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Keine Feministin wie jede andere Die Schriftstellerin Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener

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Sir Galahad, so weiß jeder, der beim Thema Artus-Sage gut aufgepaßt hat, ist jener makellose Gralsritter, den Lancelot mit seiner Elaine gezeugt hat: eine Art englisches Gegenstück zu »unserem« Parsifal. Schwer vorstellbar, daß diese mythische Lichtgestalt zur Feder gegriffen und eigene Werke hinterlassen haben sollte. Ist er nicht überhaupt nur eine mittelalterliche Phantasiefigur, von der keinerlei reale Lebensdaten überliefert sind? Und doch: Jedem einigermaßen bewanderten Buchhändler ist der wohlklingende Name geläufig, und der Kollege von der Antiquariatsabteilung wird dem Kunden vielleicht sogar eine ganze Reihe von Titeln vorlegen, die Sir Galahad zum Autor haben – zumindest den Longseller »Mütter und Amazonen«. Des Rätsels Lösung: Sir Galahad ist ein Pseudonym. Ein Pseudonym, hinter dem sich übrigens kein Sir verbirgt, sondern – eine Lady. Ihr wirklicher Name: Bertha Eckstein. Oder, wenn man ihren Mädchennamen vorzieht, Bertha Diener.

Zum erstenmal taucht der Name Sir Galahad anno 1910 auf dem Buchmarkt auf, als die geheimnisvolle Autorin eine deutsche Übersetzung der Schriften des amerikanischen Essayisten Prentice Mulford vorlegt. »Der Unfug des Lebens und des Sterbens« ist eine originelle Kombination von neuplatonischer Philosophie und witziger Zivilisationskritik: genau das Richtige für die sechsunddreißigjährige Wienerin, deren ganzes Interesse der vergleichenden Kulturgeschichte gilt. Drei Jahre darauf debütiert sie mit ihrem ersten eigenen Werk: »Im Palast des Monos« ist eine romanhafte Aufarbeitung der kretischen Ausgrabungen des berühmten englischen Archäologen Sir Arthur Evans. Es folgen 1920 die autobiographischen Aufzeichnungen »Die Kegelschnitte Gottes«, 1925 ein mit Größen wie Dostojewski und Tolstoi rabiat abrechnender »Idiotenführer durch die russische Literatur« und schließlich 1932 ihr Hauptwerk »Mütter und Amazonen«.

Mit dieser ersten weiblichen Kulturgeschichte, einer zeitenund weltumspannenden Untersuchung der »Frauenreiche« und einem flammenden Plädoyer für die Überlegenheit mutterrechtlich organisierter Gesellschaften, landet Sir Galahad alias Bertha Eckstein einen Bestseller, der bis in unsere Tage immer wieder Neuauflagen erlebt. Von der Frauenbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts zur Kultfigur erhoben, sieht sie sich selber allerdings keineswegs als Feministin: Da das Patriarchat ihrer Ansicht nach ohnedies dem Untergang geweiht sei, hält sie jegliche weiblichen Emanzipationsanstrengungen für schlicht überflüssig.

»Mütter und Amazonen« sorgt also für Gesprächsstoff, und auch wer mit den in dem 350-Seiten-Band vertretenen provokanten Thesen wenig anzufangen weiß, zollt der streitlustigen Autorin Respekt: Ihre Lebensgeschichte ist so über alle Maßen interessant, daß es schlechterdings unmöglich ist, davon nicht gefesselt zu sein. Wieder einmal ist es das legendäre »Wien um 1900«, das Wien ihrer Generationsgenossen Hugo von Hofmannstal, Richard von Schaukal und Karl Kraus, dem in Gestalt dieser Bertha Eckstein geborene Diener ein Frauenschicksal entwächst, das weit und breit seinesgleichen sucht …

Sie ist reicher Leute Kind, als sie am 18. März 1874 zur Welt kommt: Vater Carl Diener, im Zuge des Ringstraßen-Baubooms aus Stuttgart nach Wien zugewandert, steigt mit seiner im Bezirk Landstraße gegründeten »Zinkornamenten- und Blechwarenfabrik« ins große Geschäft ein. Seine Balustraden und Balkone, seine Gesimse und Fenstersprossen, seine Gitter und Dekorelemente zieren die allenthalben aus dem Boden schießenden Gründerzeitbauten; auch Gas- und Kerzenleuchter, Badewannen, Wasserreservoire und Regenrinnen verlassen in beträchtlichen Stückzahlen die Werkstätten in der Marxergasse.

Die Familie residiert in einer von einem weitläufigen Park gesäumten, schloßartigen Villa, in der es auch für die drei Kinder an keinerlei Luxus fehlt: Bertha erhält eine Katze und ein zahmes Reh als Spielgefährten, für die Erziehung steht eine eigene Gouvernante zur Verfügung.

