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»Aufhören, das ist ja furchtbar!«
ОглавлениеDer Grabstein aus schwarzem Granit überragt an Höhe alle seine Nachbarn, und die vor kurzem erneuerte Silberschrift bezeugt, daß auch in punkto Instandhaltung und Pflege mustergültig vorgesorgt ist. Ich stehe vor der letzten Ruhestätte von Bernard und Marie Mahler auf dem jüdischen Friedhof von Iglau, die Gustav Mahler in jenem Unglücksjahr 1889 hat errichten lassen, in dem er dicht hintereinander Vater, Mutter und Schwester Leopoldine verloren hat. Auch an einer Reihe weiterer Gräber kehrt der Familienname des zu dieser Zeit Neunundzwanzigjährigen wieder, der seit einigen Monaten Direktor der königlich-ungarischen Oper in Budapest ist und in wenigen Tagen die Uraufführung seiner Ersten Symphonie erleben wird.
Friedhöfe gleichen aufgeschlagenen Geschichtsbüchern: Mein Rundgang über den jüdischen und den gleich nebenan befindlichen Zentralfriedhof von Iglau erinnert mich auf Schritt und Tritt an all die vielen anderen Berühmtheiten aus dem alten Österreich, die in und um Gustav Mahlers Kindheitsstadt ihre Wurzeln haben: der Komponist Johann Stamitz, der Architekt und Designer Josef Hoffmann, der Nationalökonom Joseph Schumpeter, der Sozialreformer Julius Tandler. Auch weniger erfreuliche Gestalten sind darunter – etwa der im Zuge der Nürnberger Prozesse hingerichtete Wiener NS-Reichsstatthalter Arthur Seyss-Inquart. Und eine vorzüglich deutsch sprechende ältere Frau, mit der ich ins Gespräch komme, klärt mich mit verschmitztem Lächeln darüber auf, daß auch ihr Fernsehliebling Harald Schmidt mährisches Blut in seinen Adern hat: Seine Eltern stammen aus der ehemaligen deutschen Sprachinsel Iglau.
Gustav Mahler kommt erst als Kleinkind von drei Monaten in die mit ihren 17 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Mährens: Sein Geburtsort ist das 40 Kilometer entfernte Dorf Kalischt, wo Vater Bernard eine kleine Branntweinschenke betreibt. In späteren Jahren wird der inzwischen Arrivierte, mit der Bratschistin Natalie Bauer-Lechner im Böhmerland unterwegs, in dem nach wie vor unattraktiven Nest Station machen und seiner Seelenfreundin die Stätte seiner Herkunft zeigen:
»Siehst du, in einem so armseligen Häusel bin ich geboren; nicht einmal Scheiben waren in den Fenstern. Vor dem Haus breitete sich ein Wassertümpel aus.«
Heute, weitere 110 Jahre später, findet der Tourist die 1937 niedergebrannte Keusche nach den ursprünglichen Plänen wiederaufgebaut: Mit dem Autohersteller Opel und dem tschechischen Filmregisseur Miloš Forman als Sponsoren ist während der Präsidentschaft Václav Havels aus dem Mahler-Geburtshaus ein vielfrequentiertes Musikzentrum geworden.
Gustav Mahlers Vater Bernard ist ein gutes Beispiel für den sowohl geschäftlichen wie sozialen Aufstieg der lange Zeit in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jüdischen Minderheit. Seine Mutter, als Wanderhändlerin noch mit 80 Jahren zu Fuß unterwegs, um, den Korb auf dem Rükken, von Haus zu Haus ihre Tücher und Bänder feilzubieten, wird wegen unbewilligter Geschäfte von der Behörde aufgegriffen. Daß es ihr gelingt, eine Audienz beim Kaiser zu erwirken, und tatsächlich Straferlaß erreicht, mag schon ein erstes Indiz für jene unbändige Energie und Durchsetzungskraft sein, die später – und auf gänzlich anderem Gebiet – ihr Enkel Gustav entwickeln wird, dem seine Erfolge als Musiker, Dirigent, Theaterleiter und Komponist ja ebenfalls nicht in den Schoß fallen …
Auch Vater Bernard Mahler fängt klein an: Er nimmt Gelegenheitsarbeiten in dieser und jener Manufaktur an, ehe er sich als Fuhrmann selbständig macht, und da er auf seinen Ausfahrten stets Lesestoff mit sich führt, sich sogar in französische Bücher vertieft (was ihm den Spitznamen »Kutschbockgelehrter« einträgt), findet er fallweise auch als Hauslehrer Verwendung. Wirklich sanieren kann er sich allerdings erst mit Hilfe seiner Frau: Die zehn Jahre jüngere Marie Hermann, Tochter eines begüterten jüdischen Seifensieders aus dem nahen Ledetsch, tritt mit einer Mitgift von 3500 Gulden in den 1857 geschlossenen Ehebund ein. Zwar passen die sanftmütige, von Geburt an mit einem Gehfehler behaftete Marie und der zu Jähzorn und Gewalttätigkeit neigende Bernard wie Feuer und Wasser zueinander, doch den Brauteltern scheint das zielstrebige Naturell des Bräutigams zu imponieren, und dieser wiederum hat es auf das Geld seiner Zukünftigen abgesehen.
