Читать книгу Der Masanao Adler - Dieter R. Fuchs - Страница 14
ОглавлениеLeben im UNTACH
Claudia hatte am späteren Nachmittag dem ganzen Team eine Kurzmitteilung auf ihre Kommunikations-Armbänder geschickt. Sie enthielt Uhrzeit, Raumnummer und eine digitale Reservierungsbestätigung, ohne die ein Zugang zum Restaurantbereich des Science Club unmöglich gewesen wäre. Außerdem wurde auf diesen Gadgets automatisch eine Erinnerungs- sowie Navigationsfunktion aktiviert, die im labyrinthischen Wegesystem des riesigen Geländes für eine möglichst bequeme und pünktliche Ankunft sorgte.
Die Mehrzweckgeräte in der Größe einer Armbanduhr waren kleine Wunderwerke der Technik. In Anlehnung an eine klassische Schweizer Kult-Uhr nannten alle sie scherzhaft nur kurz ›Rolix‹. Jeder, der sich im UNTACH-Bereich aufhielt, wurde damit ausgestattet und man konnte sich außerhalb seines eigenen Wohnraums nur bewegen, wenn man sie trug. Sie vereinigten in sich die Funktionen eines Smartphone der neuesten Generation sowie das Zugangs- und Kostenbuchungs-System für alle individuell freigegebenen Türen, Einrichtungen, Geräte und Dienstleistungen im gesamten Komplex. Ein wichtiges weiteres Leistungsmerkmal waren unterschiedlichste Identifikationsfunktionen, welche für eine in jeder Hinsicht hohe Sicherheit sorgten, ohne dass der Träger hierüber Detailkenntnisse hatte.
Der hohe Überwachungsgrad bei UNTACH war für viele anfangs gewöhnungsbedürftig. Ein Großteil des täglichen Lebens spielte sich quasi unter vollständiger Beobachtung ab und man verbrachte nicht nur einige Stunden oder Tage, sondern in der Regel mehrere Wochen in dieser Situation.
Ausgenommen waren die Wohnareale, die nur an den äußeren Zugangstoren akribisch kontrolliert wurden, während innen die gemeinschaftlichen Bereiche und Wege nur mit herkömmlicher Videoüberwachung ausgestattet waren, so wie eben in den Straßen und öffentlichen Gebäuden in jeder Großstadt üblich. Die privaten Apartments waren frei von Überwachungstechnologie, zumindest war dies die offizielle Version.
Marco Renke und seine vier Mitarbeiter wohnten in jeweils unterschiedlichen Flügeln der überirdisch gelegenen Wohnbereiche. Er hatte in Anbetracht der langen Zeit, die man hier gemeinsam arbeiten würde, etwas räumliche Distanz zueinander als sinnvoll angesehen. Es existierten vier unterschiedliche Kategorien von Apartments und sie alle logierten in der besten, da dies das Projektbudget problemlos zuließ. Jeder in seinem Team verfügte über einen schön möblierten Wohnraum mit exzellenter Medienelektronik, Küchennische sowie Büroecke. Es gab ein separates Schlafzimmer, an das ein kleiner, aber gut gestalteter Wellness-Bereich angrenzte. Das Beste an diesen Apartments der obersten Klasse war jedoch, dass sie große Fenster zum parkähnlich angelegten Freigelände des UNTACH-Areals hatten. Die Apartments niedriger Kategorien, die sich fensterlos in den Untergeschossen oder im Kern der riesigen Gebäude befanden, wären deutlich kleiner und einfacher ausgestattet gewesen.
Für viele Wissenschaftler, die hier kürzere Zeit verbrachten, spielte dies allerdings keine Rolle, da sie sowieso die meiste Zeit in den Laboratorien, Büros, Archiven oder Sitzungsräumen verbrachten, also ihre Wohnräume nur zum Schlafen aufsuchten. Außerdem boten die allgemein zugänglichen Freizeit- und Sportanlagen jedem, egal wie er untergebracht war, genug Optionen zur Abwechslung vom ›Höhlendasein‹ während der Arbeitszeiten. Auch hinsichtlich der auf den Rolix gespeicherten Budgetgrenzen für Freizeitaktivitäten, Kantinen und Restaurants, Getränke- und Snackautomaten, Sportanlagen und vielem mehr, war Marco großzügig gewesen. Sie hatten praktisch unlimitierten Zugang zu allem, was die UNTACH-Infrastruktur hergab.
