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Ein langes Dinner

Der Empfangschef, der Marco wie einen Stammgast begrüßte, geleitete sie zu einem kleinen, runden Nebenraum, den Claudia vorsorglich gebucht hatte. So waren sie ungestört für die Gespräche, die an diesem Abend anstanden. Als sich wenig später der Kellner nach Aushändigung der großformatigen Menükarte und Servieren des Begrüßungs-Champagners zurückzog, übernahm Marco routiniert seine Rolle als Gastgeber.

»Also, liebe Freunde – wenn ihr mir gestattet, das so zu sagen – ich freue mich wirklich, mit euch heute Abend zusammen zu sein! Ich finde, wir sind ein tolles Team! Darauf möchte ich mit euch anstoßen – auf uns und unsere gemeinsame Arbeit!«

Es ging in der harmonischen, euphorischen Stimmung weiter, deren Grundstein bereits in Rick´s Cafe gelegt worden war.

»Aber ›first things first‹! Ich möchte euer Augenmerk auf das Degustationsmenü auf der ersten Seite lenken. Gerne mit den korrespondierenden Weinen, denn der Sommelier hier im Club ist ähnlich begnadet wie der Küchenchef. Wenn ihr einverstanden seid, wäre das eine passende Begleitung für die Informationen, die ich euch gerne mitteilen möchte. Sicher habt ihr viele Fragen an mich, die euch seit dem Meeting heute Nachmittag auf der Seele brennen. Aber jetzt studieren wir erst mal angemessen die Karte!«

Alle schmunzelten vergnügt vor sich hin, während sie lebhaft mögliche Alternativen zu manchen Gängen diskutierten. Die Heiterkeit bezog sich nicht nur auf die Aussicht auf ein göttliches Abendessen: Grund waren auch die Erinnerungen, die jeder einzelne von ihnen an frühere Treffen mit Marco hatte, bei den Bewerbungsgesprächen und anderen Anlässen vor ihrem Arbeitsbeginn in Peking. Seine Begeisterung, aber auch Fachkenntnis hinsichtlich exzellenter Speisen und Getränke war beeindruckend, und qualitätsvoll zu essen und zu trinken war ihm wichtig. Dass ihr Chef sie in diese genussreiche Facette seiner Lebensart so herzlich einschloss, machte ihn neben anderen Wesenszügen einfach liebenswert.

Natürlich nahmen sie seinen Vorschlag sehr gerne an und als der Kellner zurückkam, wurde durch Marco das teilweise individuell leicht abgeänderte große Abendmenü bestellt. Wobei er einen zusätzlichen Hinweis gab: »Ach, Vincent, und lassen Sie uns bitte zwischen den einzelnen Gängen jeweils etwa eine Viertelstunde Verschnaufpause. Wir haben verschiedene Dinge zu besprechen und obwohl ich diese für recht interessant halte, soll unser Arbeitsgespräch auf keinen Fall unsere Konzentration auf die Köstlichkeiten des Menüs beeinträchtigen. Was nicht heißen soll, dass wir beim Sprechen nicht an gefüllten Gläsern nippen könnten. Also gerne nachschenken!«

Es versprach also nicht nur ein schöner, spannender Abend zu werden, sondern auch ein sehr langer, beschwingter. Das war seinen Mitarbeitern nun klar, aber keineswegs unangenehm.

Nach dem Amuse Gueule startete Marco sofort mit jenem Thema, das er ihnen am Nachmittag versprochen hatte: die Herkunft der Schatulle und ihren Inhalt.