Das zweite der insgesamt 13 Kinder, die Marie Mahler, die fast ununterbrochen Schwangere, zur Welt bringt, ist Gustav. Isidor, der Erstgeborene, kommt, nur wenige Wochen alt, bei einem Unfall ums Leben. Mit Hilfe der Hermannschen Mitgift kann die dreiköpfige Jungfamilie 1860 den Sprung in die Stadt wagen: Am 22. Oktober – da ist Gustav dreieinhalb Monate alt – wird nach Iglau übersiedelt.
Die nach Brünn und Olmütz drittgrößte Stadt Mährens, einst für ihren Silberbergbau, nun für ihr Tuchmachergewerbe berühmt, ist Sitz der Bezirkshauptmannschaft, verfügt über eine große Garnison und wird bald auch – freilich mit einer weitab vom Zentrum gelegenen Station – ans Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Wandernde Handwerkergesellen haben im ausgehenden 16. Jahrhundert eine Meistersingerschule in Iglau gegründet, und im Gymnasium wird während der Reformationszeit nach den Lehrplänen des Kirchenreformers Melanchthon unterrichtet. Das Drei-Sparten-Theater (für Schauspiel, Oper und Operette) hat über 1000 Plätze; in der Pfarrkirche zu St. Jakob werden Mozarts Requiem und Rossinis Stabat mater aufgeführt. Der langgestreckte, von stolzen Patrizierhäusern umstellte Marktplatz ist der größte des Landes; die zu vier Fünfteln vorherrschende Umgangssprache ist Deutsch.
Seitdem Kaiser Franz Joseph am 21. Oktober 1860 sein Manifest »An meine Völker« erlassen hat, das den habsburgischen Kronländern ein deutliches Mehr an Eigenständigkeit einräumt, ist auch die Niederlassungsfreiheit für die jüdische Minderheit gesichert; in einem eigenen Dekret wird ihnen das Recht zugestanden, Grundbesitz zu erwerben.
Einer der ersten, die davon Gebrauch machen, ist der siebenundzwanzigjährige Bernard Mahler: Mit Gattin Marie und Söhnchen Gustav richtet er sich in dem Haus Pirnitzergasse Nr. 264 ein. Die von der Behörde erteilte Konzession zur Herstellung von Spirituosen erlaubt ihm die Gründung eines Kleinbetriebes, dem er den etwas hochtrabenden Namen »Rum-, Punsch-, Rosoglio-, Liqueur- und Essenzenfabrik« gibt; im Parterre eröffnet er außerdem einen Ausschank für seine Produkte. Die Wohnräume befinden sich im ersten Stock: die für die Familie bestimmten straßenseitig, die fürs Gesinde nach hinten hinaus, Richtung Hof. Hat sich unser Jungunternehmer während der Jahre auf dem Lande noch mit der zu mancherlei Schikanen neigenden Obrigkeit herumschlagen müssen, die ihm unberechtigten Verkauf von Brot, Alkoholausschank an dafür nicht zugelassenen Orten sowie willkürliche Überschreitung der Sperrstunde vorhielt, so ist er im liberaleren Iglau sein eigener Herr, dem sehr bald auch das Bürgerrecht verliehen wird und der außerdem in der örtlichen Judengemeinde eine wichtige Funktion übernimmt.
Seine Geschäfte – der Verbrauch von Kartoffeln, Gerste, Anis und Kümmel für die Schnapsherstellung nimmt stetig zu – entwickeln sich so prächtig, daß Bernard Mahler nach einigen Jahren das Nachbarhaus hinzukaufen kann. Da stehen auch die Chancen für Sohn Gustav gut, daß er, wenn es einmal so weit ist, mit einer erstklassigen Ausbildung rechnen kann. Mit sechs tritt er in die k.k. Hauptschule in der Brünnergasse ein; der Kontrabassist der Iglauer Stadtkapelle, Jakub Sladký, erteilt dem Vierjährigen den ersten Klavierunterricht.
