selber fand. Er hatte sich diese Ausrede mehr oder weniger spontan zurechtgelegt. Er konnte ja schlecht sagen, dass er ihre Adresse auf einem Briefumschlag entdeckt hatte, die in der Herrentasche eines Ermordeten steckte. Überzeugt, dass er ein ausgeprägtes, journalistisches Gespür hatte, beschloss er, diesem Gefühl weiter nachzugehen. Ein reines Gefühl, weiter nichts, ohne Anhaltspunkte. Also stand er nun hier und schaute auf diese Frau herab, die aus schmalen Augenschlitzen ständig zu lächeln schien.

»Und keine Kamera?«

»Ja, nein, Zeitung, nur Zeitung. Hier, sehen Sie, mein Presseausweis.« Wagner zog eine kleine Plastikkarte aus der Brusttasche seines Hemdes.

»Ja, dann wollen Sie bitte eintreten.« Ihre Sprachkenntnisse schienen sehr gut zu sein. Volkshochschul-Deutsch für ausländische Mitbürger, das immer etwas steif und förmlich ausfiel. Nok ließ Wagner an sich vorbei. »Ich nehme an, Sie wollen Ihre Schuhe hier schon ausziehen?« Sie wies auf eine Ecke im Flur. »Ich bin immer froh, wenn jemand an thailändischer Kultur interessiert ist.«

Wagner schob seine klobigen Schuhe in die Flurecke und folgte Nok in die Küche. Sie trat wieder an das Fenster, lugte hinaus und zog mit einem Ruck den lindgrünen Gaze-Vorhang zu. Sie lächelte Wagner beinahe höhnisch an, der in schmutzigweißen Socken vor ihr stand, aber Wagner wusste, dass Asiaten zig verschiedene Arten zu lächeln hatten. Vermutlich kannten sie deren tiefere Bedeutung selbst nicht. Wagner blieb mitten in der Küche stehen und sog beinahe theatralisch die Luft durch die Nase ein.

»Das ist Papaya-Salat, wir nennen ihn Som Tam. Wenn Sie wollen … die Nudeln sind schnell gekocht. Dann lernen Sie auch sogleich etwas.« Nok zeigte auf einen der Küchenstühle. »Also, schreiben Sie!«

»Ja, Moment, ich weiß doch noch gar nicht, was?« Wagner stellte den Rucksack neben dem Stuhl ab.

»Aber Sie machen doch eine Reportage, was wollen Sie wissen? Haben Sie keinen Kugelschreiber?« Nok begann die Salami mit dem Messer in kleine Würfel zu schneiden. »In welcher Zeitung soll das erscheinen?«

»Wupper-Kurier. Das geht auch heute nicht mehr mit Kugelschreiber«, erklärte Wagner generös und fischte die Herrentasche aus dem Rucksack. Er legte sie auf den Küchentisch, zog den Reißverschluss auf und holte ein kleines Diktiergerät heraus. Er bemerkte nicht, dass Nok zusammengezuckt war, als sie die Herrentasche sah, einen winzigen Moment nur, dann wandte sie sie sich wieder der Anrichte zu. Wagner war wahrscheinlich nicht einmal bewusst, dass er hier die Tasche des Toten benutzte. Er hatte sie einfach kurz entschlossen als praktisch für sein Diktiergerät empfunden.

»Wenn Sie wollen, unterhalten wir uns und ich nehme das auf. Und später zu Hause werte ich das in Ruhe aus, wissen Sie, ich bin kein rasender Reporter.«

»Dann verdienen Sie sicher auch nicht viel Geld.« Nok machte eine enttäuschte Miene und Wagner war unsicher, ob das gespielt war oder nicht.