»Ihr seid vermutlich davon ausgegangen, auch du, Tomomi, dass dieses ominöse Konvolut zusammen mit dem Netsuke im UNTACH-Archiv vorhanden war. Das ist nicht der Fall. Ich habe diese Schatulle vor drei Monaten in London privat erworben und – als Arbeitsunterlagen deklariert – mit meinem persönlichen Umzugsgut mitgebracht, ohne es dezidiert als Dokumentation zum Masanao-Netsuke anzugeben. Der Inhalt ist weder inventarisiert noch in der Dokumentendatenbank des UNTACH erfasst. Später werdet ihr verstehen, warum.«

Er beobachtete die Reaktionen auf diese Mitteilung genau und insbesondere bei Frank entging ihm die kleine Verstimmung in dessen Zügen nicht. »Frank, wir beide hatten uns in Shanghai vor meinem Umzug nach Peking getroffen, also nachdem ich die Schatulle schon hatte. Ich kann gut verstehen, wenn du dich etwas wunderst, ja vielleicht sogar ärgerst, weil ich diese Sache damals nicht erwähnte. Der Grund hierfür war, dass ich die Dokumente vor dem Kauf nur flüchtig in Augenschein nehmen konnte. Ich war mir nicht sicher, ob eine Verbindung zu unserem Netsuke besteht oder das ein dummer Zufall war. Deshalb wollte ich gesicherte Ergebnisse abwarten und hatte später Tomomi gebeten, dies vertraulich zu behandeln. Aber der Reihe nach: Im Jahr 2015, also vor wirklich langer Zeit, arbeitete ich vier Monate lang im Mainfränkischen Museum in Würzburg an einem Projekt. Nebenbei nahm ich von einem Auktionshaus dort einen Beratungsauftrag an. Inhalt war die Bewertung eines Nachlasses, zu dem eine Sammlung afrikanischer und asiatischer Elfenbeinobjekte gehörte. Das war damals rasch erledigt. Aber als ich schon fast auf dem Sprung nach draußen war, bat man mich, mir noch kurz etwas anderes anzusehen. Da das Honorar ganz gut war, sagte ich gerne zu. Kurz danach stellte man genau jene Schatulle vor mir auf den Tisch, über die wir nun sprechen. Vor einundzwanzig Jahren in Würzburg sah ich sie also zum ersten Mal.

Das Stück stammte aus einer anderen Nachlassauktion. Im Katalog stand ›Konvolut aus einer reich beschnitzten Edelholzschatulle mit Bein- und Perlmutt-Intarsien, siebzehn kleinen Sammlungsobjekten sowie vierundzwanzig Dokumenten unbekannter Provenienz‹. Da das Objekt keinen Interessenten gefunden hatte, war es im Fundus des Auktionshauses verschwunden, sollte aber neu angeboten werden.

Ich klappte damals das Behältnis eher uninteressiert auf, blätterte einige der Dokumente durch und fand nichts, was meine Aufmerksamkeit erregte. Da war eine, wie ich meinte, mehrseitige Abschrift aus einem Abenteuerroman, der in der Südsee spielte und mich an Robinson Crusoe erinnerte. Dann gab es ein paar Seiten über eine Elefantenjagd in Afrika, ein paar Tabellen und Aufzählungen in chinesischen und japanischen Schriftzeichen sowie kürzere Texte und Listen in arabischer Schrift. Ich fand ein Blatt, das wie eine Kopie aus dem japanischen Nachschlagewerk Soken Kisho aussah, aber stark vergilbt war. Nur den Namen Masanao konnte ich entziffern, er fiel mir ins Auge, weil er unterstrichen war. Im mittleren Fach war ein durchsichtiges Kunststoffkästchen integriert, das man aufklappen konnte und in dem sich die Hohlform einer kleinen Figur erkennen ließ, die aber fehlte. Die Rückseite dieser Hohlform hatte eine Oberflächenstruktur wie ein Federkleid, also war vielleicht dort einmal ein kleiner Vogelbalg oder eine Vogelfigur aufbewahrt worden. Mein Eindruck damals war, dass hier eine an sich recht schöne Holzschatulle von irgendjemand benutzt worden war, um einige persönliche Reisesouvenirs oder Jugenderinnerungen aufzubewahren. Nach den Gebrauchsspuren zu urteilen, war das Behältnis etwa fünfzig Jahre alt und Materialien und Ausführung deuteten auf Südostasien als Ursprung hin, vielleicht Indonesien. Den Inhalt vergaß ich sofort wieder, er erschien mir nur für den früheren Besitzer von ideellem Wert gewesen zu sein. Die Schatulle selbst hatte ich damals mit etwa fünfhundert Euro taxiert. Die Intarsien waren kein Elfenbein, wie der Auktionator durch mich bestätigt haben wollte, sondern Bein, also Knochen, vielleicht von einem Rind oder Kamel. Seine Bezeichnung im Auktionskatalog war also absolut korrekt. Das war es damals für mich. Ich wünschte noch viel Erfolg für die Auktion und vergaß diese ganze Sache – bis letztes Jahr, wie ihr euch vorstellen könnt!«