Weniger Spielräume und selbstbestimmte Wahlmöglichkeiten bestanden im Allgemeinen, was den Zugang zu den Archiven und Forschungseinrichtungen tief unten im Hochsicherheitsbereich betraf. Dort war durch die Klassifizierung der Untersuchungsobjekte und die Bewilligungsdokumente genau vorgegeben, zu welchen Bereichen die einzelnen Forscher jederzeit Zugang hatten und zu welchen nur nach vorheriger Anfrage und gegen zusätzliche Kostenbuchung. In dieser Hinsicht zählten Marco und sein Team ebenfalls zu den Privilegierten, wie sie bald nach Ankunft feststellen konnten. Ihre Projekteinstufung und Sicherheitsfreigabe ließen kaum Wünsche offen und sie waren in der komfortablen Lage, sich in den unterirdischen Forschungssektionen des UNTACH recht frei bewegen zu können.
Doch im Moment lagen die Tiefen dieses Labyrinths mit seinen Kunst- und Kulturschätzen weit unter ihnen, denn gegen achtzehn Uhr waren sie bereits in den oberen Etagen unterwegs und freuten sich auf das Dinner mit ihrem Chef.
Es war Rebecca, die den anderen vorgeschlagen hatte, sich eine Stunde vor der vereinbarten Zeit auf einen Drink in der Bar ›Rick´s Cafe‹ in direkter Nachbarschaft des Science Club zu treffen. Es bestand bislang wenig Gelegenheit, sich näher kennenzulernen und daher stimmten die anderen sofort zu. Claudia buchte einen Tisch, vorsorglich für fünf Personen, schickte die obligatorischen Daten an die Rolix ihrer drei Kollegen und eine kleine Info an Marco, sodass dieser wusste, wo seine Mitarbeiter zu finden waren, falls er dazustoßen wollte.
Während Tomomi bereits vor sechs Wochen, also nur vierzehn Tage nach ihrem Chef in Peking angekommen war, hatten Rebecca, Claudia und Frank erst vor zwei Wochen ihre Arbeit bei UNTACH aufgenommen. Fast die gesamte erste Woche waren sie mit administrativen und organisatorischen Dingen beschäftigt, um sich und ihre Projektgruppe überall zu registrieren, mit den notwendigen Arbeitsmitteln auszustatten und die persönlichen Dinge zu regeln. Mit einem solchen Neustart in dieser, für sie alle noch ungewohnten Umgebung waren viele Umstellungen verbunden, für die ihnen Marco angemessen Zeit einräumte.
Gleich am ersten Abend gab er ein kurzes Welcome Dinner, bei dem er ihnen in groben Zügen den Ablauf der nächsten Wochen skizzierte. Marco verzichtete darauf, seine noch durch die weite Anreise und die langwierigen Sicherheitskontrollen beim Betreten des UNTACH sichtlich gezeichneten Mitarbeiter mit zu viel Fachlichem zu überhäufen. Stattdessen stimmte er sie mehr emotional auf die Arbeit in dieser speziellen Umgebung und insbesondere in ihrem Projekt ein und vermittelte ihnen seine Vorstellungen von guter Team-Arbeit und vom faszinierenden Potential ihres Forschungsprojekts. Nach diesem von allen als sehr angenehm empfundenen Abend übergab er jedem einen Speicherchip, auf dem er individuell wichtige Hintergrunddaten zu den anstehenden Aufgaben sowie Projekt-Dokumente und Listen mit interessanten Internet-Links zusammengestellt hatte. Sie sollten sich bei Gelegenheit einlesen und erste eigene Gedanken machen. In etwa einer Woche würde man wieder zusammenkommen und die vor ihnen liegende Arbeit gemeinsam strukturieren.
Nach zehn Tagen berief er das erste echte Team Meeting ein und man ging die Projektarbeit an. Da sie es kaum noch erwarten konnten, richtig loszulegen, begann ab diesem Tag die spannende gemeinsame Forschungsarbeit in einer Intensität, die wenig Zeit und Gedanken für private Treffen bot.
Aber diese Situation musste und sollte sich natürlich normalisieren, schließlich hatte man ein ganzes Jahr vor sich, das es nicht nur abzuarbeiten, sondern als wertvolle Lebenszeit angenehm zu gestalten galt. Das heutige Treffen vor dem Dinner könnte hierzu vielleicht ein guter Beginn sein, so empfand es das Team – und so war es auch.
Sie trafen alle vier fast gleichzeitig vor Rick´s Cafe ein, obwohl aus völlig unterschiedlichen und weit entfernten Wohnbereichen kommend – das Leitsystem ihrer Rolix funktionierte ausgezeichnet. Als sie die Tür öffneten, brandete ihnen ein lebendiges, vielsprachiges Stimmenwirrwarr entgegen, das die Musik fast völlig übertönte. Die Bar war krachvoll, wie an jedem Abend.
