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Heimweh

Fast wäre ich kein Karlsruher geworden, sondern ein New Yorker – und das kam so:

Mein Großvater Albert hat keine Karlsruherin geheiratet. In Sickingen im Kraichgau fand er meine Großmutter Maria, deren Vater dort eine kleine Brauerei betrieb und Gastwirt des Grünen Hofes war. Nichts Außergewöhnliches, wäre da nicht noch der merkwürdige Trauschein meiner Urgroßeltern gewesen. Davon soll diese Geschichte handeln.

Sie beginnt ganz alltäglich. Ein Mädchen namens Pauline verliebte sich in einen Karl Adolph. Alles hätte bei dem jungen Glück seinen Weg gehen können, wäre Pauline nicht das Kind einer vermögenden Familie gewesen. Karl Adolph aber hatte nicht viel dagegenzusetzen. Paulines Vater Valentin und Mutter Helena hatten sich da schon etwas Besseres für ihre Tochter gewünscht. Daraus machten sie auch keinen Hehl. Pauline sollte sich einen anderen suchen. Karl Adolph käme jedenfalls nicht in Frage. Da halfen kein Betteln, keine Tränen und schon gar kein Handanhalten. Vater blieb stur und Mutter unterstützte ihn. Karl Adolph möge ja ein rechter Mann sein, für eine Heirat käme er aber nicht in Frage. Und dabei blieb es.

Pauline versank in tiefe Trauer. Karl Adolph war gekränkt, so gekränkt, dass er beschloss, in der Neuen Welt sein Glück zu versuchen, wo es in Sickingen doch keines für ihn gab.

Wir wissen nicht, wie die Verliebten voneinander Abschied nahmen, können es uns aber leicht ausmalen. Leider hat meine Großmutter mir davon nichts erzählt. Das war die Sache ihrer Eltern. Über Gefühle wurde selten gesprochen und schon gar nicht über die der Eltern. Wie gesagt, wir sind auf unsere Phantasie angewiesen. Sicher liegen wir nicht falsch, wenn wir uns die Sache sehr traurig vorstellen, wie in aller Herrgottsfrühe Karl Adolph sich auf den Weg nach Karlsruhe machte, wahrscheinlich zu Fuß. Damals gab es in Sickingen noch keine Eisenbahn, geschweige denn einen S-Bahn-Anschluss wie heute, und für eine Kutsche dürfte das Geld nicht gereicht haben. Ein Rheinschiff brachte ihn wahrscheinlich nach Rotterdam.

Wir stellen uns eine weinende, von Vater und Mutter in ihre Kammer gesperrte Pauline vor, die mit ihren zarten siebzehn Jahren dem Geliebten kein letztes Ade sagen durfte. Reichtum kann schmerzen.

Karl Adolph reiste nach New York. Pauline weinte. Sie weinte viele Tage und Wochen. Hatte sie sich doch heimlich mit Karl Adolph verlobt. Nun war der Geliebte in unerreichbarer Ferne. Einen anderen Mann wollte sie nicht. Karl Adolph oder keinen! Das Mädchen wurde immer fahler, aß nichts mehr und verlor immer mehr seine Schönheit. Vater Valentin wurde von Tag zu Tag unruhiger. Ich male mir aus, wie er in seiner Schlafkammer sich nachts im Bett wälzte und aufhorchte, wenn es in Töchterleins Zimmer schluchzte. Helena, meine Ururgroßmutter, hat vielleicht auf ihn eingeredet und auf Abhilfe gesonnen. Aber was sollte man hier für Vorschläge machen? Partout wollte Pauline keinen anderen, wo es doch so fesche Burschen in Sickingen gab, die aus passendem Haus stammten und Pauline ein schönes Heim hätten bieten können.

Die Wochen verstrichen, der Winter kam ins Land, und Pauline war immer noch untröstlich.

