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»Einlagsbuch« Nr. 1

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Daß ich schon als Gymnasiast – was in jenen fernen Nachkriegsjahren eher ungewöhnlich war – über ein eigenes Bankkonto verfügt hatte, wurde mir erst wieder bewußt, als ich Jahrzehnte später, nun schon lange in Wien ansässig, eines Tages überraschende Post aus meiner Kindheitsstadt Zweibrücken erhielt. Man sei, so teilte mir das betreffende Bankinstitut in aller Form mit, im Zuge einer Generalrevision »ruhender« Einlagen auch auf die meine gestoßen, habe festgestellt, daß es auf dem bewußten Konto in all den Jahren keinerlei Bewegung gegeben habe, und lade mich ein, es doch mit einer frischen Einzahlung zu reaktivieren.

Ebenso gerührt wie amüsiert, folgte ich dem freundlichen Appell und stockte bei nächster Gelegenheit das angegraute 12-Mark-Guthaben von anno dazumal mit einer kräftigen Geldspritze auf, die mir zwar nicht den ganz großen Vermögenszuwachs verhieß, wohl aber eine willkommene Auffrischung meiner über die Jahre und Jahrzehnte abhanden gekommenen Kindheitserinnerungen. Ein Akt der Nostalgie, nichts sonst.

Diese Episode fiel mir jetzt wieder ein, als ich – für das vorliegende Buch – daranging, ein Kapitel über das allererste jemals auf österreichischem Boden ausgestellte Sparbuch zu schreiben. Denn auch dieses, obwohl 188 Jahre älter als mein wiederentdecktes Bankkonto von 1950, ist erhalten geblieben: Es ruht in einem der Tresore des Sparkasseninstituts Erste Bank, weist einen Kontostand von 5 Gulden und 33 Kreuzer auf und lautet auf den Namen Marie Schwarz.

Das gute Stück, am 4. Oktober 1819 ausgefertigt, ist ein dünnes, in marmorierten Karton eingeschlagenes und mit einem zarten blauen Bindfaden zusammengehaltenes Büchlein, dessen kaum noch leserliche Rubriken in rötlicher Farbe gedruckt und dessen handschriftliche Eintragungen mit schwarzer Tinte ausgeführt sind. »Inhaberin« Marie Schwarz war zu jener Zeit, da ihr das »Einlagsbuch Nr. 1« in die Hand gedrückt wurde, ein Wiener Waisenkind von schätzungsweise zwölf Jahren, ihr »Startkapital« betrug zehn Gulden, und der Wohltäter, dem sie ihr unverhofftes Glück zu verdanken hatte, war niemand geringerer als Seine Majestät der Kaiser.

Es ist die Zeit des frühen Biedermeier. Im Gasthof Zum Römischen Kaiser findet die erste öffentliche Aufführung eines Schubert-Werkes, im Burgtheater die erste Grillparzer-Premiere statt; am Donaukanal wird der Grundstein für die Ferdinandsbrücke gelegt; Primarius Dr. Bruno Görgen erhält die Bewilligung zur Errichtung einer »Privatirrenanstalt«; die Wiener Hausbesitzerin Elisabeth Rudolf stiftet eine »Versorgungsanstalt« für Dienstboten. Wer in diesen wirtschaftlich trüben Zeiten ans Sparen denkt, versteckt seinen Notgroschen in Wäschetruhen oder Strümpfen, manche nähen ihre wenigen entbehrlichen Münzen gar in Kleidungsstücke ein. Sparkassen, wie es sie, von dortigen Bürgersleuten gegründet, in England, Frankreich und Deutschland gibt, sind in Wien noch unbekannt.