Frank ging voraus und bahnte ihnen trotz der Enge problemlos den Weg zum reservierten Tisch, seine drei Begleiterinnen im Schlepptau, die etliche Blicke auf sich zogen. Gut aussehende Frauen waren im UNTACH keineswegs selten, aber manche stachen eben doch aus der Menge heraus. Für den heutigen Abend hatten sich Claudia und Rebecca elegant gekleidet und wirkten noch attraktiver als sonst in ihren eher legeren, sportlichen Outfits, und die schrille Tomomi war sowieso überall ein Hingucker, wo sie auftauchte.
Ihr Tisch lag in einer Nische im hinteren Teil der Bar und war von der allgemeinen Lärmkulisse nicht zu sehr betroffen. Man konnte sich tatsächlich unterhalten, ohne zu schreien. Als sie ihre Drinks vor sich hatten, ergriff nach einigem Small Talk und dem ersten Zuprosten Claudia das Wort, um die Sache in Schwung zu bringen: »Also, ihr Lieben, nun arbeiten wir schon zwei volle Wochen an unserem Projekt, Tomomi sogar viel länger, aber irgendwie jeder für sich alleine und ohne dass wir bisher etwas gemeinsam unternommen haben, von den paar Kantinenbesuchen mal abgesehen. Klar, mehr war die erste Zeit gar nicht machbar, da wir bis über die Ohren damit beschäftigt waren, uns hier erstmal zurechtzufinden und das ganze Material durchzuarbeiten, mit dem uns Marco versorgt hatte. Inzwischen steckt jeder von uns außerdem bereits tief in der Facharbeit auf seinem Spezialgebiet. Ich sehe dies ja an der Informationsflut, die ihr täglich über mir ausschüttet, damit ich alles in unsere Projekt-Datenbank entsprechend einspeisen kann. Ihr seid echt produktiv! Aber nun lasst uns mal für ein Stündchen den ollen Masanao vergessen und über uns selbst reden - ich denke, das hast auch du, Rebecca, im Sinn gehabt, als du diese kleine ›Warming-up-Party‹ vor dem Dinner vorgeschlagen hast.«
Dem stimmten die anderen aus vollem Herzen zu. Nach einer halben Stunde und einem weiteren Drink war aus dem bisherigen Nebeneinander der Grundstein für ein Miteinander gelegt. Sie erzählten sich, wie jeder von ihnen durch Marco angeworben worden war, was sie an der Aufgabe besonders begeisterte und wie sie die Atmosphäre in dieser fremdartigen UNTACH-Umgebung jeweils empfanden. Das angenehm vertraut wirkende Gespräch brachte die vier näher zueinander, als es die ganzen Tage zuvor noch der Fall war. Sie spürten, dass jeder von ihnen trotz der so unterschiedlichen Temperamente, Fachgebiete und Erfahrungen in der Runde gleichermaßen willkommen, beteiligt und geschätzt war.
Als bei dem munteren Miteinander Tomomi plötzlich auffallend ruhig wurde und Rebekka nachhakte, ob etwas nicht in Ordnung sei, druckste die junge Japanerin nur kurz herum und antwortete dann offen: »Sorry, aber mir ist gerade bewusst geworden, wie locker und entspannt ihr über unser Projekt und das Netsuke sprechen und auch scherzen könnt. Mir fällt das seit vorhin etwas schwerer …« Auf Nachfragen rückte sie damit heraus, was sie gerade bedrückte: »Bitte haltet mich jetzt nicht für verrückt – aber ich glaube, die intensive Beschäftigung mit diesem kleinen Adler über die letzten Wochen hat etwas mit mir gemacht …«
Mit einem verunsicherten Augenaufschlag und Rundumblick fuhr sie etwas leiser fort: »Irgend etwas ist da von dem Netsuke auf mich übergesprungen. Also, ich meine – das Ding trägt etwas in sich, irgendetwas Magisches, und das hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Als hätte es einen Zauber ausgestrahlt. Ich fühle mich fast wie fixiert auf diese Schnitzerei. Als Marco in seinem Vortrag auf die mysteriösen Zusammenhänge und ›eine geheime Botschaft‹ zu sprechen kam, hat das entsprechend starke Wirkung bei mir gehabt. Das ist mir gerade wieder klar geworden. Okay – nun haltet ihr mich definitiv für einen durchgeknallten Freak, stimmt´s?«
Nach kurzem, überraschtem Schweigen bemühten sich alle, Tomomi zu beruhigen. Schließlich sei sie diejenige unter ihnen, von Marco abgesehen, die bisher am längsten und intensivsten Kontakt mit dem Netsuke hatte. Da sei es nachvollziehbar, dass sie eine besondere, warum nicht quasi ›spirituelle‹ Beziehung zu dem kleinen Adler empfinde. Ein wenig gespenstisch käme es inzwischen allen vor, was sich da um dieses Objekt zu ranken schien.