Die Person, zu der die Heranwachsende als erstes auf Distanz geht, ist Berthas Mutter: Obwohl Marie Diener, Sproß einer biederen Handwerkerfamilie aus der Josefstadt, als Gattin eines wohlhabenden Unternehmers jede Menge Personal um sich hat, legt sie den Putzfetzen nicht aus der Hand und spielt das ewig emsige Hausmütterchen, und in stummem Protest gegen die ausufernde Korpulenz der Mutter kultiviert die strengen ästhetischen Prinzipien verpflichtete Tochter Elfenwuchs und Wespentaille.

Was Bertha noch mehr wurmt als die fehlende Geistigkeit im neureich-kunstfernen Elternhaus, ist die Benachteiligung gegenüber ihren beiden älteren Brüdern. Während diese selbstverständlich Gymnasium und Universität absolvieren, ist ihr – wie allen ihren Geschlechtsgenossinnen um diese Zeit – jede höhere Ausbildung verwehrt: Mädchen, erst mit 24 volljährig, haben unter rigider elterlicher Aufsicht auf den Tag zu warten, da der standesgemäße Bräutigam auf den Plan tritt und um ihre Hand anhält.

Bertha unterscheidet sich hierin von den anderen immerhin dadurch, daß sie ihre Wahl selber trifft und zwei Wochen nach Erreichen der Volljährigkeit den dreizehn Jahre älteren Privatgelehrten Friedrich Eckstein heiratet. Jugendfreund ihres Bruders Carl und wie dieser ein passionierter Alpinist, hat Eckstein von seinem Vater eine Pergamentpapierfabrik geerbt, interessiert sich jedoch für die Führung seines Unternehmens weniger als für den seit einiger Zeit in Wien grassierenden Esoterikboom, verkehrt in okkultistischen Geheimzirkeln, trifft sich mit dem jungen Sigmund Freud zu regelmäßigen Tarockpartien, fördert verkannte Komponisten wie Hugo Wolf und Anton Bruckner und pflegt vor allem seine umfangreiche Bibliothek, von der Karl Kraus später sagen wird, sie sei so enorm, daß Brockhaus des Nachts zu Eckstein auf Besuch komme, um in dessen Schätzen zu blättern.

In dem neuen Umfeld, das ihr die Ehe mit dem Universalgelehrten, Theosophen, Vegetarier und Vivisektionsgegner Friedrich Eckstein erschließt, blüht die der elterlichen Kontrolle entflohene Mittzwanzigerin sichtbar auf, und auch das bunte gesellschaftliche Treiben am neuen Wohnsitz – es ist das Sankt-Genois-Schlössl in Baden bei Wien – ist ganz nach ihrem Geschmack: Koryphäen wie Arthur Schnitzler und Adolf Loos gehen in dem stolzen Besitz in der Helenenstraße ein und aus. Friedrich Nietzsche ist einer der literarischen Hausgötter, Gustav Meyrink holt sich bei Friedrich Eckstein Anregungen für seinen Golem-Roman, und der exzessiv gepflegte Wagner-Kult gipfelt darin, daß man zu Fuß nach Bayreuth pilgert. Da ist es nur logisch, daß das Kind, das Bertha Eckstein am 21. Mai 1899 zur Welt bringt, auf den seltenen Namen Percy getauft wird: Es ist die Kurzform von Parsifal. Übrigens schwört die junge Mutter auch während der Schwangerschaft ihrem Schönheitsideal nicht ab: Sie bringt das Wunder zustande, ihr gewohntes Körpergewicht zu behalten und »stets genau so viel abzunehmen, als die Frucht schwoll …«

Die »Badener Verhältnisse« werden ein Jahrzehnt später sogar literarischen Niederschlag finden – und zwar im Werk keines Geringeren als Arthur Schnitzler: Als dieser 1911 sein Ehedrama »Das weite Land« herausbringt, erkennt der eingeweihte Betrachter hinter der Villa Hofreiter, dem Schauplatz des ersten Aktes, unschwer das von den Ecksteins bewohnte Sankt-Genois-Schlössl, und im Rollenverzeichnis scheint wahrhaftig ein Kind namens Percy auf.

Doch zunächst noch einmal zurück ins Jahr 1900. Bertha Diener und Friedrich Eckstein sind seit zwei Jahren miteinander verheiratet und feiern den ersten Geburtstag ihres gemeinsamen Sohnes – da mehren sich die Anzeichen dafür, daß die junge Ehefrau, kaum den Fesseln des Elternhauses entronnen, auch mit dem Scheinglück an der Seite ihres Mannes Probleme hat: »Unwillkürlich«, so drückt es Bertha Ecksteins Biographin Sibylle Mulot-Déri aus, »schaut sie nach einem Mann aus, der ihr den ›Sinn der Erde‹ aufschließen soll und die Freuden der mondänen Welt.«

Sie findet diesen »Propheten« in der Gestalt des umtriebigen Bankiersohnes Theodor Beer, der, acht Jahre älter als sie, an der Wiener Universität Biologie lehrt und im Privatleben als Salonlöwe und Frauenheld gilt. Auch um Bertha Eckstein, die er bei einer Abendgesellschaft kennengelernt hat, wirbt er, bittet sie sogar um ein Kind von ihr. Da sie jedoch, aller Verlockung zum Trotz, vor dem Gedanken einer Scheidung von Friedrich Eckstein zurückschreckt, geht Beer eine Ehe mit einer anderen ein, wendet sich von Wien ab und läßt sich mit seiner Angetrauten in der luxuriösen »Villa Karma« am Genfersee nieder.

