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»Dein ist mein ganzes Herz …« Die Auswanderin Gertrude Wagner

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Im allgemeinen meine Emotionen gut unter Kontrolle haltend, lasse ich ihnen umso lieber im Kino freien Lauf. Sitznachbarn, die meine Gefühlsausbrüche mitbekommen, rücken dann mitunter pikiert von mir ab oder lassen zumindest ein gewisses Erstaunen darüber erkennen, daß der alte Esel neben ihnen da so ungehemmt drauflosheult. Besonders schlimm war es bei dem Film »Am anderen Ende der Brücke«, einer österreichisch-chinesischen Coproduktion, die das Schicksal einer Wienerin namens Gertrude Wagner zum Gegenstand hat, die als junges Mädchen ihre europäische Heimat gegen ein gottverlassenes Dorf im Reich der Mitte eintauscht und in den verbleibenden siebzig Jahren mit schier übermenschlicher Energie alle Höhen und Tiefen eines Lebens in der Fremde durchmißt.

Ich erinnere mich vor allem an eine Szene aus den späten Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in diesem Film, in der Fanny Ebner – so der Filmname der Protagonistin – am Heiligen Abend aus den wenigen zur Verfügung stehenden Zutaten ein Festmahl bereitet, sich todesmutig in das maoistische Umerziehungslager einschleicht, in dem ihr Mann von den Roten Garden festgehalten wird, mit dem ihr brutal Entrissenen Weihnachten feiern will, dabei entdeckt und verjagt wird und die blindwütigen Aufseher nicht nur alles, was ihnen in die Hände fällt, kurz und klein schlagen, sondern vor allem den ihrer Willkür Ausgelieferten neuen, noch martialischeren Drangsalierungen aussetzen.

Gertrude Wagner lebt zu dieser Zeit bereits 34 Jahre in China. Die ursprünglich verschwindend kleine Gruppe von Österreichern, die hier, fern der Heimat – sei es als Geschäftsleute oder als Angehörige des diplomatischen Dienstes – ihrem Beruf nachgehen, hat 1938, mit dem Anschluß der »Ostmark« ans Großdeutsche Reich und der damit verbundenen Vertreibung der Juden neuen Zulauf erhalten: Allein in Schanghai finden an die 4000 Flüchtlinge Unterschlupf. Doch nur wenigen gelingt es, in der Fremde wirklich heimisch oder gar reich zu werden: Die Mehrzahl muß sich als Hauspersonal, als Fensterputzer oder mit anderen niederen Dienstleistungen durchbringen, und das Zimmer, das ihnen zugewiesen wird, teilt man sich zu dritt oder zu viert.

Anders Gertrude Wagner, die schon 1934 ins Land gekommen ist – aus freien Stücken und an der Seite eines Einheimischen, der sie von ganzem Herzen liebt und der jungen Österreicherin, wie die Dinge zu liegen scheinen, ein gemeinsames Leben in Wohlstand und Glück verheißen kann.

Die Angelegenheit nimmt ihren Anfang mit einem Schreiben des Innenministers der Provinz Zhejiang, der im Jänner 1928, um eine durchgreifende Reformierung des Polizeiwesens seines Wirkungsbereiches bemüht, bei der Regierung der für ihre vorbildlichen Verwaltungsstrukturen bekannten Republik Österreich vorfühlt, ob und wie man dabei mit deren Unterstützung rechnen kann. Der dem amtierenden Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel brieflich unterbreitete Plan sieht vor, zirka zehn junge chinesische Polizeioffiziere für die Dauer von drei Jahren zur Ausbildung nach Wien zu entsenden.

Der Briefwechsel zwischen den Städten Hangzhou und Wien zieht sich zwar hin, doch nach einigem Hin und Her kommt das Projekt zustande, und im Jänner 1931 treffen die zehn Kandidaten, von der Boulevardpresse des Gastlandes neugierig beäugt, auf dem Wiener Ostbahnhof ein. In der Marokkanerkaserne im III. Bezirk beziehen die jungen Chinesen Quartier; die Ausbildung, die für sie mit keinerlei Kosten verbunden ist, liegt in den Händen der Schulungsabteilung der österreichischen Bundespolizei und umfaßt sämtliche Bereiche des Sicherheitsdienstes inklusive Staatsrecht, Strafprozeßordnung, Gewerberecht, Verkehrs- und Meldewesen sowie Kriminologie. Für Waffenkunde und Selbstverteidigungstraining stehen den Zöglingen alle einschlägigen Einrichtungen zur Verfügung, zur weiteren körperlichen Ertüchtigung außerdem Polizeisportplatz und Polizeischwimmschule.