Claudia fasste nach einer Weile lächelnd zusammen: »Also mach dir keinen Kopf, Tomomi – ein bisschen Magie kann uns überhaupt nicht schaden bei diesem Projekt. Ohne werden wir uns an so manchen Fragen die Zähne ausbeißen, so habe zumindest ich das Gefühl. Allerdings würde ich dir empfehlen, gegenüber Marco nicht von deinen seltsamen Empfindungen zu sprechen: Gegen Esoterisches ist unser Superforscher etwas allergisch!«
Tomomi lächelte dankbar zurück und machte deutlich, dass sie wirklich dankbar war für die nette Art, wie die anderen ihre Gefühle ernst nahmen und nicht ins Lächerliche zogen. Die Unterhaltung wanderte schließlich zu anderen Themen weiter und die Harmonie im Team wurde von Minute zu Minute intensiver.
Frank brachte es auf den Punkt: »Also Ladies, langsam wird mir der gute Marco etwas unheimlich. Nein, keine Angst, ich komme euch jetzt nicht mit seiner einfach unglaublich tollen Präsentation heute oder seiner mysteriösen Schatulle. Ich meine sein Gespür bei der Personalauswahl! Ihr wisst inzwischen, ich bin eher der reservierte Typ. Aber kann euch versichern, dass ich noch nie so ein gutes Gefühl hatte, was die zukünftige Zusammenarbeit mit meinen direkten Kolleginnen angeht! Ich glaube, das passt einfach super. Wir werden dieses Jahr in den Katakomben dieser Kunstwelt im UNTACH sicher nicht nur gut aushalten, sondern uns dabei als Clique ganz bestimmt sauwohl fühlen!«
In dieser guten Stimmung ging die Unterhaltung weiter, bis plötzlich ein freundschaftlicher Klaps auf der Schulter von Frank landete.
»Nur gut, dass ich einen wahren Riesen im Team habe – so findet man euch immer leicht, sogar in diesem Chaos hier! Hallo zusammen. Wie ich sehe, habt ihr euch schon eingestimmt auf den gemeinsamen Abend, das freut mich. Sorry, dass ich erst jetzt kommen konnte, aber ich bin aufgehalten worden. Übrigens hat sich Professor Wang entschuldigt, er kann wegen eines anderen Termins nicht teilnehmen – wir sind also unter uns. Wenn es euch recht ist, ziehen wir gleich eine Tür weiter. Es ist kurz vor acht und ich kann meinen Aperitif auch im Restaurant nehmen – und ich gehe davon aus, ihr werdet mir dabei gerne Gesellschaft leisten. Die leeren Gläser vor euch geben zumindest zu dieser Vermutung Anlass.«
Sie begrüßten Marco herzlich und folgten seinem Vorschlag umgehend, erhoben sich und nahmen eine ausgesprochen vergnügte Stimmung mit in den weiteren Abend.
Rebecca lachte kurz laut auf und erheiterte sie mit ihrer Erklärung: »Jetzt wollte ich fast schon wieder den Kellner um die Rechnung bitten, ich bin das hier noch immer nicht gewohnt!«
Wie überall im UNTACH entfiel das Bezahlen, da alles bargeldlos gebucht wurde. Die Bedienungen mussten ihre kleinen Service-Geräte beim Servieren nur in die Nähe der Rolix des jeweiligen Gastes halten und die Kunden die Zahlung durch einen Fingerabdruck bestätigen, schon war alles erledigt. Ein ausgesprochen einfaches System, das nicht nur für beide Seiten angenehm und schnell war, sondern auch den Umsatz entsprechend ankurbelte. Nicht wenige UNTACH-Bewohner fielen regelmäßig aus allen Wolken, wenn sie von Zeit zu Zeit ihren Kontostand online abfragten, denn diese bequeme Regelung verleitete so manchen zu eher großzügigen Bestellungen.
Eine Trennung zwischen dienstlichen oder privaten Zahlungen erfolgte automatisch, jeweils nach der persönlichen Konfiguration der Rolix. So gaben die Buchungsparameter im Team von Marco Renke vor, dass alkoholfreie Getränke sowie Speisen in den normalen Restaurants und Kantinen bis zu einer gewissen monatlichen Obergrenze aufs Projektkonto gebucht wurden, wie auch fast alle Freizeitangebote. Nur alkoholische Getränke und Rechnungen in den Restaurants der Spitzengastronomie sowie Einkäufe in den Geschäften der großen Shopping Mall und andere private Ausgaben wurden den Privatkonten seiner Mitarbeiter belastet.
Beim fröhlichen Verlassen der Bar ging Frank wieder voraus und die anderen folgten in der breiten Schneise, die er sanft, aber doch recht ungebremst in die dichtgedrängt stehenden Barbesucher bis zum Ausgang pflügte. Wenige Minuten später betraten sie den Eingangsbereich des elitären Science Club, wo sie eine ganz andere, gediegene und durch leise Piano-Musik untermalte Atmosphäre erwartete.