Das musikalische Talent des Heranwachsenden meldet sich übrigens schon früher. Er hat noch kaum laufen gelernt, da kann er jedes Lied, das er aufschnappt, jeden Gassenhauer, den die Dienstboten vor sich hinträllern, fehlerlos nachsingen, und als er mit drei Jahren sein erstes eigenes Instrument erhält, eine Ziehharmonika, zeigen sich sowohl die Gäste in Vaters Branntweinschenke wie die Marktfrauen an ihren Verkaufsständen entzückt, wenn sich der Kleine vor ihnen mit seinem »Maurerklavier« produziert. Als er einmal vom Vater in die Synagoge mitgenommen wird, kommt es beinah zum Skandal: Mit den Worten »Aufhören, das ist ja furchtbar!« bringt er die singende Gemeinde zum Schweigen und stimmt seinerseits ein altes böhmisches Volkslied an. Gotteshäuser haben es ihm überhaupt angetan: Da er eine Zeit lang im Kirchenchor von St. Jakob mitsingt, ist er mit der Liturgie der Katholiken (zu deren Glauben er zur Zeit seines Wiener Dirigentendebüts 1897 übertreten wird) besser vertraut als mit den Ritualen des jüdischen Bethauses.
Zumindest, was die Weckung seiner musikalischen Talente betrifft, ist Iglau für den heranwachsenden Gustav Mahler ein wahres Paradies: Wenn früh morgens die Militärmusik am elterlichen Haus in der Pirnitzergasse vorbeizieht, kann ihn nichts, auch wenn er noch im Nachthemd steckt, davon abhalten, aufs Trottoir zu stürzen und den Soldaten hinterherzulaufen. Auch das Fiedeln der Straßenmusikanten, die Melodien des Leierkastenmannes und die Trompetenstöße beim Morgen- und Abendappell vor der Kaserne oder auf dem Exerzierplatz ziehen ihn magisch an – und zwar mit solcher Nachhaltigkeit, daß in späteren Jahren so manches davon in seine eigenen Kompositionen eingehen wird. Wenn musiziert wird, vergißt er alles andere, was rund um ihn vorgeht: Einmal macht er angesichts einer Militärkapelle, deren Märschen er lauscht, sogar in die Hose, und eine Passantin, deren feine Nase den Vorfall registriert hat, stellt den »Missetäter« zur Rede und fordert ihn auf, eilends den Heimweg anzutreten.
Als ihn die Eltern mit sechs Jahren ins Photoatelier mitnehmen, wird als Requisit für Gustavs Konterfei ein Fauteuil gewählt, auf dessen Sitzfläche ein Notenblatt liegt. Tatsächlich datieren aus dieser Zeit seine ersten eigenen Komponierversuche; es sind ein Trauermarsch, der in eine Polka übergeht, sowie ein Lied, für das ihm das Lessing-Gedicht »Die Türken haben schöne Töchter« als Textvorlage dient. Bei beidem handelt es sich um »Auftragsarbeiten«: Die Mutter hat ihm zwei Kreuzer versprochen, falls es ihm gelänge, das kostbare Notenpapier von Tintenklecksen freizuhalten. Wen kann es da wundern, daß der Dreikäsehoch, der gerade erst schulpflichtig geworden ist, selbst die ersten Klavierschüler um sich schart? Gustav ist ein strenger Lehrer: Bei jedem falschen Ton setzt es eine Ohrfeige, und wenn sich der Kandidat weiter als ungelehrig erweist, kann ihm auch eine zünftige Strafarbeit blühen: hundertmaliges Abschreiben des Satzes »Ich soll cis spielen und nicht c«.
Daß Gustav schon vor seinem Schuleintritt über ein eigenes Klavier verfügt, ist den Großeltern in Ledetsch zu verdanken. Bei einem Besuch in deren Haus hat man auf dem Dachboden das lange unbenützt gebliebene Instrument aufgestöbert. Um die Tastatur zu erreichen und darauf klimpern zu können, muß der von Geburt Kleinwüchsige die Hände über den Kopf erheben. Noch am Tag darauf wird das »klingende Monstrum«, wie sich Mahler als erwachsener Mann erinnern wird, auf den Ochsenwagen geladen und nach Iglau transportiert. Bevor es dort in Betrieb genommen werden kann, müssen die Pedale mit Holzklötzen verlängert werden, die auf die kurzen Beine des Halbwüchsigen zugeschnitten sind.