Zwar liegt seit dem 19. Juli 1817 eine Kabinettsorder vor, mit der Kaiser Franz I. zu klären wünscht, ob es nicht, aufgeschreckt von einer Reihe schlechter Ernten und den dadurch in die Höhe geschnellten Getreidepreisen, »an der Zeit wäre, eine Voranstalt für künftige Fehljahre einzurichten, um in ähnlichen Notfällen schnell und wirksam helfen zu können«. Doch der von Kanzler Graf Saurau an eine Reihe betuchter Wiener Bürger weitergegebene Appell, etwas für die Sparwilligen aus den »armen Klassen« zu tun, nimmt erst zwei Jahre später Gestalt an, als Johann Baptist Weber, der Pfarrer von St. Leopold (im heutigen II. Wiener Gemeindebezirk), die Idee aufgreift, einen »Verein von Menschenfreunden« gründet und mit einer Werbeschrift unter dem Titel »Errichtet Spar-Cassen!« alle »Ältern, Seelsorger, Schullehrer, Fabriks-, Gewerbs- und Dienst-Herren« zum Geldspenden aufruft.

Pfarrer Weber hat eine klare Vorstellung davon, wie der zu schaffende Fonds aussehen und wie mit den solcherart lukrierten Geldern umgegangen werden soll:

»Jeder kann in diese Casse auf seinen oder auf fremden Namen, auf den Namen eines Kindes oder auch auf einen erdichteten Namen einlegen. Die Casse ist wohlverwahrt; reiche, angesehene und rechtschaffene Männer führen dabei unentgeltlich die Aufsicht.«

An Argumenten, die für die neue Errungenschaft sprechen, ist kein Mangel:

»Es ist eine bekannte Erfahrung, daß der Kreuzer im Sack schneller verausgabt wird als der, der im Kasten ruht.«

Aber auch im Kasten ist er alles andere als sicher:

»Er könnte den braven Leuten gestohlen, von Speculanten durch Aussicht auf höhere Zinsen abgeschwätzt oder durch andere Zufälle entzogen werden.«

Johann Baptist Weber ist ein Mann der Praxis; detailliert erläutert er, wozu das ihm vorschwebende Projekt gut sein kann:

»Mit diesem Gelde können die Erleger ein Kind versorgen, eine Tochter ausheiraten, dem Sohn ein Gewerbe schaffen, einen ergrauten Vater unterstützen, eine alte Mutter ernähren, sich selbst ein sorgenfreies Alter schaffen.«

Auch den höheren Mächten, allen voran dem Herrgott, räumt Hochwürden in seinem Aufruf den ihnen gebührenden Platz ein:

»In dem Hause, wo der Hausvater darauf hält, daß die Seinigen und die Dienstleute sich daran gewöhnen, überflüssige oder leicht entbehrliche, wenn auch kleine Beträge in ihren SparBüchlein zusammenzulegen, werden Vater und Mutter geliebt sein, werden Fürst und Vaterland geehrt werden, werden Zucht, Ordnung und Zufriedenheit herrschen, wird der Segen Gottes nicht fehlen.«

Der Segen Gottes ist in diesem Fall zum Greifen nah: Initiator Johann Baptist Weber wählt als Ort für die von ihm ins Leben gerufene »Erste Österreichische Spar-Casse« nicht irgendein Wiener Amtslokal, das dazu eigens angemietet werden müßte, sondern eines der Zimmer im Obergeschoß des Pfarrhofes. Für die darin untergebrachten Dienstleute sucht er an anderer Stelle ein passendes Quartier; der auf diese Weise freigewordene Raum wird mit Stehpult und Sitzbank zur »Schalterhalle« umfunktioniert. Für die Kontoführung werden großformatige Geschäftsbücher, für die Aufbewahrung der Gelder eine eiserne Handkasse und für die »Bescheinigung« der Einzahlungen und Abhebungen Stempel und Siegel angeschafft, die mit dem Bild des Namenspatrons Leopold und dessen Insignien geschmückt sind: Kirche, Fahne und Brotkorb.

Da Pfarrer Webers Gründung dem erklärten Willen des Hofes entspricht, findet die feierliche Eröffnung der Spar-Casse ausdrücklich am 4. Oktober 1819 statt: Es ist der Namenstag des regierenden Kaisers. Dem Festgottesdienst wohnen Fürsterzbischof Graf Hohenwarth, Regierungspräsident Baron Reichmann, Nationalbankdirektor Freiherr von Eskeles und Hofagent Ritter von Schönfeldt bei.