Marco machte an dieser Stelle eine Pause, um Raum für Rückfragen und Diskussionen zu lassen und die kamen natürlich prompt. Seine Kollegen hatten am Nachmittag bereits viele Details zu einzelnen Inhalten der Schatulle aus seinem Vortrag erfahren und kannten die erstaunlichen Übereinstimmungen bisheriger Analysedaten mit einzelnen Texten. Frank hätte gerne mehr über gesicherte Altersbestimmungen zu den Papieren gewusst. Rebecca sprudelte gleich mehrere Fragen heraus zu vorhandenen Archivhinweisen auf diese Schatulle in den Büchern des Würzburger Auktionshauses. Tomomi, die schon länger eingeweiht war, hob nochmals die gute Übereinstimmung der neuen Messergebnisse mit der Afrika-Geschichte hervor. Sie wies zudem darauf hin, dass bereits weitere Analysen hier im UNTACH, aber auch extern in Speziallaboratorien in Auftrag gegeben worden seien. In den nächsten Tagen erwarte sie weitere Informationen zu den alten Dokumenten. Was alle gleichermaßen bewegte, war dieser unglaubliche Zufall, dass Marco früher auf eine vielleicht sensationell hilfreiche Dokumentensammlung zu ihrem Untersuchungsobjekt gestoßen war und dass diese zu ihrer Verfügung stand.

Beim nun servierten zweiten Gang ihres Menüs, begleitet von einem ausgezeichneten Glas Pouilly Fumé, wurde es wieder stiller. Sie genossen konzentriert die Jakobsmuscheln mit einer raffinierten Chili-Ingwer-Soße und nutzten die kleine Pause zum Reflektieren der gerade gehörten Erzählung.

Als die Teller abgeräumt und die Gläser erneut aufgefüllt waren, schwärmte Marco: »Ahh, zu Meeresfrüchten passt dieser Weiße von der Loire einfach perfekt!«, um danach seine Geschichte fortzusetzen: »Zurück zu unserem Thema. Ihr könnt bestimmt nachvollziehen, dass ich im März 2035, also im letzten Frühjahr, beim Lesen des Ausschreibungstextes für unser Projekt zunächst keinerlei Erinnerung an jenen Vorgang vor zwanzig Jahren hatte. Als ich mir im Rahmen der Antragsausarbeitung in den folgenden Wochen jedoch detailliertere Fotos des zu studierenden Netsuke besorgt hatte, fiel mir die Federstruktur auf der hinteren Hälfte des Kunststoffkästchen aus jener Holzschatulle plötzlich wieder ein. Die Ähnlichkeit mit der Rückseite des Netsuke war augenfällig, zumal mir der damalige Hinweis auf Masanao ins Gedächtnis kam.

Als Wissenschaftler denkt man üblicherweise nicht in Kategorien wie ›Zufall‹ oder ›Schicksal‹ sondern eher in solchen wie ›Logik‹ oder ›Wahrscheinlichkeit‹. Es erschien mir völlig absurd, dass ich ausgerechnet zu diesem Netsuke, auf dessen Monografie-Forschungsprojekt ich mich gerade bei UNTACH in China bewarb, vor zwanzig Jahren in Würzburg das dazu gehörende Behältnis samt zahlreicher Unterlagen gesehen haben sollte. So etwas passiert nicht, so viel Glück kann man gar nicht haben! Dennoch: Einfach ignorieren ging natürlich nicht und ich bekam diese verrückte Idee sowieso nicht mehr aus meinem Kopf. Ich fing also an, neben der Weiterarbeit am Antragstext ein paar Erkundigungen einzuziehen. Dieses Auktionshaus in Würzburg gab es nicht mehr, das war schnell recherchiert. In meiner alten Kontaktdatenbank fand ich den Namen meines damaligen Gesprächspartners, der inzwischen als Rentner am Gardasee lebte. Da er gelegentlich freiberuflich kleinere Aufträge übernahm, war er via Social Network sowie Mitgliederliste des Deutschen Dachverbandes der Auktionatoren auffindbar.