Bertha und Friedrich Eckstein gehen dennoch von Stund an eigene Wege: Man einigt sich auf eine »Trennung auf Probe«. Bertha nutzt die neugewonnene Freiheit dazu, alles das nachzuholen, was ihr als junges Mädchen verwehrt geblieben ist: Sie stürzt sich in den Vorlesungsbetrieb der Universitäten von Paris, Berlin und Bern, geht auf Reisen, unternimmt Bergwanderungen, erlernt Extremsportarten wie Skispringen und – beginnt zu schreiben.

Zunächst sind es Reiseaufzeichnungen, die in anspruchsvollen literarischen Zeitschriften abgedruckt werden, es folgen die schon erwähnten Übersetzungen von Prentice Mulford, schließlich die ersten eigenen Bücher unter dem originellen Pseudonym Sir Galahad. Inzwischen von Friedrich Eckstein geschieden, steht die nach wie vor gertenschlanke junge Frau auch finanziell auf eigenen Beinen: Seit dem Tod ihres Vaters kann sie über ein beträchtliches Erbvermögen verfügen.

Am 20. Dezember 1910 wird Bertha ein zweites Mal Mutter: Von Theodor Beer, dessen junge Frau sich nach einem Sittlichkeitsskandal und darauffolgender Verurteilung ihres Mannes umgebracht hat, zu einem Besuch am Genfersee eingeladen, flammt die alte Leidenschaft zwischen den beiden Exzentrikern nochmals auf: Bertha wird schwanger. Doch das einzige, was ihr aus dieser, von Theodor Beer abrupt abgebrochenen Beziehung bleibt, ist Sohn Roger, der seine Mutter allerdings erst als Sechsundzwanzigjähriger kennenlernen wird: Der heimlich in Berlin Geborene wird von Pflegeeltern aufgezogen. Sie selber, in dieser wirren Zeit des Herumirrens übrigens von Oskar Kokoschka porträtiert, läßt sich fortan in München nieder, und hier entstehen Zug um Zug die Bücher, die sie berühmt machen werden, allen voran ihr kulturgeschichtliches Standardwerk »Mütter und Amazonen«.

Einen verständnisvollen Freund findet sie in dem drei Jahre jüngeren, so wie sie aus Wien stammenden und seit 1917 in Meran lebenden Schriftsteller und Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando, mit dem sie in ständigem Briefwechsel steht und mit dem sie vor allem die Neigung zu den »Geheimwissenschaften« teilt, für die ihr einst Ehegatte Friedrich Eckstein die Augen geöffnet hat.

Der Zusammenbruch des alten Österreich verlangt auch Bertha Eckstein alias Sir Galahad Opfer ab: Das ererbte Familienvermögen löst sich 1919 in nichts auf, und da das Leben zu dieser Zeit in der Schweiz billiger ist als in Deutschland, übersiedelt die mittlerweile Fünfundvierzigjährige in die Gegend um Montreux, ehe sie sich endgültig – bis zu ihrem Tod am 20. Februar 1948 – in Genf niederläßt. 1936 erscheint ihr Byzanz-Buch »Von Kaisern, Engeln und Eunuchen«, 1938 ihr Kreuzfahrer-Roman »Bohemund«, 1940 ihre Kulturgeschichte der Seide. 1943 verabschiedet sich Sir Galahad von ihren Lesern mit dem Richard-Wagner-Roman »Der glückliche Hügel«. Zu der geplanten Übersiedlung nach Rom kommt es nicht mehr, und was das Manuskript ihrer Kulturgeschichte Englands betrifft, an dem sie in ihren letzten Lebensjahren arbeitet, so reicht es gerade noch für einen Vortrag, den sie im Mai 1946 vor dem Baseler PEN-Club hält: »Die auserwählte Insel«.

Über ihren Abgang von dieser Welt berichtet René Freund in seinem Bertha-Eckstein-Porträt, indem er ein für diese so ungewöhnliche Frau bezeichnendes Detail wiedergibt: »Ein letzter, mit ›Sir Galahad‹ unterfertigter Brief forderte vor der Einäscherung einen ›Lanzettstich ins Herz‹. Ein Pfeil ins Herz – eine Maßnahme gegen den Scheintod. Aber auch der angemessene Tod für eine Amazone.«

Verborgener Ruhm

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