»Und Sie, leben Sie allein?« Wagner erschrak über die Direktheit seiner Frage, und legte dennoch gleich nach. »Wie kommt man denn da so zurecht. Ich meine, heutzutage, wo es kaum noch Arbeit gibt?«

»Wollen Sie das schreiben? Ich dachte, Sie wollten etwas über mein Land wissen, und wie ich hierhergekommen bin?«

Wagner fragte sich, wie er auf Edelsteine zu sprechen kommen sollte. Nok gab die Reisnudeln in ein Sieb und ließ sie abtropfen. Und während Wagner umständlich und nicht einmal geheuchelt zu erkennen gab, dass auch er ein Interesse für asiatische Küche habe, trug Nok die Teller auf und erklärte, dass das hier nur als Zwischenmahlzeit zu betrachten sei, gewöhnlich äßen Thailänder ›variantenreicher‹, diesen Ausdruck hatte sie wohl in der Volkshochschule aufgeschnappt. Sie stellte Wagner ein Glas hin und füllte es mit Mineralwasser: »Das werden Sie brauchen.«

Wagner achtete nicht darauf, er schaute sich in der Küche um und suchte weiter nach einer gescheiten Frage.

»Lassen Sie es sich schmecken.« Nok setzte sich dazu und griff zu ihrer Gabel. Sie hatte sich eine kleine Portion Reisnudeln neben den Papaya-Salat gehäuft und begann zu essen. Wagner ahmte es ihr nach. Er kaute und glaubte wieder grinsen zu müssen. Er fühlte sich Nok gegenüber unsicher und aß schnell. Nok sog hörbar Luft zwischen die Zähne ein. Wagner hielt das für eine typisch thailändische Marotte. Er wollte gerade fragen, ob es in Thailand Edelsteinfundorte gebe, als er das Brennen im Mund spürte, das sich schnell steigerte und sich über die Schleimhäute bis tief in den Rachenraum fortsetzte.

»Warum trinken Sie denn nicht?«

Wagner begann zu husten. Er setzte schnell das Glas an den Mund und trank es auf einen Zug leer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Augen wurden feucht.

»Essen Sie Reisnudeln, das hilft.« Nok lächelte und sog wieder Luft zwischen die Zähne ein. »Sie müssen nicht glauben, dass es für uns Thailänder nicht auch scharf wäre, aber wir sind das gewohnt.«

Wagner hatte einen hochroten Kopf bekommen. Er stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum und versuchte, die kleingehackten Chilischoten auszusortieren. Dann schob er sich mit zusammengekniffenen Augen die nächste Portion in den Mund. Nok goss Mineralwasser nach. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und trank in gierigen Zügen.

»Wenn Sie wollen, drücken Sie ruhig die Aufnahmetaste. Wir Thailänder lieben die Konversation beim Essen. Ganz anders als bei Ihnen. Da heißt es doch: Mit vollem Munde spricht man nicht. Stimmt das?«

Wagner antwortete nicht. Er fühlte sich genötigt, ihrer Anregung zu folgen schob das Diktiergerät neben ihren Teller und drückte auf die Aufnahmetaste, ohne auf irgendwelche Einstellungen zu achten. Es galt, den Schein zu wahren, und so entwickelte sich ein beiläufiges Gespräch. Wagner stellte belanglose Fragen und überlegte während der ganzen Zeit, wie er nun doch den Dreh auf Edelsteine hinkriegen sollte. So weit er sehen konnte, trug Nok keinen Schmuck. Er könnte sie direkt danach fragen, aber dann überlegte er es sich anders, weil Nok das missverstehen könnte, wenn jemand einfach in ihre Wohnung kam und sogleich nach Schmuck fragte. Stattdessen griff er ihren Vorschlag auf und erkundigte sich, wie sie nach Deutschland gekommen war.