Noten sind teuer, also bezieht man sie im Abonnement aus der Leihbibliothek. Kein Mangel besteht an Musiklehrern: Iglau hat ein florierendes Kulturleben. Eine Zeitlang nimmt sich der Kapellmeister des Stadttheaters des kleinen Gustav an, dann das eine oder andere Orchestermitglied, schließlich der mit der Familie Mahler befreundete Regens Chori von St. Jakob und Leiter des örtlichen Männergesangvereins, Heinrich Fischer.
Als unser Wunderknabe zehn ist, darf er sich zum ersten Mal vor Publikum produzieren: Die Lokalzeitung bescheinigt dem »künftigen Klaviervirtuosen« beachtlichen Erfolg und beanstandet nur die mangelnde Qualität des ihm zur Verfügung gestellten Instruments.
Seit kurzem besucht er das Deutsche Gymnasium in der Tiefen Gasse. Seine schulischen Leistungen lassen allerdings zu wünschen übrig: In den meisten Fächern bringt es der verträumte Knabe, der mit seinen Gedanken oft ganz woanders zu sein scheint als bei dem verordneten Lehrstoff, nur bis zum Mittelmaß, und auch in punkto Betragen muß er so manche Rüge einstecken. Als ihn einer der Professoren fragt, was er denn später einmal werden wolle, antwortet er: »Märtyrer.« Aus dem Munde eines Juden hört sich das für den bornierten Provinzpädagogen wie Blasphemie an. Die Folge: Der »Provokateur« wird abgestraft.
Vater Mahler, außer sich vor Enttäuschung über die mangelhaften schulischen Fortschritte seines Ältesten, versucht es mit einem »Gastjahr« in Prag. Doch das Experiment schlägt fehl: Von seinen dortigen Quartiergebern miserabel betreut, kehrt Gustav alsbald wieder ins Elternhaus zurück und schafft mit Ach und Krach – und erst nach zweimaligem Antreten – die Matura. Da er inzwischen einen weiteren Konzertauftritt absolviert hat, dessen Reinertrag er seiner Schule zum Ankauf von Lehrmitteln hat zukommen lassen, drücken die Professoren ein Auge zu und stellen ihm am 12. September 1877 trotz mehrerer »nicht genügend« das Reifezeugnis aus. Da zumindest Gustavs außerordentliche Musikalität außer Streit steht, will ihm niemand bei dem geplanten Wechsel ans Wiener Konservatorium im Weg stehen.
Auch aus familiären Gründen ist ihm Iglau seit einiger Zeit verleidet: Der Gerechtigkeitsfanatiker, der eines Tages eine reichgefüllte Geldbörse findet und bei der Polizei abliefert (was sogar in der Stadt ausgetrommelt wird) und der trotz seines knapp bemessenen Taschengeldes an keinem Bettler vorübergeht, mag nicht länger mitansehen, wie sein jähzorniger Vater Frau und Kinder schikaniert. Wenn die Mutter – wie so oft – mit Migräne daniederliegt, verweilt ihr Ältester stundenlang am Krankenbett und betet für ihre Genesung.
Worunter Gustav besonders leidet, ist der Verlust des Lieblingsbruders Ernst. Der zwei Jahre Jüngere (von den insgesamt zwölf Geschwistern eines der sechs, die überhaupt überleben) stirbt im April 1875 an einem Herzleiden. Gustav reagiert auf die Katastrophe mit den Mitteln der Musik und komponiert eine Oper, in der er das Schicksal der Titelfigur (»Ernst, der Herzog von Schwaben«) mit dem Gedenken an den geliebten Bruder verknüpft.
Die Weichen für seinen Weggang aus Iglau werden noch im selben Jahr während eines Ferienaufenthaltes auf dem acht Kilometer entfernten Landgut Rostov gestellt, wo der dortige Domänenverwalter auf die außergewöhnliche Begabung seines jungen Gastes aufmerksam wird. Dieser Gustav Schwarz, selber hochmusikalisch, ist es, der Vater Bernard Mahler sowohl mit brieflichen Appellen wie in persönlicher Vorsprache die Zustimmung abringt, seinen Ältesten zum Musikstudium nach Wien gehen zu lassen. Zum Vorspielen bei dem renommierten Konzertpianisten, Herausgeber der Schubert-Klavier-Sonaten und Professor am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, Julius Epstein, begleitet er ihn sogar persönlich in die Hauptstadt. Sein Einsatz lohnt sich: Spätestens, als der Kandidat nach dem Abspielen herkömmlicher Talentproben zum Intonieren eigener Kompositionen übergeht, erkennt Epstein, welches Genie er vor sich hat, und läßt Vater Mahler ausrichten: »Der wird Ihre Schnapsfabrik nicht übernehmen.«
Rasch ist ein Untermietzimmer für den angehenden Musikstudenten gefunden: Im 4. Stock des Hauses Margaretenstraße 7 hält der siebzehnjährige Gustav Mahler Einzug. Bei Franz Krenn belegt er die Fächer Komposition und Kontrapunkt, bei Robert Fuchs Harmonielehre, an der Universität besucht er die Vorlesungen von Anton Bruckner, und Julius Epstein, für die weitere Vervollkommnung am Klavier zuständig, ist und bleibt der große Gönner, der ihm auch zuredet, das wenig verlockend erscheinende Kapellmeisterengagement anzunehmen: beim Kurorchester in dem oberösterreichischen Thermalbad Hall. Kommentar des 28 Jahre Älteren: «Egal, wo Sie beginnen – Sie werden bald andere Stellungen finden.«
Gustav Mahler findet sie in Laibach, Olmütz, Prag und Leipzig. 1888 wird er Chef der Budapester Oper, 1891 erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, 1897 Direktor der k.k. Hofoper in Wien.
