Читать книгу Bunsenstraße Nr. 3 - Dietmar Schmeiser - Страница 8

Оглавление

Die Brezel

In den Kindergarten bin ich nicht gerne gegangen. Vielleicht war ich noch zu jung. Als Kleinster fühlte ich mich unterlegen und eingeschränkt. Es waren schrecklich viele Kinder dort. Über allen dominierte eine Nonne. Eine Vincentinerin mit einer riesenhaften Haube, wie man sie heute nicht mehr zu sehen bekommt. Ihr zur Seite standen zwei oder drei Tanten. Das ist nicht ironisch gemeint. Wir hatten diese Fräuleins so zu nennen. Der Nonne untergeordnet waren diese haubenlosen Wesen, denen wiederum ich unterstand. Genauer betrachtet, gab es noch eine Zwischenschicht zwischen den Tanten und mir. Das waren die großen Mädchen. Die hatten mehr zu sagen und versuchten, über uns Kleine zu herrschen. Das passte mir überhaupt nicht.

Mutter hängte mir morgens die Kindergartentasche um. In der befand sich ein Butterbrot, in Butterbrotpapier eingewickelt. Das Papier sollte ich wieder mitbringen, man konnte es mehrmals verwenden. Manchmal befand sich in meinem Täschchen auch noch ein Apfel.

Mit gestrickter Mütze auf dem Kopf hatte ich hinter der Fensterscheibe des Wohnzimmers zu warten, bis eine der Tanten die Straße entlangkam. Sie hatte schon etliche Kinder bei sich, und ich musste mich der Schar anschließen. Mutter winkte mir regelmäßig vom Fenster aus hinterher. Mein kleiner Bruder durfte zu Hause bleiben.

Wir durchzogen noch etliche Straßen. Überall wurden Kinder aufgesammelt, bis wir in stattlicher Zahl den Kindergarten erreicht hatten. Der war versteckt hinter unserer gewaltigen, neuromanischen Kirche, St. Bonifatius. Er hatte einen Namen, der mir noch nie begegnet war: St. Lioba. Erst im Kommunionunterricht erfuhr ich, wer diese Heilige war. Ganz einfach, die Weggefährtin des Heiligen Bonifaz.

Was ich im Kindergarten bewunderte, war ein großes Mädchen, das um eine flache Korkplatte würfelförmige, farbige Holzperlen reihen konnte. Ein anderes Mädchen machte aus Keramikperlen einen Untersetzer. In dieser farblosen Zeit des beginnenden Krieges faszinierten mich diese Farben. Solche Arbeiten kamen für mich leider nicht in Frage. Ich war eben noch viel zu klein und folglich zu dumm. Wahrscheinlich durften auch nur Mädchen solche schönen Arbeiten machen.

Oft drängte ich meine Mutter, zu Hause bleiben zu dürfen. Sie aber war leider konsequent. Zu Hilfe kam mir dann der Krieg. Die Stadt wurde in zunehmendem Maße bombardiert, zuweilen auch am Tag. Das ängstigt jede Mutter. Bevor aber der erlösende Entschluss meiner Mutter kam, dass ich zu Hause bei meinem kleinen Bruder bleiben durfte, ereignete sich etwas Seltsames.

Wir waren noch nicht richtig am Morgen in St. Lioba angekommen, wurden wir schon wieder in unsere Jacken gesteckt und hatten unsere Mützen aufzuziehen. Die Butterbrote blieben im Kindergarten, und alle Kinder zogen zum Weinbrennerplatz. Dort hatten sich noch viele andere Menschen versammelt. Sie waren höchst unruhig. Kein Auto auf der Straße. Plötzlich löste sich die Unruhe in unverständliches Getobe der Erwachsenen. Nie gesehene Wagen und ein prächtiges Cabriolet kamen aus Richtung Westbahnhof die Kriegsstraße entlang. Die Leute riefen: „Er kommt“ und brüllten: „Heil Hitler.“ Viele rissen den rechten Arm hoch oder winkten den Wagen zu. Mir blieb das Gehampel der Erwachsenen weiterhin schleierhaft. Ich fand uns Kinder viel vernünftiger.

Bald bemerkte ich, dass ein Kind aus unserem Kindergarten – natürlich wieder ein Mädchen und wieder ein großes – von der Nonne einen Blumenstrauß erhalten hatte, mit dem es auf den offenen Wagen zuging, in dem der Uniformierte saß. Der ließ anhalten, nahm den Strauß entgegen – und schenkte dem Mädchen eine Brezel.

Mir blieb unklar, was so ein Führer sei. Verschmerzen konnte ich, dass das Kind ihm einen Blumenstrauß hatte bringen dürfen. Was mich allerdings begehrlich machte, war die Brezel. Die hatte nicht der kleine Dietmar, die hatte – wie konnte ich es auch anders erwarten – ein großes Mädchen.

Bunsenstraße Nr. 3

Подняться наверх