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The Wall

Als Marco kurz vor vierzehn Uhr den Empfangsbereich vor dem Sitzungsraum VR-16.009-A erreichte, saß sein komplettes Team bereits in der kleinen, luxuriös ausgestatteten Lounge. Er erfasste mit einem Blick, dass sie wohl schon eine Weile hier versammelt waren, wie man an den diversen ausgetrunkenen Gläsern und den dezimierten Resten verschiedener Snacks auf ihren Tellern sah. Sie waren sichtlich aufgekratzt in eine angeregte Diskussion vertieft und er musste schmunzeln, weil er sich sehr gut in ihre Lage versetzen konnte. Dreißig oder vierzig Jahre zuvor hätte er noch ähnlich empfunden und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, in so exklusiver Atmosphäre die Vorfreude auf ein besonderes Erlebnis zu genießen.

Seine Mitarbeiter waren bis auf eine Ausnahme noch verhältnismäßig jung, jedenfalls im Vergleich zu ihm selbst und zum sonst üblichen Altersdurchschnitt auf dem UNTACH-Gelände. Aber jeder einzelne von ihnen besaß sehr spezielle Kompetenzen und Stärken, aufgrund derer er sie in dieser Konstellation ausgewählt hatte. Und vor allem: Sie harmonierten miteinander und ergänzten sich zu einem kreativen und leistungsfähigen Team.

Da war Doktor Frank Kramer, vierunddreißig Jahre alt, deutscher Kunsthistoriker mit Schwerpunkt Asiatika des achtzehnten Jahrhunderts, der sich nach seiner Magister-Arbeit auf japanische Volkskunst spezialisiert hatte. Er arbeitete neben seinen Studien seit fast zehn Jahren freiberuflich für verschiedene Auktionshäuser und Museen, sowie in letzter Zeit fallweise als Lektor für einen Fachverlag. Frank hatte erst vor einem Jahr an der Tongji Universität in Shanghai seine Promotionsarbeit über Handwerksgilden und Meisterschulen der Edo-Zeit abgeschlossen. Er verfügte über exzellentes Quellenwissen und ein feines Händchen, wenn es um das Auffinden und Auswerten sogenannter ›grauer Literatur‹ ging – also von Dokumenten, die nicht leicht oder gar nicht in den gängigen Datenbanken oder Bibliotheken zu finden waren. Da er seit seinem neunzehnten Lebensjahr in China gelebt hatte, sprach er ausgezeichnetes Mandarin-Chinesisch, besaß solide Kenntnisse in Japanisch und kam auch mit einigen veralteten ostasiatischen Schriftzeichen-Systemen zurecht. Frank war ein sehr zurückhaltender Typ, eher wortkarg, der wenig Privates von sich preisgab. Der gebürtige Hamburger blieb gerne im Hintergrund, was rein physisch bei seinem massigen Körper und über zwei Meter Größe nicht immer einfach war, weil er optisch überall herausragte. Aber er war bei aller Zurückhaltung nicht ungesellig und verblüffte seine Umgebung oft mit einem originellen, erfrischenden Humor.

Ganz anders wirkte Rebecca El Rouni. Die zierliche siebenundzwanzigjährige Tunesierin mit zusätzlicher französischer Staatsbürgerschaft war verbal und mit ihrer ausdrucksstarken, manchmal fast theatralischen Gestik der Wirbelwind im Team. Dieses Energiebündel riss sie alle immer wieder mit, selbst bei Themen, die eigentlich eher trocken waren. Mit ihrer gazellenhaft schlanken und sportlichen Figur und dem ungebändigten schwarzen Lockenkopf, der ihr hübsches Gesicht umrahmte, war sie eine echte Schönheit. Sie hatte einen Bachelor-Abschluss als Bibliothekarin, erworben von der Fern-Universität Hagen und einen Master der niederländischen Open Universiteit Nederland im Spezialgebiet Datenbankarchitektur. Rebecca war im Team außerdem die beste IT-Expertin, die mit Suchmaschinen, interaktiven Datenbank-Systemen und Recherche-Algorithmen so virtuos umging, dass es ihnen allen vom Zuhören und Zusehen fast schwindelig wurde. Sie sprach Arabisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch, denn als Tochter eines EUDiplomaten hatte sie trotz ihrer Jugend bereits in sechs Ländern gelebt. Mit ihrem angeborenen Enthusiasmus, gewinnenden Wesen und ihrer interkulturellen Kompetenz war sie zudem, wenn auch noch ohne jegliche praktische Berufserfahrung, die optimale Verbindungsperson zu anderen Arbeitsgruppen und Experten im Haus.

