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Still schweigt Kummer und Harm

Nach vielen Monaten der Hoffnung und des Leides war unser dreiunddreißigjähriger Vater im Heimatlazarett an den Folgen einer russischen Maschinengewehrgarbe gestorben. Unsere allsonntäglichen Fahrten mit der Eisenbahn in die Klinik nach Wiesloch bei Heidelberg waren zu Ende. Der Sommer und der Herbst vergingen schweigsam. Der große Weltatlas war weggeräumt worden, der bislang aufgeschlagen auf Vaters Schreibtisch lag. Es war die Karte von Russland zu sehen gewesen. Mit buntköpfigen Nadeln waren die Aufenthaltsorte unseres Vaters nach jedem Feldpostbrief von Mutter gekennzeichnet worden.

Es war kalt und klamm in unserer Wohnung geworden. Drei Zimmer waren beschlagnahmt, Ausgebombte waren eingewiesen, das Möbel zusammengestellt oder in die Mansarde gebracht worden. Die Einrichtung unseres Esszimmers hatte Mutter schweren Herzens verkauft. Die Hoffnung auf bessere Zeiten waren begraben.

Der Spätherbst ging zu Ende.

Jeden Abend brannte jetzt über dem Wohnzimmertisch eine einsame Glühbirne unter einem großen Schirm schwach vor sich hin. Die Kohlen reichten nur noch, einen einzigen Ofen zu beheizen. Man muss es erlebt haben, diese Mischung von Frieren und glühenden Ohren in der Nähe des Ofens, um nachvollziehen zu können, was ich beschreiben möchte. Noch war es nicht so kalt geworden, dass im Schlafzimmer an den Fenstern die Eisblumen wuchsen. Wenn aber in der Küche der Kohlenherd entzündet worden war, lief das Wasser in dicken Tropfen an den mit Ölfarbe gestrichenen Außenwänden herab. So kam der letzte Advent im großen Krieg.

Mutter in Schwarz. Viele junge Frauen in unserer Straße trugen jetzt Schwarz. Mutter hatte oft eine schreckliche Ahnung vom Tod ihres Mannes gehabt. Als ihm das Eiserne Kreuz verliehen worden war, meinte sie, zu ihrer Schwiegermutter gewandt, wenn daraus nur kein hölzernes wird. Jetzt war ein hölzernes daraus geworden. Was nutzten uns noch alle seine Orden und Ehrenzeichen.

Advent? Die Hoffnung auf das Göttliche und dessen Verwirklichung und Vollendung durch den Menschen, wo doch fast täglich der Feuerregen auf die verbliebenen Kinder und Mütter herabfiel. Mutter hielt durch mit ihren letzten Kräften. Ein Stück Hoffnung sollte für die Kinder bleiben!

Trotz all des Augenscheinlichen muss es noch mehr Menschen gegeben haben, die in ihrer Tiefe einen Funken dieser Hoffnung hatten bewahren können. Auf dem Markt am Gutenbergplatz gab es noch Adventskränze zu kaufen. Kleine Kränze, die zu Hause geziert wurden mit einem roten Band, aufgebügelt, vom letzten Jahr, vier roten Kerzen und einigen kleinen Fliegenpilzen aus Pappmaschée.

Und es wurde das erste Licht am Adventskranz angezündet, der nun in der Mitte des Esstisches lag. Edwin und ich reichten mit den Armen gerade auf den Tisch. Mutter saß auf der anderen Seite. Früher hatte Mutter Zither gespielt. Wir haben sie nie mehr gehört. Stattdessen wurde gesungen. Mutter zunächst mit fester Stimme. Edwin und ich etwas hinterher. Wir kannten den Text nur bruchstückhaft. Adventslieder singt man nicht das ganze Jahr. Die schwermütige Melodie hingegen habe ich nie vergessen. Sie löst heute noch bei mir die Gefühle von damals aus. Der Gesang der Mutter vom leise rieselnden Schnee und vom weihnachtlich glänzenden Wald wurde schnell schwächer, bis er endgültig in ihren Tränen unterging. Ob das Christkind so bald kommen wollte?

Es war kein Christkind in Aussicht. Die Ohren waren heiß, die Füße kalt, Mutter weinte und versuchte im gleichen Moment weiterzusingen. Ihre Augen seien entzündet, und das schmerze sie so sehr. Sie müsse erst Augentropfen nehmen. Diese brannten in den Augen, und Mutter musste der schmerzhaften Tropfen wegen weinen. Ich versuchte, sie zu trösten. Es war ein hilfloses Unterfangen. Ich kam mir sehr unfähig vor.

Irgendwann kam dann die zweite Strophe, wo es in den Herzen warm werden soll und Kummer und Harm still schweigen. Was Harm ist, wusste ich nicht. Dass die Sorge des Lebens verhallen soll, wenn das Christkind kommt, galt es da zu singen. Mutter versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

In der dritten Strophe erwacht dann der Engel Chor, der lieblich schallt. Bald ist heilige Nacht. Freuet euch, Christkind kommt bald. Mutter rief nach dem toten Vater. Edwin und ich schwiegen. Mutter nahm wieder Augentropfen. Die bissen in ihre Augen.

Und Mutter hatte etwas vorbereitet. Sie holte einen Pappteller aus der Anrichte. Einen bunten Teller, bedruckt mit Bildern von Tannenzweigen und Christbaumkugeln. In diesem lagen ein paar kleine, rote Äpfel und ein Lebkuchen. Das war ein rechteckiges Stück, so lange wie ein neuer Bleistift, braun und mit einem Bild vom heiligen Nikolaus beklebt. Das Bild des Heiligen wurde vorsichtig von dem braunen Gebäck abgelöst und diente so noch lange als Erinnerung. Mutter brach den Lebkuchen in drei gleich große Stücke, und wir konnten uns wieder freuen. Das war kein Kuchen aus Mandeln und Zitronat. Er war wohl aus dunklem Mehl und etwas Kunsthonig gebacken und gegen Brotmarken beim Bäcker Neff zu kaufen.

Jetzt wurde für die ewige Ruhe des Vaters gebetet, und es kehrte wieder Stille ein. Mutter nahm uns in die Arme und weinte nicht mehr. Wir waren ihre Hoffnung, ihre Christkinder.

Bunsenstraße Nr. 3

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