Als ich ihn kontaktierte, erinnerte er sich nicht mehr an mich, verwies mich aber immerhin an die Witwe des früheren Inhabers des Auktionshauses. Aus Pietät hätte sie die alten Geschäftsunterlagen angeblich nicht vernichtet. Die Bibliothek in ihrer Villa in Volkach, einem kleinen Weinort nicht weit von Würzburg, existiere noch unverändert, einschließlich der alten Einlieferungs- und Versteigerungslisten. Der Pensionär hatte in den vergangenen Jahren diesen Fundus mehrmals mit Erlaubnis seiner früheren Chefin benutzt und war sich sicher, dass man mir gerne Einsicht geben würde – was auch der Fall war.

Wie ihr wisst, war ich das ganze letzte Jahr im Getty Conservation Institute in Los Angeles beschäftigt. Ich bat daher einen befreundeten Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, ob er eine seiner studentischen Hilfskräfte vielleicht für zwei oder drei Tage entbehren könnte, um für mich eine kleine Recherche in Franken durchzuführen. Spesenersatz und Honorarzahlung wären selbstverständlich. Unkompliziert brachte der Kollege mich in Kontakt zu einem seiner Studenten, der sich der Aufgabe annahm. Wie ihr sicher schon vermutet, fand er diese Eintragungen. Ich hatte nun Namen und Kontaktdaten, sowohl zur Einlieferung als auch zu der Person, die das Objekt ersteigert hatte.«

Während Marco erzählte, wurde er mehrfach unterbrochen und musste etliche Fragen beantworten. Gerne schmückte er dies mit amüsanten Anekdoten aus seiner damaligen Zusammenarbeit mit der Universität in Frankfurt aus. So verging die Zeit und bald kam der Kellner zurück. Man legte wieder eine kleine Pause ein und widmete die volle Aufmerksamkeit dem dritten Gang, einer Rehterrine mit Preiselbeeren und einem kleinen Sellerietatar, dazu ein kleines Glas trockenen Sauternes. Genüsslich und schweigend wurde weiter gespeist.

Marco ließ hierbei seine Erinnerungen zum Ergebnis der Recherche Revue passieren: Die erhoffte Eintragung zur nächsten Station der Schatulle hatte sich in der Versteigerungsliste einer Auktion vom 06.06.2016 befunden: Zuschlag bei 630 Euro, Telefonbieter R 743-A, postalisch geliefert an Prof. Dr. Norbert Heffner, Hansastraße 35, 81373 München. Zahlung per Einzugsermächtigung. Unwillkürlich musste er über seinen damaligen Optimismus schmunzeln. Als ihm die Informationen zugingen – also im April 2035 – hatte Marco wirklich gehofft, den Aufenthaltsort der Schatulle rasch klären und diese erwerben zu können. Es wäre toll gewesen, seinen Antrag mit solchen Informationen anzureichern. Als Abgabetermin war der einunddreißigste Mai 2035 vorgegeben. Es wurde jedoch alles andere als einfach, an dieses Objekt heranzukommen, das vielleicht ein Schlüssel zur langen Historie des Masanao-Netsuke sein könnte.