Drei Tage darauf lädt Seine Majestät den gesamten Vorstand zur Audienz in die Hofburg ein; die dem Kaiser bei dieser Gelegenheit ausgehändigten hundert Sparbücher à zehn Gulden wird Franz I. in den folgenden Tagen »unter würdigen Kindern der unteren Klassen« verteilen. Den Betrag haben eine Reihe wohlhabender Bürger aufgebracht, die auch für das Stammkapital verantwortlich zeichnen.

Das Sparbuch mit der Nr. 1 erhält die schon erwähnte Marie Schwarz. Ihr »Vermögen« wird im Lauf der Jahre auf 30 Gulden und 49 Kreuzer anwachsen, und als sie das 45. Lebensjahr erreicht, wird ihr der gesamte Betrag ausbezahlt. Ihre Spartätigkeit setzt sie übrigens auch in der Folgezeit fort – letzter Kontostand: 5 Gulden und 33 Kreuzer.

Im Unterschied zu den Chroniken der anderen Wiener Pfarreien verzeichnet die von St. Leopold nicht nur Geburten und Taufen, nicht nur Eheschließungen und Sterbefälle, sondern auch die »Bilanzen« der hauseigenen Spar-Casse, der regelmäßig »herrliches Gedeihen« attestiert wird: Bereits drei Monate nach der Gründung zählt man an die 1400 Klienten, der Zinssatz ist vier Prozent, 25,– Kreuzer beträgt das Einlageminimum. Um den Charakter der Armenkasse zu bewahren und reiche Spekulanten fernzuhalten, einigt man sich auch auf eine Obergrenze; sie ist mit hundert Gulden festgesetzt.

Die Statuten besagen klipp und klar:

»Dem Fabrikarbeiter, dem Taglöhner, dem Handwerker, dem Dienstboten, dem Landmann oder sonst einer gewerbefleißigen und sparsamen minderjährigen oder großjährigen Person sollen die Mittel an die Hand gegeben werden, von ihrem mühsamen Erwerbe von Zeit zu Zeit ein kleines Kapital zurückzulegen, um solches in späteren Zeiten zur Begründung einer besseren Versorgung, zur Aussteuer, zur Aushilfe in Krankheit, im Alter oder zur Erreichung eines löblichen Zweckes zu verwenden.«

Der Betrieb im Obergeschoß des Pfarrhofes von St. Leopold floriert so prächtig, daß man mit den ursprünglichen Dienstzeiten (Dienstag und Freitag von 9 bis 12 und von 3 bis 6) bald nicht mehr sein Auslangen findet, und auch die Räumlichkeiten im Leopoldstädter Behelfsquartier sind dem Ansturm der Klienten kaum noch gewachsen. Schon im zweiten Betriebsjahr muß daher in die Innere Stadt übersiedelt werden: in zwei nebeneinanderliegende Zimmer des Deutschordenshauses in der Singerstraße.

Auch außerhalb Wiens spricht sich die neue Errungenschaft herum; die Folge sind Sparkassengründungen in Innsbruck und Graz, in Laibach und Prag, sogar in Siebenbürgen und Norditalien. Was Wien betrifft, so geht die Administration der segensreichen »Anstalt« mit der Zeit in weltliche Hände über: Pfarrer Weber zieht sich auf das Amt des Ehrenkurators zurück. Seiner Bestimmung als Wohltäter bleibt er freilich auch weiterhin treu: In Mannswörth gründet er eine Industrieschule für bedürftige Mädchen, in Baden ein Versorgungsheim für Kleinkinder. Mit der Stelle des Schloßkaplans von Schönbrunn beschließt er seinen beruflichen Lebensweg: 1848 stirbt Johann Baptist Weber im Alter von 72 Jahren.

Wie schön, daß auch in der Folge weder sein Name noch sein segensreiches Wirken in Vergessenheit geraten: An dem Ort, wo der brave Gottesmann vor beinah zwei Jahrhunderten seinen Landsleuten das Geldsparen beigebracht hat, wird seiner bis heute liebevoll gedacht – mit einer im Pfarrgärtlein von St. Leopold aufgestellten Statue und mit einer an der Außenmauer der Kirche applizierten Schrifttafel, die seine diversen Verdienste auflistet. Und die Stadt Wien ehrt Johann Baptist Weber mit einer nach ihm benannten Gasse im XX. Bezirk.

Der erste Walzer

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