»Star« der Gruppe, der sich schon bei den Vorprüfungen in China als Bester qualifiziert hat, ist der vierundzwanzigjährige Du Chengrong, der gutaussehende Sohn eines angesehenen Arztes und Gemeinderates aus Hucang, einem Dorf in der näheren Umgebung der alten Kulturstadt Dongyang. Chengrong, ältestes von fünf Kindern und vom Ehrgeiz beseelt, nach seiner Rückkehr in die Heimat im dortigen Staatsdienst zu reüssieren, nützt den Aufenthalt in Wien, sich alle Errungenschaften seines Gastlandes zu eigen zu machen, geht mit offenen Augen durch die für ihn exotische Stadt, besucht Konzerte und Museen, und als er während der Wintersaison die Wiener in Massen zum Gelände des Eislaufvereines am Heumarkt ziehen sieht, borgt er sich Schlittschuhe aus, um sich ebenfalls in dieser für ihn fremden Sportart zu üben.

Die ersten Versuche schlagen allerdings kläglich fehl: Chengrong landet auf allen Vieren auf der spiegelglatten Eisfläche. Ein junges Mädchen, das ihn dabei beobachtet hat, nimmt sich des blutigen Anfängers an, und da sie dies, selber eine versierte Eisläuferin, mit so viel Fröhlichkeit und Liebreiz tut, schiebt Chengrong all seinen männlichen Stolz beiseite, geht auf das charmante Angebot ein und verabredet sich für die folgenden Tage mit seiner noch minderjährigen Helferin, um sich von ihr in die Geheimnisse des Eislaufens einweihen zu lassen. Da er inzwischen schon ganz gut Deutsch spricht, kann man alsbald auch zu anderen Themen übergehen: Gertrude – so der Name der Sechzehnjährigen – erzählt dem Gast aus Fernost von ihrer österreichischen Heimat, und er erzählt ihr von der seinen: vom Leben in seinem Dorf, von der Landschaft ringsum, von den Menschen in China und ihren Bräuchen, von ihren Märchen, ihren Bildern, ihren Liedern.

Daß sich Gertrude in »ihren« Chinesen verliebt hat (und er in sie), wagt sie vorerst nur ihren engsten Freundinnen zu beichten. Ältestes Kind des aus Mähren stammenden Oberwachmannes Konrad Wagner, der in der Marokkanergasse als Waffenmeister tätig ist und mit seiner Familie eine Dienstwohnung im Nebentrakt, also in unmittelbarer Nachbarschaft der chinesischen Polizeianwärter innehat, lebt die ehemalige Klosterschülerin, die seit kurzem als Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft auf der Landstraßer Hauptstraße arbeitet, wohlbehütet im streng katholischen Elternhaus und kann nicht damit rechnen, daß die Familie dem verwegenen Plan zustimmt, den sie und Chengrong vor dessen Heimreise nach China – im Dezember 1933 sind die drei Wien-Jahre abgelaufen – in aller Stille geschmiedet haben: für ihr weiteres Leben beisammenzubleiben, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Und natürlich nicht in Österreich, sondern in Du Chengrongs Heimat China …

Nicht nur Gertrudes Eltern legen sich quer, auch die besorgten Geschwister können sich nicht vorstellen, daß eine solche Verbindung Bestand hat, obwohl sie Chengrong als einen wohlerzogenen und charakterfesten jungen Mann kennengelernt haben. Die zum Zeitpunkt seiner Abreise gerade 17 Gewordene muß also ein volles Jahr zuwarten, bis sie, nunmehr mündig, jenes Versprechen einlösen kann, das die beiden Liebenden einander gegeben haben, als sie im September 1933 – wie romantisch! – im Theater an der Wien einer Aufführung der Lehár-Operette »Das Land des Lächelns« beigewohnt und bei der Arie »Dein ist mein ganzes Herz« heimlich Verlobung gefeiert haben.