»Liebe Kolleginnen und lieber Frank«, wandte sich Marco nach dem Abräumen des Geschirrs wieder an sein Team, »es würde heute Abend zu weit führen, die nächsten Schritte und Komplikationen ausführlich zu erzählen, die dann folgten. Ich will mich bei diesem Teil der Geschichte kurzfassen. Meine eigenen Versuche, anhand der in Volkach gewonnenen Erkenntnisse der Schatulle auf die Spur zu kommen, scheiterten leider kläglich. Name und Adresse der Person in München, die das Konvolut ersteigert hatte, erwiesen sich als Sackgasse. Ich beauftragte daher im September letzten Jahres eine auf das Auffinden von Kunst und Antiquitäten spezialisierte Detektei in Berlin, den aktuellen Aufenthaltsort zu recherchieren. Dieser Detektei gegenüber erklärte ich mein Interesse an dieser Schatulle und den enormen Mitteleinsatz damit, dass es sich um ein verschollenes Familienerbstück von höchstem, ideellem Wert für mich handelte. Wie ihr aus den offiziellen Projektunterlagen wisst, lag mir zu diesem Zeitpunkt erfreulicherweise die vorläufige Mitteilung aus Peking bereits vor, dass man mir die Leitung dieses Forschungsprojekts zu übertragen gedachte. Die endgültige Beauftragung und Mittelfreigabe kamen bereits drei Wochen später.

Meine Investition lohnte sich, obwohl die Beauftragung der Detektei ein gewisses persönliches Risiko in sich trug, da ich dies aus meinen Privatmitteln vorfinanzieren musste. Projektstart war der erste April 2036 und vorher hatte ich noch keinen Zugriff auf das Projekt-Budget. Glaubt mir, mehrere Wochen Detekteikosten samt Spesen ergab ein hübsches Sümmchen Geld! Aber wie so oft: Mut macht sich bezahlt!

Nach etlichen Verwicklungen und Umwegen konnte mir die Detektei Ende Februar den Aufenthaltsort der Schatulle mitteilen. Sie sollte sich im Besitz eines Privatmannes in London befinden, der sie in einem Trödelgeschäft in der Portobello Road für zweihundert Pfund erworben hatte. Die diversen Zwischenstationen von München bis London, die die Detektei ermittelt hatte und mir der Vollständigkeit halber ebenfalls detailliert mitteilte, will ich hier überspringen. Nach einem Telefonat mit dieser Person, einem sehr netten älteren Inder, war klar, dass er sich in Anbetracht der für mich persönlichen Bedeutung dieses Objekts gerne wieder davon trennen wolle.

Ich hatte wieder die rührende Geschichte meines angeblichen Familienerbstücks erzählt – schamlos, ich weiß. Nach Zusendung mehrerer Fotos, die belegten, dass dies wirklich die ›Würzburger Schatulle‹ war, wurden wir uns über einen Preis von neunhundertfünfzig Pfund zuzüglich Versand- und Versicherungskosten einig. Ich überwies ihm den Gesamtbetrag und er schickte mir das Objekt Mitte April per Kurier nach Los Angeles, wo es unbeschadet ankam und ich es endlich genauer in Augenschein nehmen konnte, nun natürlich mit viel größerer Aufmerksamkeit als vor zwanzig Jahren. Wie bereits aus den Fotos zu sehen, war ein Teil des Inhalts nicht mehr vorhanden, sondern irgendwo auf den vielen Stationen zwischen Würzburg und London verschwunden. Ich werde euch morgen im Büro direkt am Original einen Einblick geben, das geht besser als jetzt hier beim Abendessen – zumal erfreulicherweise der nächste Gang anrückt, wie ich gerade sehe.«

Sie genossen eine delikate Steinpilzsuppe mit Croutons, dazu ein kleines Glas Gewürztraminer aus dem Elsass. Nachdem dieser vierte Gang genüsslich verspeist war, erzählte Marco weiter: »Leider blieben mir nur wenige Tage, bis die Spedition in Los Angeles mein Umzugsgut samt Schatulle abholte, um alles per Luftfracht nach Peking zu schicken. Gerade in dieser Zeit hatte ich sehr viele andere Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Abschluss meiner Forschungsarbeit bei Getty sowie diverse organisatorische Dinge mit dem UNTACH zu regeln. Deshalb konnte ich mich nicht so intensiv mit dieser Sache beschäftigen, wie ich es mir gewünscht hätte. Die erste Sichtung der Dokumente bestärkte mich jedoch in meiner Vermutung, dass hier tatsächlich eine Verbindung zum Masanao-Adler vorhanden sein könnte. Aber es blieben starke Zweifel, wie viele dieser Informationen einer wissenschaftlichen Betrachtung standhalten würden und ob ich mich nicht gedanklich verrannte. Vielleicht, weil ich inzwischen – nach doch erheblichem Aufwand – unbedingt an eine solche glückliche Fügung wider alle Vernunft glauben wollte!

