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Dietmar Grieser auf Österreichs Spuren in der Welt Vogelstimmen – vom Blatt

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Der Naturforscher Thaddäus Haenke

Von Beethovens »Pastorale« bis zu Ottorino Respighis »Pini di Roma«, von Maurice Ravels »Daphnis et Chloé« bis zu Olivier Messiaens »Catalogue d’oiseaux« haben große und größte Komponisten immer wieder auf den Gesang der Vögel »zurückgegriffen«. Sie sind dabei unterschiedlich vorgegangen: Beethoven mag auf seinen Spaziergängen im Wienerwald den Stimmen von Wachtel, Nachtigall und Kuckuck gelauscht haben, andere verließen sich auf ihre Phantasie, im Fall Messiaen gingen der instrumentalen Umsetzung der Vogelstimmen umfangreiche Naturstudien voraus.

Den direktesten Weg beschritt ein Mann aus einer ganz anderen Branche: der österreichische Forschungsreisende Thaddäus Haenke, der zwar auch ein großer Musikkenner gewesen, jedoch niemals als Komponist hervorgetreten ist. Seit 1796 in Lateinamerika ansässig, ließ er sich aus seiner ehemaligen Heimat Europa Notenpapier schicken, lauschte dem Gesang der exotischen Vögel, die ihn auf seinem Beobachtungsposten im bolivianischen Urwald umschwirrten, und schrieb, was er hörte, nieder. In der Notenschrift, die er als Sängerknabe im Prager Jesuitenkolleg und als Organist bei den Prager Kreuzherren gelernt hatte. Die Absicht, die er damit verband, war freilich eine andere als die der genannten Komponisten: Ihm ging es nicht ums Nachspielen, sondern ums Bewahren. Um Dokumentation. Machte er sich heute, also 200 Jahre später, ans Werk, ließe er selbstverständlich ein Tonband laufen und hielte auf diese Weise die Stimmen des Glockenvogels und des Neuntöters, des Pfefferfressers und des Organito fest.

Ein wunderbarer Mann, dieser Thaddäus Haenke aus dem nordböhmischen Städtchen Kreibitz, den man mit gutem Grund den »österreichischen Humboldt« genannt, ja der sogar zehn Jahre vor dem berühmten deutschen Kollegen Südamerikas Fauna und Flora erforscht hat.

In der Nähe von Leitmeritz kommt er am 6. Dezember 1761 zur Welt, der Vater ist Landwirt und Richter. Da Thaddäus schon als Schulbub musikalisches Talent zeigt, soll er nach dem Willen der frommen Eltern Kantor werden. Zwei Wegstunden sind es zur Schule des Warnsdorfer Musiklehrers Josef Schubert; der Halbwüchsige nimmt alle Strapazen auf sich, um an Klavier und Orgel ausgebildet zu werden. Über Vermittlung seines Onkels, der Pfarrer ist, erhält er einen Freiplatz im St.-Wenzels-Seminar der Prager Jesuiten, wo er nicht nur mit Oboe und Horn umzugehen lernt, sondern sich bis zum Singmeister emporarbeitet.

Dann aber kommt eine andere Leidenschaft bei ihm zum Durchbruch: Thaddäus belegt an der Prager Karls-Universität die Fächer Mathematik und Astronomie, wird zum Magister promoviert, wechselt nach Wien über, wo er bei dem berühmten Jacquin Botanik und bei dem Mozart-Freund Ignaz von Born Mineralogie studiert und schließlich, keine fünfundzwanzig Jahre alt, zu seinen ersten Forschungsreisen aufbricht: ins Riesengebirge, in die Ostalpen, in den Böhmerwald. Es folgen Expeditionen in die Südsee und schließlich – nun schon im Dienst der spanischen Krone – in die überseeischen Kolonialgebiete Lateinamerikas.

Nur ungern lassen ihn seine Landsleute ziehen: Kaiser Josef nimmt dem inzwischen Zweiunddreißigjährigen das feierliche Versprechen ab, in die Heimat zurückzukehren. »Wie sollen wir mit diesem Land weiterkommen, wenn alle fortlaufen!«, brummt seine Majestät bei der Abschiedsaudienz in der Wiener Hofburg.