Du Chengrong, inzwischen also wieder im heimatlichen China, kann sich nicht sattsehen an den Fotos von der hübschen Blondine mit dem warmherzigen vollen Gesicht, die ihn überallhin begleiten, und Gertrude ihrerseits schöpft die für die Verwirklichung ihres Lebenstraumes erforderlichen Kräfte aus den Briefen, die ihr der Geliebte schreibt und denen bald auch ein Paket folgt, dem sie neben einer Reihe weiterer kostbarer Gaben aus ihrer künftigen Wahlheimat einen wunderschönen Fächer entnimmt.

Pünktlich zu ihrem achtzehnten Geburtstag trifft auch das Geld für die Schiffsreise ein, und so besteigt Gertrude noch im Dezember 1934 den Zug nach Triest, um von dort an Bord des Überseedampfers »Conte Rosso« mutterseelenallein die Fahrt ins Reich der Mitte anzutreten. Im Hafen von Schanghai sinken die beiden Liebenden einander in die Arme; die Grußkarte von der glücklichen Ankunft, die sogleich nach Wien abgeschickt wird, trägt nicht nur Gertrudes, sondern auch Chengrongs Unterschrift.

In Hangzhou, der Hauptstadt der Provinz Zhejiang, bezieht das junge Paar ein vom Bräutigam gemietetes schönes Einfamilienhaus, am 24. Februar 1935 findet die Trauung statt, aus der Österreicherin Gertrude Wagner wird die Wahlchinesin Hua Zhiping. Die eigentliche Hochzeit wird jedoch in Chengrongs Elternhaus in dem Dorf Hucang gefeiert.

Der junge Ehemann, im Begriff, mit Hilfe der in Österreich erworbenen Kenntnisse seine Karriere als Lehrer an einer Reihe von Polizeiakademien zu starten, kann, wo immer ihn seine Vorgesetzten einsetzen, seiner Frau ein Leben voller Annehmlichkeiten bieten. Sie selber stürzt sich mit Eifer ins Studium der fremden Sprache und der fremden Schrift. Und auch der von beiden ersehnte Kindersegen bleibt nicht aus: Der erste der insgesamt fünf Sprößlinge wird auf den Namen Alfred getauft; es folgen Peter, Elisabeth, Trude und Edith. Das einzige, was das Familienglück in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nachhaltig trübt, sind die sich rasch verändernden politischen Verhältnisse in Gertrudes Gastland. Ist es zuerst der Krieg mit den Japanern, der Chengrong und die Seinen zu Flüchtlingen im eigenen Land macht, so bedeutet die Machtergreifung der Kommunisten für Bürger der Mittelklasse schwerste Diskriminierung; den Terror der Kulturrevolution übersteht nur, wer sich der »Umerziehung« durch die Roten Garden stellt, und auch das spätere Ringen um Rehabilitierung zehrt gewaltig an den Kräften: Du Chengrong ist gegen Ende seines Lebens ein von Verfolgung, Demütigung und Not ausgelaugter Greis. Der Herzenswunsch, mit seiner Gertrude noch zu einer letzten Reise – zu einer Reise an die Große Mauer – aufzubrechen, bleibt unerfüllt: Er stirbt am 28. April 1990 an Krebs. Der einzige Trost, der ihm bleibt, ist die Gewißheit, daß seine geliebte Gefährtin, die ihm auch in den Phasen tiefster Verzweiflung treu zur Seite gestanden ist, ihren Lebensabend nicht in Einsamkeit zubringen wird: Die Familie, inzwischen durch eine ganze Schar von Enkelkindern kräftig gewachsen, ist, wenn Hilfe gebraucht wird, verläßlich zur Stelle.