Also, ihr Lieben, nun kennt ihr die illustre Geschichte um diese seltsame Schatulle, und morgen werden wir uns direkt am Objekt näher damit beschäftigen.«

Nach einem kräftigen Schluck vom gerade nachgeschenkten Elsässer Weißwein und der Beantwortung einiger weiterer Fragen aus der Runde seiner Mitarbeiter, ging Marco den letzten noch offenen Punkt seiner Ausführungen an und zog hierzu ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche.

»So, ich bin euch noch die Erklärung schuldig, wieso an diesem Netsuke irgendeine Botschaft versteckt sein könnte. Auch das ist eine geheimnisvolle Angelegenheit, denn die Detektei in Berlin war auf einen weiteren Hinweis gestoßen. Als professionelle Kunstfahnder verließen die sich nicht auf die Kurzrecherche eines Studenten, sondern statteten der Witwe in Volkach einen persönlichen Besuch ab. Hierbei fanden sie einen Vermerk, der sich ins Jahrbuch 2017 verirrt hatte. Ich habe hier eine Kopie dieser Seite und will sie euch wortwörtlich vorlesen: Nachtrag zur Versteigerungsliste der Auktion vom 09.12.2016, Katalognummer 1659A, aufgeführt unter der Rubrik ›Drucke, Kalligraphie‹: Japanischer Surimono-Farbholzdruck, unsigniert, im Shikishiban-Format 19 x 20 cm, aus dem Besitz eines Daimyo der Tokugawa-Zeit, um 1830, Inhalt übersetzt durch Dr. Heinrich Forberg, Japanologe, Übersetzung ins Deutsche beigefügt. Der Text des Gedichts in diesem Surimono handelt von einem Adler, der über das jadene Wildpferd wacht und den listigen Affen besiegt. Sehr schöne Kalligraphie mit zentralem, kleinem Farbholzdruckbild im Format 6x8 cm, das einen sitzenden Adler mit seiner Beute darstellt. Auf der Brust des Adlers in einer Kartusche in japanischen Schriftzeichen: ›Ich behüte deinen Ort‹. Aufrufpreis 1400 Euro. Zuschlag an Bieter mit Bieternummer 28 für 1400 Euro. Handschriftlicher Vermerk des Auktionshauses: Das Blatt gehörte ursprünglich zu einem Konvolut aus einer beschnitzten Holzschatulle sowie diversen Dokumenten, welche unter Katalognummer 1659 am 06.06.2016 versteigert wurde.

Ihr könnt euch vorstellen, dass ich genauso konsterniert war, wie ihr jetzt, als ich diese Information erhielt. Ein Surimono, also ein Gedichtkunstdruck, war damals 2015 nicht enthalten, als ich die Schatulle in Würzburg durchsah. Der wäre mir in diesem Format sicher aufgefallen, zumal ich japanische Farbholzdrucke sehr schätze. Das wurde alles immer mysteriöser und zwar schon bevor wir mit der eigentlichen Forschungsarbeit losgelegt hatten! Natürlich kontaktierte ich sofort wieder die Detektei und wollte hinsichtlich dieser Druckschrift einen weiteren Suchauftrag erteilen, erhielt aber umgehend eine frustrierende Antwort. Man teilte mir mit, dass entsprechende Recherchen bereits unternommen worden waren. Mit dem Ergebnis, dass der Druck am Tag der Auktion gegen Barzahlung einer nicht mehr zu ermittelnden Person mit der Bieternummer achtundzwanzig ausgehändigt wurde und sich von diesem Moment an seine Spur verlor. Die Adressdatei zur Bieternummernvergabe von damals lag im Archiv des Auktionshauses nicht mehr vor. Einen Einlieferungsvermerk zu einem solchen Surimono gab es nicht in den Unterlagen, wie zu erwarten, da er wohl dem genannten Konvolut entnommen worden war. Keine Datenbank- und Archiv-Abfrage zu einem solchen Surimono hatte etwas ergeben. Die Suche nach dem damaligen Übersetzer führte zu nichts, da ein Japanologe dieses Namens nicht zu identifizieren war. Eine fotographische Dokumentation des Surimono war weder im Auktionskatalog noch in den Unterlagen des Auktionshauses vorhanden. Vom erheblichen Aufwand einer weiteren, intensiven Suche rate man ab, da die Erfolgsaussichten bei derartigen Objekten und dem gegebenen Faktenstand als sehr gering einzustufen seien.