Von Chile bis Alaska ist Thaddäus Haenke jahrelang unterwegs, um vor allem die Pflanzenwelt der noch unerforschten Regionen zu erkunden, er legt Sammlungen seiner botanischen Funde in Kalifornien, auf den Philippinen und an der Ostküste Australiens an; er ist der erste Europäer, der die Victoria regia, die mit ihren drei Metern Blattumfang und ihren 60 Kilogramm Gewicht größte Seerose der Welt, zu sehen bekommt; er weist den spanischen Kolonialbeamten den Weg, die chilenischen Salpetervorkommen industriell zu nutzen, führt in Peru die ersten Blatternschutzimpfungen durch und greift überhaupt in die Heilmittelherstellung ein, sein Memorandum über die Schiffbarkeit der Nebenflüsse des Amazonas zieht weitere Forschungsaufträge des Madrider Hofes nach sich.

Laufend gehen Kisten, bis zum Rand gefüllt mit seinen penibel katalogisierten Aufzeichnungen, als Schiffsfracht nach Europa: Thaddäus Haenke ist schon bald in der Lage, die Seinen in der alten Heimat, die er übrigens niemals wiedersehen wird, mit finanziellen Zuwendungen zu unterstützen, und auch der Briefverkehr mit dem »Herrn Vater« und der »guten Mutter« wird Zeit seines Lebens nicht abreißen. Umgekehrt ersucht er einen seiner Brüder, ihn laufend mit all jenen Gütern zu versorgen, deren er in der Neuen Welt schwer habhaft werden kann. Dazu zählt nicht nur das Schreibmaterial, das er für seine Forschungsberichte braucht, sondern vor allem Noten: Auch an den entlegensten Orten seiner Südamerika-Aufenthalte hat Thaddäus Haenke nicht aufgehört, einer Leidenschaft zu frönen, die ihm von Kind an zur zweiten Natur geworden ist: dem Musizieren.

Nun aber wohl doch des ruhelosen Herumziehens müde, ist er seit 1796 seßhaft: Die bolivianische Bezirksstadt Cochabamba wird der Ort seiner Wahl. In vollen Zügen genießt er den ewigen Frühling der in 2500 Meter Höhe gelegenen Indiosiedlung: »Europa«, so schreibt er in einem seiner Briefe in die alte Heimat Böhmen, »würde sich entvölkern, wüßte man dort von der Schönheit dieses Landes, das auch eines der gesündesten auf Gottes Erdboden ist.«

Hält er sich nicht gerade in einer der Missionsstationen der Gegend auf, um von dort aus seine Naturstudien fortzusetzen, trifft er sich mit gleichgesinnten Ausländern zu gemeinsamem Musizieren. »Ich habe ein ziemlich gutes Fortepiano«, schreibt er an seinen Bruder und bittet ihn um eine »Sammlung guter Musicalien« für dieses Instrument: »Besonders wünsche ich Sonaten von Mozart, Clementi, Haydn, Pleyel und Sterkl.« Auch Klavierauszüge von Opern sind ihm willkommen; er nennt die Namen Paisiello, Gluck und Graun. Was Messen und Oratorien betrifft, so bevorzugt er »kurze und leichte«, denn: »Die Musik ist in diesem Lande noch in ihrer Kindheit.« Natürlich kümmert er sich auch ums Finanzielle: »Ich werde Gelegenheit suchen, Dir zum Einkaufen dieser musicalischen Werke 500 f. zu übersenden.«

Sobald wieder ein frischer Packen Noten aus Europa eintrifft, macht sich Haenke ans Kopieren der einzelnen Stimmen für die von ihm zusammengestellten Quartette und Quintette, gespielt wird vor geladenem Publikum, und fehlt es für eines der Instrumente an der nötigen Besetzung, ist es er, der einspringt: Klarinette und Oboe beherrscht er ebenso wie Pianoforte und Cembalo.

Wozu aber trägt er seinem Bruder eines Tages auf, auch Notenpapier ins ferne Cochabamba zu schicken? Will sich Haenke gar als Komponist versuchen?

