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Zehn Kreuzer pro Woche

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Teesdorf ist eine Marktgemeinde von 1900 Einwohnern, liegt dreißig Kilometer südlich von Wien und acht Kilometer östlich von Bad Vöslau. Für einen mäßig attraktiven Ort dieser Größe bedeuten die drei Museen, die man den Besuchern anbietet, ein bemerkenswertes Ausstellungspotential: Der Franz-Jonas-Gedenkraum erinnert daran, daß es Teesdorf ist, dem der frischgewählte Bundespräsident 1965 einen seiner ersten Besuche abgestattet hat; im Heimatmuseum wird die industriegeschichtliche Vergangenheit des Ortes wachgehalten; und im Hermann-Broch-Museum können sich Literaturinteressierte ein Bild davon machen, wie schwierig es für einen Dichter ist, zugleich den Beruf eines Fabrikdirektors auszuüben.

Die Fabrik, um die es sich dabei handelt, ist die einst berühmte Teesdorfer Baumwollspinnerei, deren Turm, nach wie vor das Wahrzeichen des Ortes, demnächst unter Denkmalschutz gestellt werden soll. Auch das alte Herrenhaus steht noch, ist allerdings in einen Komplex von Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Bloß von der armseligen Keusche, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Kramladen besonderer Art beherbergte, hat sich nicht das kleinste Relikt erhalten: Es war Österreichs erster Konsumverein. Nur an Hand der alten Fotos von dem langgestreckten einstöckigen Bau mit dem steilen Giebeldach, dem geduckten Entree und den bis fast aufs Straßenniveau hinabreichenden Fenstern kann sich der Betrachter, sofern er über genügend Phantasie verfügt, ein Bild davon machen, wie seinerzeit die notleidenden Fabrikarbeiter nach Feierabend zu »ihrem« Laden pilgerten, um hier ihre vergünstigten Lebensmitteleinkäufe zu tätigen.

Es ist die Zeit des industriellen Frühkapitalismus, da die meisten Unternehmer die von ihnen beschäftigten Arbeiter noch wie Leibeigene behandeln. Kinderarbeit ab zwölf Jahren ist – auch in Teesdorf – eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie die willkürliche Lohnkürzung bei Eintreten momentaner Absatzschwierigkeiten; umgekehrt ist Streik noch ein Fremdwort. Will ein Arbeiter auswärtigen Besuch empfangen, muß er dazu beim Herrn Direktor die entsprechende Genehmigung einholen, nur Zeitunglesen kann man ihm nicht untersagen. Und so dringen auch ins kleine Teesdorf immer häufiger Nachrichten von ungewöhnlichen Selbsthilfeaktivitäten, die – besonders in der Region um die englische Industriemetropole Manchester – darauf abzielen, die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der von den »Industriebaronen« ausgebeuteten Arbeitskräfte zu verbessern. In Rochdale, einer dieser Hochburgen des sogenannten »Manchestertums«, soll sich 1844, so hört man, sogar eine Art proletarischer Genossenschaftsbewegung formiert haben. Ihnen, den »Redlichen Pionieren von Rochdale«, möchte man es in Teesdorf, dessen »k.k. privilegierte Baumwollspinnerei« etwas über fünfhundert Lohnarbeiter beschäftigt, in Hinkunft gleichtun.

Im August 1856 ist es so weit: Eine Handvoll beherzter Männer setzt sich zu Beratungen zusammen, beschließt die Gründung eines »wechselseitigen Unterstützungsvereins der Fabriksarbeiter« und reicht bei der k.k. Niederösterreichischen Statthalterei den Entwurf der mit aller Sorgfalt ausgearbeiteten (und mit dem obligaten Sechs-Kronen-Stempel »vergebührten«) Satzung ein. Vereinszweck ist »die Beschaffung der für die Mitglieder erforderlichen Nahrungsmittel im großen« oder genauer: »die Erzielung möglichst billiger Anschaffungspreise nach Maßgabe des jeweils vorhandenen Barfonds«.

Vierzig Beschäftigte sind es zunächst, die sich da zur Vereinsgründung zusammentun, um – wie sie es in leicht übertriebener Dramatik ausdrücken – »ein Bollwerk gegen Pauperismus und Proletariat« zu errichten. Bedingung für den Beitritt ist die Beibringung einer Bestätigung ihrer »in sittlicher Beziehung tadellosen Lebensweise« sowie die Einzahlung eines Grundbeitrags in Höhe von einem Gulden und dreißig Kreuzer. Weitere zehn Kreuzer sind in der Folgezeit allwöchentlich an dem vom Verein festgesetzten Zahltag zu entrichten.