In den ersten Jahren nach seinem Weggang aus Iglau kehrt er, so oft es ihm der Terminkalender erlaubt, besuchsweise ins Elternhaus zurück, verbringt daheim Feier- und Ferientage. Bei Konzertauftritten versucht er den Iglauern seine eigene Musik nahe zu bringen, ohne deswegen »Leichteres« zu verschmähen: Am 21. September 1882 dirigiert der Zweiundzwanzigjährige sogar eine Operette – es ist Franz von Suppés »Boccaccio«.
Auch seine erste Liebe absolviert er in Iglau: Der gleichaltrigen Josefa Poisl, Tochter des Vorstandes des örtlichen Telegraphenamtes, widmet der Achtzehnjährige gefühlvolle Briefe, Gedichte und Lieder. Eines davon, »Maitanz im Grünen«, erinnert daran, daß er von Kind an, als er noch an der Seite des Vaters die Wälder der Umgebung durchstreift, eine starke Liebe zur Natur empfindet. Auch davon, also von den Stimmen der Landschaft, der Bäume, der Vögel, des Himmels und der Erde wird in späteren Jahren so manches in sein Werk einfließen.
Als im Februar 1889 der Vater und acht Monate später die Mutter stirbt, nimmt er die Errichtung eines repräsentativen Grabmals in die Hand, löst das Familieneigentum auf, begleicht die angefallenen Schulden, kümmert sich um die Geschwister. Von der gesamten Hinterlassenschaft nimmt er nur den alten, schon zerschlissenen Lehnstuhl des Vaters nach Wien mit – vielleicht, um damit seine Entschlossenheit zu signalisieren, fortan die verantwortungsvolle Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen. Den Schwestern Justine und Emma ist er ein vorbildlicher Vormund, den musikalisch talentierten Bruder Otto holt er nach Wien und verschafft ihm einen Ausbildungsplatz am Konservatorium. Das Wohnrecht, das ihm die Stadt Iglau einräumt, wird er niemals aufgeben, auch wenn er davon keinerlei Gebrauch macht.
Gustav Mahler ist keine 51 Jahre alt, als er am 18. Mai 1911 in Wien stirbt; die Beisetzung erfolgt auf dem Grinzinger Friedhof. Auch wenn die Stadt seiner Kindheit und Jugend in den folgenden Jahrzehnten keine Gelegenheit auslassen wird, ihres großen Sohnes zu gedenken und zu den runden Geburts- und Todestagen Mahler-Konzerte, Feierstunden und Denkmalsenthüllungen zu veranstalten – die Iglauer Ehrenbürgerschaft, zuerst von den Nazis und nachher auch von den Kommunisten im Stadtsenat abgelehnt, erhält er erst 88 Jahre nach seinem Tod. Von den Ubikationen, die seinen Namen tragen, sind nur das im ehemaligen Elternhaus installierte »Café Mahler« und das zum »Hotel Gustav Mahler« umgewandelte Dominikanerkloster ganzjährig zugänglich. Die vorzügliche Dauerausstellung »Der junge Gustav Mahler und Iglau« ist zwischen November und April geschlossen. Dr. Alena Jakubicková, die ebenso kundige wie freundliche Kustodin, macht bei mir eine Ausnahme und geleitet mich trotz »Wintersperre« durch die sehenswerte Sammlung. Ganzjährige Öffnung, so gibt sie mir zu verstehen, lohne den Aufwand nicht: Die Zahl der Besucher, die nach Iglau kommen, um auf Gustav Mahlers Spuren zu wandeln, halte sich in engen Grenzen.
Aus: Die böhmische Großmutter, 2005