Damit ließ ich es bewenden, schließlich waren bereits viele Ansatzpunkte für die Untersuchung unseres Objekts vorhanden. Derart schwer deutbare zusätzliche Spuren konnten gerne etwas warten, bis ich später Verstärkung durch euch bekommen würde, und das ist nun erfreulicherweise ja der Fall. Außerdem: Wir haben Zugriff auf das Netsuke und wenn es an diesem eine verborgene Botschaft gibt, dann werden wir sie finden! Frank, wie ist denn deine erste Einschätzung zu diesem Texthinweis? Du bist definitiv unser Experte auf diesem Gebiet!«

Frank nippte an seinem Wein und rekapitulierte lächelnd: »Vielleicht hättest du mir diese Denksportaufgabe zwei Gläser früher stellen sollen, nicht erst jetzt, Chef. Aber in Ordnung, einige erste Gedanken kann ich schon mit euch teilen, obwohl es natürlich besser wäre, ich würde den ganzen Text kennen, nicht nur diese bruchstückhafte Kurzfassung aus einem halbprofessionellen Auktionskatalog. Legt das, was ich jetzt sage, bloß nicht auf die Goldwaage, das ist recht unausgegoren und aus dem ersten, zugegebenermaßen gerade sehr wohligen Bauchgefühl heraus.

Also, Surimono waren grundsätzlich nicht für den Verkauf gedacht, sondern wurden im privaten Umfeld an Freunde verschenkt, innerhalb der Familie zu besonderen Anlässen verschickt oder in Poetenkreisen ausgetauscht. Solche Gedichte enthielten häufig persönliche Anspielungen, oft scherzhafte Doppeldeutigkeiten, die nur Eingeweihte verstehen konnten. Das vorweg, denn ein allgemeiner Ansatz wird uns nicht sehr weit bringen. So ist der Adler in der japanischen Heraldik von keinerlei Bedeutung, im Gegensatz zu vielen anderen Kulturkreisen wie zum Beispiel in Europa. Auch auf japanischen Kriegszeichen, sogenannten Mon, treten Adler meines Wissens nicht auf, wir werden also keine Symbolik für eine bestimmte Samurai-Familie ableiten können. Allerdings gilt der Adler auch in Japan als ein mächtiges, mutiges Tier – aber eben nicht mit mythologischem Bezug. Im Vergleich zu vielen anderen Vögeln, wie beispielsweise Spatz, Wachtel oder Hahn, spielt der Adler eine wenig auffällige Rolle als Kunstmotiv.

Das Wildpferd sagt mir in diesem Zusammenhang absolut gar nichts, dieser Ausdruck ist in Japan nicht üblich, wie Tomomi sicher bestätigen wird. Es gab keine Wildpferde dort, im Gegensatz zu China oder der Mongolei. Der Hinweis auf das Material Jade bedeutet, wie in ganz Asien, dass es sich um etwas sehr Wertvolles handelt – und natürlich gibt es in China etliche Pferdedarstellungen aus diesem Material. Im Japan der Tokugawa-Zeit dagegen bin ich nie auf diese Kombination gestoßen. Ganz anders sieht es mit dem Affen aus, der in Japan in tausendfacher Form in Mythen und Volkssagen vorkommt und ein beliebtes Netsuke-Motiv ist. Man sollte gezielt eine Recherche starten, in welcher historischen Geschichte oder volkstümlichen Erzählung sich alle drei genannten Tiere und das Material Jade gemeinsam finden lassen – mir fällt spontan keine Quelle ein, wo dies der Fall ist.

