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Erinnerungen

Der alte Mann hockte in sich zusammengesunken und mit halb geöffnetem Mund in dem zerschlissenen Ohrensessel am Sprossenfenster und schnarchte laut vor sich hin. Er war bei der Betrachtung der unten am Ufer vor seinem Fachwerkhaus spielenden Kinder eingenickt – wie so oft am frühen Nachmittag, wenn er sich in diese Fensternische zurückzog, um in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen.

In jenem kalten Februar des Jahres 2012 war der Main teilweise zugefroren, einige in der Sonne blassblau schimmernde Eisschollen hatten sich auf die Böschung hochgeschoben und boten der Dorfjugend einen grandiosen Abenteuerspielplatz. Trotz der grimmigen Kälte versuchte gerade eine Horde als Indianer verkleideter Jungs neben einem aus Holzlatten und einer Plane improvisierten Zelt ein Lagerfeuer anzuzünden, wobei sie einige hochgestellte Eisplatten als Windschutz benutzten.

Bevor sich die Augen des unter zunehmender Altersdemenz leidenden Mannes vor Müdigkeit geschlossen hatten, musste sich diese Szene wohl in seinen wegdämmernden Verstand magisch eingeprägt haben. Wenig später geisterten ähnliche Bilder durch sein Unterbewusstsein.

In diesem Traum blickte er wie aus einer Vogelperspektive herab auf eine aus Reisig und Fellen gebaute Schwitzhütte am Ufer eines weiten, still daliegenden Sees inmitten seltsam bläulich schimmernder und tief verschneiter Wälder. Aus einem kleinen Luftauslass in der Decke der Hütte stiegen Rauch und feuchte, sofort zu Eisnebel kondensierende Luft auf. Ein Zeichen, dass gerade jemand die spirituelle Reinigungszeremonie mit heißem Dampf und glimmenden Kräutern und Pilzen darin vollzog.

Nun kroch ein Mensch unter einem langsam zur Seite geschobenen Fellstück hervor und richtete seinen schweißglänzenden, tätowierten Körper auf, mit weit geöffneten Armen die eisige Luft begrüßend. Es war ein etwa dreißigjähriger Indianer, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, an dessen Gürtel ein Jagdmesser und ein ledernes Behältnis hingen. Er murmelte mit weiterhin ausgestreckten Armen und zum Himmel gerichtetem Blick eine Weile lang gutturale rituelle Worte. Im, auf der berauschenden Wirkung der Pilze beruhenden, Trancezustand war er in den letzten zwei Stunden wie auf Adlerflügeln in fremde Welten und Zeiten gereist.

Die seltsame Gestalt setzte sich – ungeachtet der Witterung – auf den Boden und breitete zwischen überkreuzten Beinen den Inhalt eines Medizinbeutels aus. Es waren mehrere Holzstückchen und heilige Steine, eine Hasenpfote sowie eine kleine Figur, die anscheinend aus einem Knochen oder Tierzahn geschnitzt war und einen Adler mit einem Beutetier in seinen Fängen darstellte. Nachdem er ehrfürchtig vor allem dieses Totem-Objekt betrachtet und seine Gedanken darin versenkt hatte, verbarg er alles wieder in dem mit Adlerflaum und Tabakblättern ausgepolsterten Beutel. Der Indianer beendete das Treffen mit seinem Geistwesen, indem er es noch dreimal mit »A-wa-hi-li« anrief. Er zog die Beinkleider und den Jagdrock an, die auf einem Ast hingen, griff seinen Bogen sowie den Köcher mit den im heiligen Rauch gereinigten Pfeilen und schritt von neuer Kraft erfüllt ins dichte Unterholz des Waldes. So wie der Indianer verschwand, löste sich augenblicklich die Szenerie auf bis sie gänzlich verblasste. Im Unterbewusstsein des Träumenden verblieb nur noch eine große Leere …

Der alte Mann im Ohrensessel wachte auf und öffnete langsam und noch schlaftrunken die Augen. In seinen Mundwinkeln war Speichel festgetrocknet, aber er bemerkte es nicht. Genauso wenig wie er den säuerlich scharfen Geruch in seinem verwahrlosten Haus wahrnahm. Im Halbdunkel des kleinen, mit Unmengen Gerümpel vollgestellten Wohnzimmers humpelte er auf unsicheren Beinen zu einer Seitenwand, an der ein Setzkasten – gefüllt mit asiatischen Schnitzereien – hing. Mit zittriger, ausgezehrter Hand und dennoch schlafwandlerischer Sicherheit nahm er eine dieser kleinen Figuren heraus und hielt sie ganz nah vor seine schwachen Augen. Der Alte hatte keinerlei Erinnerung mehr an die gerade geträumte Geschichte. Dennoch lächelte er zärtlich, fast ehrfürchtig die kleine Adler-Schnitzerei an, die ihn so viele Jahre begleitet hatte.

Nichts wünschte er sich sehnlicher in diesem Moment, als noch einmal auf die große, fantastische Reise zu gehen, auf die ihn dieses kleine Objekt einst geleitet hatte.

Von einem Augenblick zum anderen glitt sein Verstand wieder ab und er verfiel in dumpfes Nachdenken, was er heute noch tun wollte. Er wusste es nicht mehr.

Der Masanao Adler

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