Das hält auf die Dauer kein Vater durch, auch wenn er noch so sehr glaubt, für sein Töchterlein gäbe es Besseres. Sicher wird in einer der langen Winternächte in meinen Ururgroßeltern der Entschluss gereift sein: Wenn Pauline wieder glücklich werden sollte, müssen wir sie nach Amerika gehen lassen. Ein Gedanke, den sie vor wenigen Monaten hatten kaum zu denken gewagt. Ein Kind, das nach Amerika gegangen war, sah man in jenen Zeiten nicht mehr.

Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Gewiss hat es wieder viele Tränen gegeben. Jetzt waren die Eltern am Weinen. Das Kind musste mit dem Nötigsten für die Reise versorgt werden. Eine Geldbörse durfte nicht fehlen. Ein letztes Brot aus der Heimat wurde mitgegeben, und das Mädchen folgte, kaum war es Frühjahr geworden, den Spuren ihres Geliebten.

Ich stelle mir Karl Adolph in New York vor, wie er sehnsüchtig auf das Meer hinausschaute, Abend für Abend und Morgen für Morgen, wann endlich der Segler aus Rotterdam am Horizont erscheine. Es kamen viele Segelschiffe zu jener Zeit nach New York, und es kam auch das Schiff mit seiner Verlobten. Wieder lange Tage der Sehnsucht, Quarantäne auf Ellis Island, Bürokratie, und endlich machte das voll Ungeduld erwartete Boot an der Kaimauer fest: PAULINE.

Was die zwei wohl als Erstes machten? Sie gingen zur Kirche und heirateten. Ich gehe davon aus, dass Karl Adolph schon alles vorbereitet hatte, während seine Braut noch auf der beschwerlichen Reise über den Ozean war. Leider wissen wir überhaupt nichts von ihrer Hochzeit. Fest steht, dass sie am 19. Juli 1884 in New York stattfand.

Karl Adolph war kein rechter Auswanderer. Dergleichen will in der Neuen Welt ein anderes Leben führen als zu Hause. Mein Urgroßvater war nur aus Verzweiflung von Sickingen weggelaufen. Ohne seine Pauline hätte er dort nicht mehr leben wollen. Und bei Pauline war es wohl ebenso. Ohne ihren Karl Adolph war Sickingen nicht mehr ihre Heimat; dann lieber in der Fremde leben als ohne den Geliebten.

Jetzt nach der Vermählung war alles anders geworden. Die Neue Welt brauchten sie nicht mehr für ihr Glück. Ihr Ziel

hatten sie erreicht. Niemand konnte sie mehr trennen. Auch

in Sickingen nicht!

In solch einer Konstellation kommt leicht Heimweh auf. In Sickingen muss doch alles schöner gewesen sein als in dieser fremden Welt. Und wenn das Heimweh erst mal den einen befallen hat, steckt es den anderen an. Heimweh nagt. Heimweh ist eine tückische Krankheit. Sie breitet sich schleichend aus, besonders an den Tagen, an denen man keinen Erfolg hat, wenn man krank ist oder vielleicht nur die Winterabende allzu lang werden, es kalt wird – und in New York kann es sehr kalt werden und viel Schnee fallen. Dann muss man nur noch daran denken, wie in Sickingen Weihnacht gefeiert wird, wie man in der Christmette singt und wie die Gutsel schmecken. Zudem, aus Deutschland hörte man, wie es dort wirtschaftlich aufwärts ging. Da könnte man doch auch sein Glück machen.

Ein Jahr blieben die beiden in Amerika. Im Sommer 1885 waren sie wieder auf einem Segler, warfen einen letzten Blick auf New York, und sie hofften wohl, die Reise gut zu überstehen. Das galt besonders für Pauline. Sie war schwanger. Zwillinge wurden auf dem Segler tot geboren und erhielten ein nasses Grab.

Wir ahnen es. In der Heimat konnten sie dann doch glückliche Eltern werden. Sonst hätte ich diese Erzählungen nicht schreiben können.

Bunsenstraße Nr. 3

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