Die Idee, die ihn seit längerer Zeit nicht mehr losläßt, ist: den Gesang all der exotischen Vögel, denen er auf seinen botanischen Wanderungen begegnet, in Notenschrift festzuhalten. Um ihr Äußeres zu beschreiben, ihre Gestalt, ihre Farbenpracht, ihre Art des Fliegens, genügt das Notizbuch, das er stets mit sich führt. Um aber den Europäern, die er laufend mit seinem Wissen von der Neuen Welt versorgt, auch einen Eindruck von den Stimmen all der gefiederten Sänger zu vermitteln, beschließt er, was er hört, niederzuschreiben. Wenn es ihm gelingt, für die einzelnen Stimmen die adäquaten Musikinstrumente zu finden, müßte es doch möglich sein, an jedem anderen Platz der Erde das solcherart Festgehaltene zu rekapitulieren: Vogelstimmen – sozusagen vom Blatt.

Schon als Kind, da er noch in der elterlichen Heimat Böhmen die Felder und Wälder durchstreift, haben es ihm die gefiederten Gesellen angetan, und mit fünfzehn, nunmehr Gymnasiast in Prag, schreibt er an seinen Vater:

»Ich wünschte von unseren Vogelstellern und auch Jägern zu erfahren, welche Vögel sich in unserer Gegend aufhalten, wie sie sich verbergen, wie sie sich schützen und wovon sie sich ernähren.« Ob Sperling, Schwalbe oder Lerche, ob Grasmücke, Schneekönig oder Fink: Wann im Frühling starten sie zu ihren Flügen, wann setzt ihr Gesang ein? Ob man ihm vielleicht gar einen »schönen, seltenen Vogel«, der eingegangen ist, »tot in einer Schachtel« nach Prag schicken könnte, damit er ihn ausstopfen und »nach systematischen Kennzeichen untersuchen« kann?

Jetzt in Bolivien, 25 Jahre später, erwacht das alte ornithologische Interesse wieder; Thaddäus Haenke berichtet nach Europa:

»Diese Vielfalt! Der Euphonia, der orgelnd den Sturm meldet, aber auch wie eine Nachtigall zu flöten weiß. Der Cyphorhinus, dessen Abgesang wie eine verstimmte Drehorgel klingt. Der Pfefferfresser, der sein ›Dios te dé‹ schnattert. Der bellende Ochsenvogel. Der gehörnte Camungo – dieser gefiederte Esel mit seinem klagenden ›iaa‹. Oder das Felsenhuhn – diese elegante Prinzessin, die wie ein Schwein grunzt. Doch auch die Papageien und die Kolibris, der siebenfarbene Tanagra und der rosarote Kuckuck – welch ›enorme Musikanten‹! Größter aller Virtuosen aber ist dieser kleine Kerl, den sie hier Organito nennen. Sein Gesang steigt zu den Wolken auf, er orgelt so verschiedenartig und harmonisch, als wollte er sämtliche Akkorde anstimmen. Er lebt im dichtesten Wald, am Rande der Abgründe, weshalb es schwierig ist, ihn zu Gesicht zu bekommen, diesen unvergleichlichen Sänger.«

Also wenn schon nicht zu Gesicht, so doch wenigstens zu Gehör. Und Thaddäus Haenke schreibt, was da an Melodien an sein Ohr dringt, nieder. In Notenschrift markiert er Tonfolge und Rhythmus, ordnet ihnen das entsprechende Musikinstrument zu.

Natürlich wüßten wir gern, was aus diesen einzigartigen Dokumenten geworden ist, die Thaddäus Haenke, mit Datum und Namen versehen, dem Konvolut seiner »Historia Natural« einverleibt und an seine Auftraggeber nach Madrid expediert. Sind seine »Vogelnoten« jemals von Musikern intoniert, die »Partituren« des Tunqui und des Organito jemals in einem Konzertsaal »aufgeführt« worden? Oder steht es uns gar noch bevor? Vieles von Haenkes Aufzeichnungen ist auf dem langen Transportweg von Amerika nach Europa in Verlust geraten, anderes in den Kolonialarchiven der Spanier vermodert. Die Edition des erhaltengebliebenen Teiles seines Nachlasses, an der seit einigen Jahren gearbeitet wird, soll, so ist zu hoffen, das Geheimnis lüften.

Aus: Verborgener Ruhm, 2004

Dietmar Grieser für Kenner

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