Waren Gertrude auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution alle Habseligkeiten entrissen worden, die die Verbindung zu ihrem Herkunftsland wachhielten, also die alten Familienphotos und Dokumente, die Briefe aus Wien und die kostbare Sammlung deutschsprachiger Bücher, ja war sogar jegliche Unterhaltung in ihrer Muttersprache unter Strafe gestellt worden, so ist es nun, wenige Tage vor Chengrongs Ableben, ein umso aufwühlenderes Erlebnis, zum erstenmal nach Jahrzehnten Besuch aus Österreich zu erhalten: Universitätsprofessor Gerd Kaminski, einer der Pioniere bei der Wiederherstellung der österreichisch-chinesischen Beziehungen, hat vom Schicksal seiner ehemaligen Landsmännin Gertrude Wagner erfahren und eine Reise an deren neuen Lebensort organisiert. Kaminski kommt nicht mit leeren Händen: Obwohl Gertrude nichts ferner liegt, als an eine Rückkehr in ihre Heimat zu denken, läßt es die Dreiundsiebzigjährige nicht ungerührt, aus den ihr auf Betreiben ihres in Wien lebenden Bruders Walter übermittelten Dokumenten zu ersehen, daß ihre österreichische Staatsbürgerschaft nicht erloschen ist, sondern jederzeit wieder von ihr in Anspruch genommen werden kann.

Nein, China auf Dauer zu verlassen, kommt für sie auch jetzt, wo sie Witwe geworden ist, keinesfalls in Frage: Gertrude Wagners Platz ist und bleibt das kleine Dorf Hucang, wo sie ihren Mann zu Grabe getragen hat. Das einzige, zu dem sie sich überreden läßt, ist, dem Ruf des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk zu folgen, der sie zu einem mehrmonatigen Besuch in der alten Heimat eingeladen hat.

Von einer ihrer Töchter begleitet, trifft Gertrude Ende Oktober 1990 auf dem Flughafen Schwechat ein, bezieht eine Gästewohnung in der Wiener Innenstadt, trifft sich mit ihren Verwandten, sucht die Adressen ihrer Kindheit und Jugend auf, verweilt am Grab ihrer Eltern. Im Belvedere bestaunt sie die Gemälde der alten Meister, im Musikverein wohnt sie dem Neujahrskonzert der Philharmoniker bei, Ausflüge in den Prater und an den Neusiedlersee regen sie zu Vergleichen mit den Landschaften in ihrer neuen Heimat an. Natürlich wird sie von allen ihren Begleitern mit der Frage bombardiert, ob sie denn nicht Lust hätte, dazubleiben. Gerd Kaminski, der Gertrude Wagners ungewöhnlichem Lebensweg einige Jahre später ein fesselndes Buch widmen wird («Verheiratet mit China«), hält ihre Antwort im Originalton fest: »Nein, ich fahre zurück. Wien ist schön. Und ich danke dem Herrgott, daß ich noch einmal hier sein durfte. Aber meine Heimat ist China. Dort sind meine Kinder und Enkel.«

Eines freilich kann sie nicht verhindern: Obwohl heimgekehrt in ihr stilles Dorf im Südosten des Riesenreiches China, ist Gertrude Wagner alias Hua Zhiping nun eine Person des öffentlichen Interesses geworden. Bei einem zu ihren Ehren veranstalteten Bankett in der Österreichischen Botschaft, zu dem sie, begleitet von ihren Töchtern Elisabeth und Trude, nach Peking reist, wird sie mit einem Orden der Republik Österreich ausgezeichnet; der ORF und der Staatssender der Provinz Zhejiang drehen mit ihr eine Fernsehdokumentation, die sowohl beim österreichischen als auch beim chinesischen Publikum eine Welle des Mitgefühls auslöst; auch die Presse beider Länder stürzt sich auf das Thema; und um die Berge von Post zu bewältigen, die ihr daraufhin von überallher zugeht, müßte sie sich eigentlich Autogrammkarten drucken lassen. Nur die Uraufführung des Spielfilms »Am anderen Ende der Brücke«, in dem Nina Proll die junge und Susi Nicoletti die alte Gertrude Wagner verkörpert, erlebt sie nicht mehr: Wenige Wochen, bevor die österreichisch-chinesische Coproduktion in die Kinos kommt und Millionen Menschen zu Tränen der Anteilnahme und Bewunderung rühren wird, stirbt die inzwischen Sechsundachtzigjährige an Altersschwäche. Auf dem Friedhof von Hucang wird sie an der Seite des einstigen Wiener Polizeischülers Du Chengrong beigesetzt, dem sie vor siebzig Jahren auf die Beine geholfen hat, als er beim Eislaufen am Heumarkt das Gleichgewicht verlor …

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