Am eindeutigsten ist für mich die angebliche Inschrift auf der Adlerbrust im Surimono, denn der Ausdruck ›Ich behüte deinen Ort‹ ist ein gebräuchlicher Spruch im feudalen Japan. Aber weniger spektakulär, als ihr wahrscheinlich denkt. Es ist ein feststehender Ausdruck aus einem einfachen Kinderspiel jener Zeit, etwa vergleichbar mit dem noch im zwanzigsten Jahrhundert auch in Deutschland beliebten ›Versteckspiel‹ kleiner Kinder. Im übertragenen Sinn allerdings, und nun wird es wieder spannend, war damals dieser Spruch gerne zur Kennzeichnung von Schlüsseln oder Schlüsselinformationen benutzt worden. Er war durchaus üblich als Hinweis auf geheime Botschaften oder auf den Aufbewahrungsort von Wertgegenständen. Ich nehme an, Marco, genau dieser Aspekt schwebt dir vor bei unserem Masanao-Netsuke?«

Marco nickte zustimmend und freute sich über die Bestätigung seiner Überlegungen, aber auch darüber, dass er am Ende der Geschichte zu dieser Schatulle war. So konnten sie den weiteren Abend und vor allem das vorzügliche Essen entspannter und mit einem gleichmäßiger auf alle Anwesenden verteilten Gespräch fortführen.

»Genauso ist es, Frank! Damit seid ihr im Großen und Ganzen auf dem gleichen Wissensstand wie ich. Nun habt ihr vor allem das Wort, ich habe ja die ganze Zeit wie ein Wasserfall auf euch eingeredet und freue mich ehrlich gesagt auf eine kleine Pause. Wir haben noch gar nicht über eure Erfahrung heute Nachmittag mit ›The Wall‹ sprechen können. Na, was haltet ihr von diesem famosen High Tech Virtual Reality System und seinem Visualisierungspotential?«

Es entwickelte sich eine muntere und begeisterte Diskussion über diese Einrichtung. Jeder am Tisch brachte sich engagiert ein und aus dem bisherigen Monolog wurde ein facettenreicher Dialog, der die weiteren Gänge des Menüs begleitete und den restlichen Abend wie im Fluge vergehen ließ. Als weit nach Mitternacht ein Espresso das Dinner beendete, war das Team trotz der intensiven Informationsflut und des langen Abends noch immer aufgekratzt und munter. Sie empfanden diesen Tag als einen entscheidenden Schritt mitten hinein ins Abenteuer ihrer Forschungsarbeit, die noch viel spannender zu werden versprach, als es die rein fachliche Beschreibung des Projekts ursprünglich vermuten ließ.

Nach einem herzlichen Abschied vor dem Restaurant zerstreute sich die Gruppe in Richtung der verschiedenen Wohntrakte und jeder war noch recht lange in Gedanken bei dem, was sie von Marco erfahren hatten und was an Ideen zum weiteren Vorgehen ausgetauscht worden war. Sie brannten darauf, am kommenden Morgen die nächsten Schritte anzugehen und dem Rätsel dieses Netsuke auf die Spur zu kommen.

Zur gleichen Zeit wurden in dem kleinen Nebenzimmer, in dem sie diesen Abend genossen hatten, die letzten Geschirre und Gläser abgeräumt sowie die Dekoration entfernt, unter anderem ein großes, flaches Blumenbouquet, das die Mitte des runden Tisches geziert hatte. Wer dies aufmerksam beobachtet hätte, dem wäre nicht entgangen, dass einer der Hilfskellner ein winziges Kästchen aus dem Steckschwamm in der Mitte des Bouquets entfernte und in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Dieses Hochleistungs-Aufnahmegerät wurde wenige Minuten später in der Personaltoilette an einen Mitarbeiter des UNTACH-Sicherheitsdienstes übergeben. Bereits nach einer weiteren Viertelstunde war die vollständige Audioaufzeichnung der abendlichen Unterhaltung über eine verschlüsselte Leitung an einen Empfänger im Tamagi Tower überspielt. Dort wartete seit Stunden jemand auf diesen Gesprächsmitschnitt, als würde sein Leben davon abhängen.

Der Masanao Adler

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