Man fängt klein an: Jeweils am Sonntag ziehen zwei Mann mit dem Handwagen ins nahe Wiener Neustadt, um die von den Mitgliedern bestellten Waren zu besorgen. Die Idee findet Anklang, und so kann binnen kurzem auf Pferdefuhrwerk umgestellt und einige Jahre später auch vom System der Vorbestellung abgegangen und in einem leerstehenden Nebengebäude der Spinnereifabrik ein Warendepot angelegt werden. 1873 reicht das inzwischen angesparte Vereinskapital sogar zum Erwerb eines eigenen Hauses: Es ist jene schon erwähnte Keusche, die somit als Österreichs erster Konsumladen in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingeht.

Das kleine Teesdorf jedenfalls hat die Nase vorn: Erst 1862 kommt es auch in Wien – dort übrigens auf Initiative der Eisenbahner – zur Gründung eines Arbeiterkonsumvereins; weitere entstehen in Wien-Fünfhaus, in Wiener Neustadt und mit den Jahren auch in anderen Landesteilen. Das Prinzip ist immer das gleiche: preisgünstigeres Warenangebot dank Großeinkaufs sowie ehrenamtlicher Geschäftsbetrieb mit freiwilligen Hilfskräften. Vorweggenommen ist außerdem die noch heute (nach bald hundertfünfzig Jahren!) umstrittene Abendöffnung: Die Mitglieder sollen die Möglichkeit haben, ihre Einkäufe nach getaner Arbeit tätigen zu können.

Das Sortiment, ursprünglich auf die gängigen Grundnahrungsmittel beschränkt, wird mit der Zeit um anspruchsvollere Waren erweitert, auch Haushaltsartikel und Produkte der Kosmetikindustrie treten hinzu, nur »Branntwein und andere in die Kategorie der geistigen Getränke gehörige Flüssigkeiten sind, als nicht zu den Lebensbedürfnissen gehörig, in die Anschaffungslisten nicht aufzunehmen«. Der erste Konsumverein, der von dieser Einschränkung abrückt, ist jener der Kärntner Bergwerksgemeinde Heiligengeist; in einem Ergänzungsantrag an die zuständige Behörde wird »ehrfurchtsvoll um gnädige Bewilligung« angesucht, auch Spirituosen anbieten zu dürfen – und zwar mit folgender Begründung: »Geistige Getränke sind den Bergarbeitern sehr notwendig, indem dieselben 12 bis 18 Stunden des Tages bei harter Arbeit in den Gruben nur mit einem Stück schwarzen Brotes vorliebnehmen müssen und ohne den Genuß geistiger Getränke ihre Arbeitskraft für längere Lebensdauer nicht erhalten können.«

Viel wäre noch zu sagen über die weitere Entwicklung der österreichischen Konsumbewegung, über ihre Blüte in der Zeit nach dem Ersten und ihr Wiedererstehen nach dem Zweiten Weltkrieg und auch über ihren spektakulären Zusammenbruch im Konkursjahr 1995. Doch das ist nicht mehr unser Thema, und so wollen wir statt dessen für einen Augenblick nochmals an den Ursprungsort Teesdorf zurückkehren, wo im Sommer 1856 alles angefangen hat …

Dreißig Jahre nach jenem Urereignis, am 1. November 1886, kommt in Wien der Schriftsteller Hermann Broch zur Welt, dessen Vater Josef Broch – weitere zwanzig Jahre später, nämlich Ende 1906 – die »k.k. privilegierte Spinnfabrik Teesdorf« vor dem drohenden Konkurs rettet, käuflich erwirbt und zu einem prosperierenden Unternehmen ausbaut. Damit dies auch in Hinkunft so bleibt, zwingt er seinen Sohn – entgegen dessen schriftstellerischen Neigungen – sich zum Textilingenieur ausbilden zu lassen und 1909 in die Leitung der Firma einzutreten.

Hermann Broch, im Gegensatz zu seinem als »Ungetüm aus der Endphase des kapitalistischen Heroen-Zeitalters« beschriebenen Vater jeder Zoll ein Humanist, wird, bevor er 1927 die Fabrik abstößt und sich nunmehr zur Gänze der Literatur zuwendet (und mit der Romantrilogie »Die Schlafwandler« debütiert), manches für die Erhaltung des sozialen Friedens seiner Belegschaft tun. Hermann Broch sorgt unter anderem dafür, daß bedürftige Arbeiterkinder in einer eigens installierten Werksküche gratis verköstigt werden, er spendiert dem Arbeiter-Sportverein Turnhalle und Freibad, er setzt sich dafür ein, daß Teesdorf an das öffentliche Stromnetz angeschlossen wird, und woran ihm als Nebenberufs-Schriftsteller besonders gelegen ist: Er stiftet seiner Gemeinde eine Leihbibliothek, deren Grundstock 4000 Bücher zählt. Der »Konsumgedanke« findet also auch in ihm einen tatkräftigen Förderer, der des Dankes seiner Arbeiter gewiß sein kann.

Der erste Walzer

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