Das Team-Mitglied mit der längsten Berufserfahrung war die sechsundfünfzigjährige Claudia Mentrose, eine großgewachsene Amerikanerin mit deutsch-britischen Wurzeln. Mit ihrem ausdrucksstarken, markanten Gesicht, der rotblonden Mähne und ihrer muskulösen Statur wirkte sie auf manche wie eine nordische Kriegsgöttin. Sie hatte über dreißig Arbeitsjahre im Bereich Informationsbeschaffung und -archivierung einer der CIA zuzuordnenden Behörde an verschiedensten Standorten der Welt verbracht, unter anderem zehn Jahre lang in Berlin. Die letzten vier Jahre ihrer aktiven Berufstätigkeit war sie in der Zentrale in Langley als zweite Referentin des stellvertretenden Direktors tätig. Nachdem sie vor drei Jahren ihre Stellung dort aufgrund einer Umstrukturierung verloren hatte, setzte sie sich zur Ruhe und lebte seither in der Schweiz im schönen Urlaubsort Davos. Finanziell unabhängig war sie aufgrund einer vorteilhaften Scheidung sowie einiger gewinnbringender Börsenanlagen schon lange. Eigentlich wollte sie diese Unabhängigkeit und die reichliche Freizeit nutzen, um einen Roman zu schreiben, in dem sie ihre schillernden Lebenserfahrungen gleichermaßen spannend wie amüsant aufbereitete. Dies stellte sich jedoch rasch bei Berücksichtigung ihrer lebenslang wirksamen Geheimhaltungsauflagen als unmöglich heraus und machte ihren schriftstellerischen Ambitionen ein Ende. Am Schreiben rein fiktiver Prosa hatte Claudia kein Interesse. Es sollte schon etwas Dokumentarisches sein, was mit ihrem Leben oder zumindest realen Hintergründen zu tun hatte. Also war sie seit zwei Jahren in gewisser Weise auf neuer Sinnsuche und das Angebot, bei Marcos Projekt einzusteigen, kam ihr gerade recht. Die ehemalige Geheimdienstlerin war der organisatorische Ruhepol und Kommunikationsangelpunkt im Team. Sie besaß bei ihren ›manchmal leicht verpeilten Wissenschaftler-Kreativen‹, wie sie es scherzhaft nannte, einen immer wieder hilfreichen ordnenden Einfluss und wurde von ihnen als Respektsperson geschätzt.

Tomomi Kasai schließlich komplettierte das Team als jüngste Mitarbeiterin. Die vierundzwanzigjährige Japanerin hatte gerade mit Auszeichnung an der Technischen Universität in München ihren Abschluss in Analytischer Chemie gemacht. Ihre Master-Arbeit war nicht experimenteller Natur, sondern stellte anhand einer prägnanten Zusammenstellung und Bewertung unterschiedlichster Analysemethoden eine wertvolle Entscheidungshilfe für die Bereiche Kulturgüterschutz und Museumstechnologie dar. Auf der Basis ihrer theoretischen Ausarbeitung hatten Konservatoren und Kustoden einen hervorragend strukturierten Leitfaden zur Hand, um für unterschiedlichste Materialien an Kunstgegenständen und Kulturgütern die optimalen Beprobungstechniken und Untersuchungsmethoden auszuwählen.

Das lebhafte Geplauder seiner Mitarbeiter ebbte sofort ab, als Marco Renke die Lounge betrat, und er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.

»Okay, Leute! Dann ist jetzt der große Augenblick da. Hat jemand eine CD von Pink Floyd mitgebracht, damit wir uns drinnen angemessen einstimmen können?«

Nur Claudia antwortete mit einem herzhaften Lachen: »Hey, Boss, glaubst du wirklich, deinen Küken hier sagt die Rock-Musik der späten siebziger Jahre noch was? Eine CD haben wohl nur die wenigsten von ihnen in Realität gesehen, seit MP-3-Uraltzeiten läuft inzwischen alles auf Audio-Sticks.«

Ein Rundblick über die eher fragenden Gesichter der anderen ließ ihn schmunzeln. »Oh je, so wenig wirkliche Kultur-Kompetenz um mich herum, und das mitten im Herzen des Kulturgüter-Zentrums der Vereinten Nationen!«

Das legendäre Konzeptalbum ›The Wall‹ von 1979 enthielt einige seiner Lieblingstitel der Kultband Pink Floyd, unter anderem ›Another brick in the wall‹ und ›Wish you were here‹. Ihm war die Wortgleichheit mit dem Spitznamen des Tagungsraums, den die anderen gleich kennenlernen würden, sofort in den Sinn gekommen, als er vor zwei Monaten die Arbeit hier aufgenommen hatte. Marco nahm sich vor, in der nächsten Team-Besprechung als lockeren Einstieg einen Song aus dem Album einzuspielen.

