Читать книгу Erna geht zu Fuss - Dirk Bausch - Страница 6
Bolle
ОглавлениеHeute ist ein trauriger Tag. Ich muß zu einer Beerdigung. Gestorben ist eine liebe Freundin, die mir über viele Jahre eine treue Stütze war. Sie wurde 83 Jahre alt. Alle meine Sorgen und Probleme konnte ich mit ihr besprechen. Und es gab keine Frage, die offen blieb. Immer wusste sie eine hilfreiche Antwort. Manchmal hat sie auch einfach zugehört. Eine Gabe, die heutzutage leider verloren gegangen ist. Wie viele Stunden habe ich in ihrer Stube gesessen, Kaffee getrunken und Kekse gegessen. Oft habe ich stundenlang mit Bolle, ihrem Rauhaarteckel gespielt und mich über alle möglichen Bücher mit ihr ausgetauscht. Aber alles fing ganz einfach an. Vor etlichen Jahren saß das Ehepaar Spengeler in meinem Wartezimmer. Sie hatten einen roten Langhaarteckel mit Namen Felix. Beide waren schon im Rentenalter, aber der alte Herr arbeitete noch immer bei einer Fahrstuhlfirma in Berlin. Dorthin fuhr er täglich mit seinem alten Golf. Ich weiß heute nicht mehr, was dieser Teckel hatte. Aber es war nichts Besonderes. Seit dieser Zeit kamen die drei immer regelmäßig zu mir. Alle drei hatten den gleichen Gang. Schon damals wurden unsere Gespräche nur durch die anderen Wartenden Patienten beendet. Auch wurde ich damals regelmäßig zum Essen eingeladen. An den Abenden erfuhr ich viel über das bewegte Leben der beiden Leute. So erfuhr ich, dass Ihr Vater nach dem Krieg denunziert wurde und in russische Gefangenschaft kam und dort verstarb. Ihr Elternhaus wurde enteignet. Seitdem wohnte sie gegenüber. Aber dazu später. Dann kam der Tag an dem Herr Spengeler plötzlich verstarb und kurze Zeit später der Teckel. Aber Frau Spengeler hatte so viel erlebt, dass sie auch diese Klippe umschiffte. Sie bekam einen neuen Teckel. Er hieß Bolle und war der schon beschriebene Rauhaarteckel. Komisch, wenn man nun erwartet, dass ein junger Hund spontan und ungeduldig ist. Nein Bolle hatte von Anfang an den gleichen Gang wie Frau Spengeler. Nur später hatte sie einen Stock, der Hund nicht. Von nun an trafen wir uns öfter. Später machte ich immer Hausbesuche um, der älter werdenden Frau den beschwerlichen Weg zu ersparen. So entwickelte sich unsere Freundschaft. Durch die ich auch ihre Tochter, Enkelin und andere Freunde kennenlernte. In unregelmäßigen Abständen erfolgten meine Besuche, nicht immer um Bolle zu verarzten.
Einmal konnte ich mich auch außerhalb meiner tierärztlichen Kunst bei ihr revanchieren. Es ging um die Rückgabe ihres Elternhauses. Ich war damals Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung unserer Stadt. Ich konnte mich für ihre Angelegenheit einsetzen. Leider erfolglos. Mit den Worten: „Wenn Sie aus dem Westen wären, hätten sie Ihr Grundstück längst zurück.“, wurde der Antrag abgelehnt. Sie war sehr traurig, aber ihr gutmütiges Wesen ließ sie daran nicht verzweifeln.
Oft traf ich beide bei Gängen durch die Stadt. Es war immer das gleiche Bild. Ich konnte schon von weitem beide an dem für sie typischen Gang erkennen. Links der Gehstock, dann die alte Frau und der Hund, der auf dem gleichen Bein hinkte, wie sie. Niemals zog der Hund, wie es andere Hunde tun an der Leine oder machte irgendwelche ausweichenden Bewegungen. Immer der gleiche Trott. So bald ich sie ansprach, war da die markante jugendlich fröhliche Stimme.
Dann kam der schreckliche Tag, an dem ich Bolle einschläfern musste. Er war so sehr an Leberkrebs erkrankt, dass eine Heilung nicht mehr möglich war. Um ihn von seinen Leiden zu befreien, blieb kein anderer Ausweg. Sie schaffte sich keinen Hund mehr an. Unsere Treffen, besser meine Besuche bei ihr, blieben die Gleichen, nur das Spiel mit dem Hund fehlte von nun an. Einmal machte sie mir ein Geschenk. Ich bekam aus ihrem Fundus ein Buch geschenkt. Sie hatte ja früher viel Umgang mit Pferden auf dem elterlichen Kohlenhof. Irgendwie muss sie mal an ein Buch über Tierärzte gekommen sein. Jedenfalls übergab sie mir das kleine abgegriffene Buch. Es heißt „Die Zange“. Auf der Vorderseite ist eine Hufuntersuchungszange abgebildet. Es enthält viele kleine Geschichten aus Studium und tierärztlicher Arbeit, zur Zeit des ersten Weltkrieges. Schon oft habe ich das Buch gelesen und mich an den Geschehnissen von damals ergötzt. Bei aller Trübsal, die unser Beruf heute manchmal mit sich bringt, bin ich doch froh, in der heutigen Zeit mit ihren Vorzügen arbeiten zu dürfen. Wenn ich mir vorstelle, bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit mit Pferd und Wagen loszuziehen und meist wirkungslose oder zumindest zweifelhafte Arzneien anwenden zu müssen. Aber teilweise aber hatten die Kollegen von damals dieselben Probleme, wie wir heute.
Frau Spengeler machte mir viele Geschenke im Laufe der vielen Jahre. Das größte Geschenk war aber, daß ich sie kennen lernen durfte. Nur dieses kleine bedeutsame Büchlein ist das einzige materialistische Geschenk von ihr. Es hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek. Ihre letzten Worte zu ihrer Enkelin waren „Grüß schön!“. Die tapfere Enkelin überbrachte diese Worte auf der Beerdigung. Besser, als mit diesen beiden Worten, hätte man die liebe Frau Spengeler nicht beschreiben können.