Nok erzählte von ihrer unseligen Beziehung mit einem groben Menschen, den sie zehn Jahre lang ertragen hatte. Die Hauptschuld gab sie sich im Nachhinein selbst, wie sie freimütig erzählte. Es liege eben an der asiatischen Mentalität, die von endloser Geduld und Leidensfähigkeit geprägt sei und es ermögliche, dass man sich selbst sehr stark zurücknehme und in der Lage sei, klaglos über lange Zeiträume unliebsame Schicksale hinzunehmen. Sprach‘s und aß mit flinken Handbewegungen. Irgendwie passte das, was sie erzählte, nicht zu dem Eindruck, den sie dabei machte. Sie wirkte unbekümmert, anders als Wagner, der immer noch gegen das Brennen im Mund anzugehen und es herunter zu schlucken versuchte. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, das Diktiergerät hatte er völlig vergessen.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte er zwischen gepressten Zähnen hervor und hielt sich nun an Reisnudeln pur. Den Papayasalat ließ er links liegen. Und dann, unvermittelt: »Aber was ich noch fragen wollte: Sie tragen überhaupt keinen Schmuck. Ist das nicht ungewöhnlich. Soweit ich weiß, legt man in Ihren Breitengraden sehr viel wert auf Gold und … nun ja.«

Nok verharrte einen Moment in ihrer Bewegung, indem sie die Gabel mit einigen Reisnudeln über dem Teller hielt und irritiert auf das Diktiergerät schaute. Dann sah sie Wagner direkt an: »Sie haben mich doch vorhin gefragt, wie ich zurechtkomme, als Alleinstehende.« Wagner nickte

»Glauben Sie, da könnte ich mir Schmuck leisten?« Wagner nickte.

»Was ist jetzt mit Ihren asiatischen Einwanderern? War das schon alles?«

»Nein, nein, es war ja nur … das sollte nur eine Art Probegespräch sein.«

»Ach so, Sie wollten mich testen, ob ich für Ihre Reportage tauge?« Wagner nickte.

»Und? Tauge ich?« Nok warf sich lächelnd in Positur, indem sie den Oberkörper vorstreckte und eine Faust in die Seite stemmte.

Wagner hielt es einfach nicht mehr aus: dieses entsetzliche Brennen, dazu das Gefühl, heute nicht in Form zu sein, sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren zu können, und diese Frau, die ihn mit ihren zig Arten des Lächelns und ihrem Selbstbewusstsein verwirrte. Und vielleicht war er ja wirklich auf der falschen Spur, zumindest was die Edelsteine und seinen Fall anging.

»Wir können ja einen Termin vereinbaren«, sagte er, »und dann machen wir ein ausführliches Interview.« Er griff eilig zum Diktiergerät, drückte die Stopptaste und verstaute es in der Herrentasche. Er schaute Nok an und glaubte, lächeln zu müssen.

Nok schaute mit ausdrucksloser Miene zurück. »Was darf ich Ihnen dann zu essen anbieten?« fragte sie höflich. »Eine milde Hühnersuppe? Mit grünen Nudeln?«

Wagner steigerte sich zunehmend in ein Gefühl der Minderwertigkeit, von dem er gleichsam wusste, dass es grundlos war, aber nicht, wie er es im Moment loswerden sollte. Er war aufgestanden, nahm den Rucksack, ging in den Flur und zog die Schuhe an. Das Ganze bekam nun fast den Charakter einer Flucht. Als er die Stufen hinab ging, stand Nok lächelnd in der Wohnungstür.

»Ich rufe Sie an«, rief Wagner zurück, bevor die Tür hinter ihm zuschnappte. Er würde wiederkommen, auf jeden Fall. Das sagte ihm sein Gespür.

Er sah von draußen, wie Nok am Küchenfenster stand und hinausschaute. Er fühlte sich gedrängt, ihr freundlich zuzuwinken. Nok reagierte nicht. Sie beobachtete, wie Wagner steif auf seinen roten Opel Corsa zuging, die Tür aufschloss und einstieg. Als er losfuhr, setzte sich von der gegenüberliegenden Straßenseite ein weißer Mercedes in Bewegung und folgte dem Opel. Nok schüttelte mit dem Kopf und öffnete den Vorhang.

Rubine im Zwielicht

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