Doch jetzt gab es Wichtigeres, worauf er sich konzentrieren musste. Er ging zum Netzhaut-Scanner neben der wuchtigen Tür zum angrenzenden Raum und identifizierte sich zusätzlich, indem er deutlich seine Berechtigungsnummer für diesen Raum und diese Uhrzeit aussprach. Augenblicklich schob sich die schwere Stahltür zur Seite auf und sie konnten in den kleinen, unmöblierten und steril wirkenden Schleusenraum treten. Vor sich sahen sie eine genauso breite, aus Sicherheitsglas bestehende weitere Tür, durch die sie in einen wie ein kleines Amphitheater wirkenden Raum hinabblickten. Die Tür glitt hinter ihnen geräuschlos zu und sie hatten einen Moment Zeit, die Szenerie auf sich wirken zu lassen.

Sofort war klar, wie dieser Raum zu seinem Synonym ›The Wall‹ gekommen war. Das kleine, maximal zwanzig Personen fassende Auditorium war frontal auf eine riesige Multimediawand ausgerichtet, stark gewölbt, etwa zehn Meter hoch und fünfundzwanzig Meter breit. Eine unübersehbare Menge an Projektoren, Rechnern, Kabelbündeln, Steuerpulten und sonstiger Technik war im Halbdunkel seitlich und an der Decke zu erahnen. Hinter den Sitzplätzen ragte eine halbkugelförmige Kabine etwa zwei Meter nach oben, die einem Flugzeug-Cockpit alle Ehre gemacht hätte. Da sie aus ihrer momentanen Position von hinten eine gute Sicht in diesen gläsernen Steuerstand hatten, konnten sie dessen Ausstattung mit zahlreichen kleinen und großen Monitoren, Touchscreens, Tastaturen und Trackballs gut wahrnehmen.

In dem Steuersessel zwischen diesen Instrumenten saß ein weißhaariger Mann, der sich nun zu ihnen umdrehte und dessen Stimme aus einem Lautsprecher über ihnen erklang. Er sprach in akzentfreiem Englisch und seine Ausdrucksweise deutete darauf hin, dass er mit ihrem Chef schon viele Stunden verbracht hatte.

Marco antwortete auf seine übliche witzige und informelle Weise und in ebenfalls perfektem Englisch: »Ach, mein lieber Xiaoding, warum so förmlich? Ja, diesmal rücke ich dir mit meiner gesamten Crew auf die Pelle! Wenn ich kurz vorstellen darf: Der gute Geist dieses technischen Wunderwerks hier, Herr Professor Doktor Xiaoding Wang. Er hat dieses ganze Superkino übrigens selbst konzipiert und hier aus diversen verfeinerten und miteinander gekoppelten Techniken der virtuellen Realität und dreidimensionalen Datenvisualisierung eine weltweit einzigartige Diskussions- und Planungssituation geschaffen. Aber das wisst ihr natürlich sowieso alles schon und werdet es gleich hautnah erleben. Damit du, Xiaoding, meine jungen Stützen im Alter auch kennst: Das hier ist Claudia, das Rebecca, das Tomomi und das Frank. Aus den Dateien weißt du ja bereits vieles über ihre Arbeit, nun kannst du sie persönlich kennenlernen. Natürlich nur, wenn du uns mal langsam in dein Allerheiligstes hineinlässt, versteht sich.« Während dieses kleinen Wortgeplänkels waren ihre Gesichter durch die Deckenkameras im Schleusenraum gescannt und die Funksignale ihrer ID-Armbänder vom Sicherheitssystem automatisch überprüft worden. Die Schiebetür öffnete sich und sie traten ein.

Professor Wang stieg nicht ganz ohne Mühe, da anscheinend etwas gehbehindert, aus seinem verglasten Steuerstand und begrüßte jeden einzelnen mit einem herzhaften Händedruck und einer leichten Verbeugung, die sie mit ehrlicher Bewunderung erwiderten. Natürlich hatten sie sich vor diesem Termin gut informiert. Wang galt als der Wegbereiter der Zusammenführung von Künstlicher Intelligenz und innovativen Visualisierungstechnologien und wurde vor einigen Jahren sogar für einen Nobelpreis nominiert. Das Team war ehrlich überrascht und sichtlich beeindruckt, nun persönlich diesem hoch dekorierten Wissenschaftler begegnen zu dürfen.

Nachdem auch Marco seinen chinesischen Freund herzlich begrüßt hatte, nahmen seine Leute ihre Plätze in den Sesseln im Auditorium ein, in deren Armlehnen diverse Steuerinstrumente eingelassen waren. Xiaoding begab sich mit einiger Mühe und etwas Unterstützung von Marco wieder in sein Cockpit und dieser stellte sich vor sein kleines Publikum, um einige einführende Worte zu sprechen.

»Liebe Kolleginnen, Frank, kurz zum Procedere, bevor wir in die eigentliche Arbeitssitzung einsteigen, die wohl etwa zwei Stunden dauern wird. Ich werde euch heute alle Hintergrund-Informationen zu unserem Projekt optisch attraktiv aufbereitet präsentieren. Aus diesem besonderen Anlass ist mein Freund Professor Wang persönlich bei uns, denn ich möchte ihn an unserer Sache teilhaben lassen. Daher wollen wir uns ausnahmsweise heute in englischer Sprache und nicht in Deutsch austauschen. Natürlich sitzt er üblicherweise nicht mehr selbst als Operator an diesem ›Mischpult‹, sondern einer seiner vielen Mitarbeiter unterstützt technisch den exklusiven Nutzerkreis dieser einzigartigen Einrichtung hier. Die Raummiete inklusive vollem Technik- und Personal-Backup kostet übrigens achtzehntausend Dollar pro Stunde. Genießt also dieses Privileg! Und nun wappnet euch bitte mit den vor euch liegenden Cyber-Brillen. Die diversen Manipulations-Tools für Sitzungsteilnehmer benötigen wir heute noch nicht, vergesst also den sonstigen Technikkram an euren Sitzen und konzentriert euch aufs Zuhören und auf die optische Präsentation.«

Er machte eine kleine Pause, bis alle ihre Brillen aufgesetzt hatten, nahm in dem zentral stehenden Sessel mit erhöhter Rückenlehne seine Rednerposition ein und nickte kurz zurück in Xiaodings Richtung. Sie hatten die heutige Choreographie der einzuspeisenden Dateien und Effekte genau abgestimmt und am Vormittag in einem Schnelldurchgang optimiert, ergänzt durch die neuen Dateien aus Grenoble. Der überwiegende Teil der optischen Präsentation wurde automatisch über ein Audioerkennungsprogramm generiert und auf Wort- und Syntax-Signale hin durch das System von ›The Wall‹ gezielt aufgerufen und graphisch behandelt.

»Ihr alle kennt den exakten Text der Ausschreibung und das Bewilligungsschreiben samt Anhängen für das spezielle Forschungsprojekt, das wir in einem Zeitraum von einem Jahr bewältigen wollen. Es handelt sich um eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung und Beschreibung des Adler-Netsuke. Einschließlich aller ermittelbarer Hintergrund- und Umfeld-Informationen historischer oder jedweder sonstiger Art, die Bezug zu diesem kleinen Kunstwerk haben. Ziel ist also eine Monographie zu diesem Netsuke in einem Umfang, wie sie noch nie zuvor für ein Objekt dieser Kunstgattung erstellt wurde. Aus dieser Aufgabenstellung heraus erklärt sich die Team-Zusammensetzung. Hier zur Erläuterung noch mal die Zuordnung eurer Kompetenzschwerpunkte zu den bei unserem Projekt gestellten Anforderungen.«

Während Marco sprach, erschienen im virtuellen Raum vor ihren Augen dreidimensional jeweils zu seinen Worten passend Fotographien, Texte, Filmszenen und Dokumente mit graphischen oder tabellarischen Details, wobei besonders wichtige Bildteile jeweils farblich hervorgehoben wurden. Alle Informationen, auch ihre eigenen Lebensläufe, deren Teile mit Einzelaufgaben des Projektauftrags durch virtuelle Einrahmungen verknüpft wurden, entwickelten so dargestellt ein seltsames Eigenleben. Elemente wuchsen aus dem Hintergrund hervor, wurden direkt vor den Augen des Teams mit eindringlichen optischen Effekten betont und hinterher wieder verkleinert im Datenraum-Hintergrund abgelegt, bis sie erneut für andere Verknüpfungen benötigt wurden. Neben vorher eingespeisten Dateien waren hierbei deutlich erkennbar Internet-Online-Informationen zu sehen, die das System in Nanosekunden selbständig recherchierte und an den richtigen Stellen einspeiste.

Das kombinierte Hör- und Seherlebnis hatte eine fast hypnotische Wirkung. Dies wurde vor allem im weiteren Verlauf seines Vortrags deutlich, als Marco immer tiefer in die Materie um das Masanao-Netsuke einstieg. Alle erkannten Fakten wieder, die sie selbst in den letzten Tagen individuell erarbeitet hatten. Aber nun, in Kombination mit den Ergebnissen der anderen Team-Mitglieder, sowie mit schon vorher durch Marco ausgearbeitetem Material, entstand eine neue Dimension ihres Spezialwissens.

Ihr Chef führte sie in der virtuellen Realität, in der sie sich inzwischen fasziniert bewegten, elegant durch allgemeine Kenntnisse zum Leben Masanaos, zur Schnitztechnik und zu typischen Sujets seiner Wirkungszeit. Das System verknüpfte optisch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im feudalen Japan jener Zeit mit den thematischen Vorlieben der damaligen Künstler. Bevorzugte Materialien in der Netsuke-Herstellung wurden vorgestellt, Arbeitstechniken, Bearbeitungstricks, um bestimmte Oberflächeneffekte zu erzielen, aber auch die Lebensbedingungen der Netsuke-Schnitzer selbst wurden skizziert.

Neben solchen kunsthistorischen Diskursen waren an geeigneten Stellen des Vortrags werkstoffkundliche, physikalische und chemische Aussagen über das Material Elfenbein eingestreut, zuerst allgemein und mit statistischen Erläuterungen. Schließlich kamen auch die vorliegenden Analyseergebnisse zu dem bei diesem Masanao-Netsuke speziell verwendeten Elfenbein zur Sprache. Als in diesem Kontext, verknüpft mit den neuen Ergebnissen aus Grenoble, Teile des Dokuments ›Tod in Afrika‹ eingespielt wurden, machte Marco eine kleine Denkpause und fixierte seine Mitarbeiter eindringlich.

»Und damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommt etwas für die meisten von euch Neues ins Bild: In unserem Besitz befindet sich eine Schatulle mit verschiedenen Dokumenten und Objekten, die sich auf unser Netsuke zu beziehen scheinen. Der Text zum Ursprung des Elfenbeins, den ihr hier gerade in Auszügen gesehen habt, stammt aus dieser Quelle. Wie ich an diese Unterlagen kam, können wir ein anderes Mal besprechen, das muss nicht jetzt bei dieser teuren Session sein. Gerne heute Abend bei einem Abendessen im Science Club auf Ebene acht, den ihr vom Welcome Dinner ja schon kennt. Ihr seid meine Gäste und du, Xiaoding, bist ebenfalls herzlich willkommen, wenn es dir terminlich passt. Sagen wir um zwanzig Uhr?«

Der dann folgende Teil des Vortrags behandelte konkrete Hinweise auf ihr spezielles Netsuke sowie einige Informationen zu Dokumenten aus der Schatulle. Hierbei spielte das System im Falle von Kalligrafien gedruckte Reinschriften sowie Übersetzungen wichtiger Passagen ins Englische und Deutsche ein, wie auch bei automatisch hierzu zitierten Quellen, die ursprünglich nur in anderen Sprachen vorlagen.

Dann kam Marco zu einer Schlüsselstelle seiner Ausführungen.

»Ihr seht, wir verfügen bereits über einen erstaunlichen Fundus an Fakten, aber auch Spekulationen, die genug Nahrung für unseren Forscherhunger bieten sollten. Aber da ist noch etwas, was ihr wissen solltet: Ich habe Grund zur Annahme, dass sich auf oder in diesem Netsuke, in welcher Form auch immer, eine versteckte Information befindet, die sich auf die Vergangenheit dieses Kunstwerkes oder seiner zeitweiligen Besitzer bezieht. Dies könnte mit dem Zeitraum in Verbindung stehen, in welchem sich dieses Netsuke über mehrere Generationen im Eigentum einer Samurai-Familie befand, welche bis ins neunzehnte Jahrhundert eine wichtige Rolle in der politischen Entwicklung Japans spielte. Es betrifft das Ende des Tokugawa-Shogunats und die letzten Daimyos, also Provinzfürsten jener Zeit.«

Einige Vortragsteile hatten das Team bereits erstaunt, aber diese Aussage elektrisierte alle. Bei manchen von ihnen keimten Visionen einer Schatzsuche auf, bei anderen die einer historischen Sensation, die es zu entdecken galt, und wieder andere begannen zu verstehen, wieso vielleicht die erheblichen Forschungsmittel für ihr Vorhaben bereitgestellt wurden.

Marco erläuterte dann die gesellschaftlich und wirtschaftlich schwierige ›Bakumatsu‹ genannte Zeit zwischen 1853 und 1867. In dieser Übergangsperiode kündigten Aufstände und Kriegswirren das nahe Ende des Shogunats an, also der Jahrhunderte langen Herrschaft von Militärregenten mit der Machtfülle eines Königs. Schließlich ging er näher auf die Meiji-Restauration im Jahr 1867 ein, wie die Wiederherstellung der obersten Regierungsgewalt durch den Kaiser und der Anfang neuer politischer Strukturen genannt wurde. Jene Veränderungen schufen die entscheidende Grundlage für ein sich der Welt öffnendes, modernes Japan. Während noch die letzten Bilder und Daten zum Tokugawa-Shogunat und der darauf folgenden politischen Umbildung im virtuellen Raum vor ihnen langsam aus dem Vordergrund in die weiter hinten liegenden Bereiche glitten, kam er zum Ende seines Vortrags. Der riesige Datenraum vor ihren Augen war gut gefüllt und dokumentierte eindrucksvoll, wie viele Informationen und Hinweise zu ihrem Untersuchungsobjekt vorlagen und es in den kommenden Monaten zu bearbeiten galt.

»Ihr seht, wir werden alle unsere Kompetenzen gemeinsam einsetzen müssen, um diese verwirrende Sachlage zu verstehen und die richtigen Schlussfolgerungen für unsere Monographie über das Masanao-Netsuke zu treffen. Ich habe volles Vertrauen in euch, dass wir diesem mysteriösen Netsuke seine Geheimnisse entreißen werden und bin davon überzeugt, dass wir am Ende für unsere Anstrengungen angemessen belohnt werden. Nicht nur in materieller Hinsicht, obwohl wir mit unserer finanziellen Ausstattung und Vergütung in diesem Projekt sehr zufrieden sein können – sondern vor allem ideell und was unseren Wissenszugewinn betrifft. Lasst uns an dieser Stelle nicht mehr groß diskutieren, ihr seid sicher etwas erschlagen von dieser Informationsflut. Wir können heute Abend in weniger technischer Atmosphäre und bei einem guten Essen den einen oder anderen Gedanken aufgreifen und morgen früh die nächsten Schritte vereinbaren. Danke für eure Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt dir, Xiaoding, besonders herzlichen Dank für deine Unterstützung und deine geschätzte Anwesenheit.«

Die Mitglieder von Marcos Team klopften begeistert mit den Fingerknöcheln auf die Seitenlehnen ihrer Sitze und fühlten sich fast überwältigt von dem Berg an Wissen zu ihrem Studienobjekt. In dieser Ausführlichkeit hatte das keiner von ihnen zu so einem frühen Projektzeitpunkt erwartet. Natürlich waren sie auch etwas überfordert von dieser fast genau zweistündigen, alle Sinne und volle Konzentration erfordernden Präsentation.

Ihnen geisterten außerdem Ahnungen durch den Kopf, dass es neben den wissenschaftlichen Aspekten um dieses Netsuke auch manches Mystische zu geben schien. Vor allem Tomomi hatte wieder Gänsehautgefühle und wusste nicht so recht, ob das leichte Gruseln und die wohligen Schauer wegen dieser gespenstischen Verquickungen etwas Gutes waren. Auf wundersame Weise fühlte sie sich diesem Objekt plötzlich noch näher und geheimnisvoller verbunden als bisher.

Gemeinsam brachten sie nach kurzem Abschied von Professor Wang den obligatorischen Security Check im Schleusenraum hinter sich. Erschöpft und aufgekratzt zugleich ging man zurück in die Büros, jeder ganz in Gedanken versunken. Insbesondere die Jüngeren unter ihnen fieberten schon dem Abend entgegen, denn es waren so viele Fragen offen und das Dinner mit Marco versprach spannend zu werden.

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