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Die Ziege im Wohnzimmer

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Es war noch ganz zu Anfang meiner tierärztlichen Tätigkeit. Ich hatte Notdienst. Es war einer meiner ersten Notdienste. Meine Kollegen hatten mir sofort nach Antritt meiner Arbeitsstelle möglichst viele Notdienste übertragen. Angeblich weil man dabei sehr viel lernen kann. Eigentlich waren sie froh einen Dummen gefunden hatten, der ihnen den lästigen Dienst abnehmen konnte. Ich glaubte damals diese Anekdote und stürzte mich in die Arbeit. Immer habe ich meine Arbeit gewissenhaft erledigt. So kniete ich mich richtig rein und meine tollen Kollegen genossen die gewonnene Freizeit. Großzügig boten sie mir ihre Hilfe an. Waren aber komischerweise nie erreichbar, wenn ich Hilfe brauchte. Ich packte mir viele Bücher ins Auto und kam auch so klar. Das Wichtigste aber war, ich brauchte nicht Danke zu sagen und ich lernte so viel mehr. Leider dauerte manche meiner tierärztlichen Experimente dadurch sehr viel länger oder mussten mehrmals wiederholt werden bis sich der gewünschte Erfolg einstellte.

So kam der Tag an dem Frau Schwade anrief. Sie erzählte mir, sie habe eine Geiß, die seit den Vormittagsstunden in der Geburt steht. Es hat sich nichts getan. Vormittags war schon ein Tierarzt da gewesen und habe mal kurz nachgeschaut. Sei aber sofort mit den Worten, „Alles gut!“ verschwunden. Ich wusste sofort, wie kurz die Visite war. Meist stand der Motor des Wagens noch nicht still und schon war der Besuch beendet. Oft hatte ich während meiner Pflichtassistenz solche Extremvisiten erlebt. Ich hatte mir damals vorgenommen, niemals so zu arbeiten.

Es war tiefer Winter und es war sehr kalt. Meist ließ ich den Motor laufen um mich wenigstens im Auto aufwärmen zu können. Mein Vater hatte mir aus Moskau eine Heizmatte für den Fahrersitz mitgebracht. Somit hatte ich immer einen warmen Sitz. Ich durfte nur nicht vergessen, den Stecker zu ziehen, wenn der Motor nicht lief. Denn dann war die Batterie ruckzuck leer. Die Familie Schwade wohnte in einem Siedlungshaus. Eine Hälfte des Gebäudes war für Wohnzwecke hergerichtet in der anderen wohnte das Vieh. Die meisten Bewohner der Siedlung hatten Schweine, Hühner und Gänse oder Enten. Ziegen oder Schafe waren selten. Hier gab es nur eine Ziege. Und sie sollte nun Lämmer bekommen und irgendwie war die Geiß zwar recht rund, eher breit. Aber den ganzen Tag war kein Lamm zum Vorschein gekommen. Dies sollte ich nun ändern. Mit den Worten: „Sie sind ja so jung!“, wurde ich hereingebeten. Aber nicht in die rechte Haushälfte, wo die Stallungen waren, sondern in die Wohnhälfte. Etwas verwundert folgte ich, mit den Gummistiefeln an den Beinen, in die Wohnung. Ich wurde nicht aufgefordert, das Schuhwerk zu wechseln. Die Geiß stand in einem kleinen Zimmer. Der Teppich war ordentlich aufgerollt an die Seite gelegt. An der Decke leuchtet eine 200 Watt Birne. Das einzige Möbelstück im Raum war ein Stuhl. Auf dem saß Frau Schwade. Sie hatte eine löchrige Strickjacke an und füllte gut die Hälfte des Raums aus. Ihr Mann ein kleiner schlanker unrasierter Kerl in alten Arbeitssachen, stand in eine Ecke gequetscht im Raum. Ein oder zwei Kinder waren auch anwesend. Nun kam noch ich mit meinen Utensilien hinzu. Es wurde eng. Ich zog mich aus, wusch mir den linken Arm und begann meine Exkursion in den Unterleib der Ziege. Wie schon erwähnt, war ich damals noch nicht so erfahren im Umgang mit Mensch und Tier, so dass ich lange in der Gebärmutter der Ziege umhersuchte, um mir ein Urteil bilden zu können. Was ich fühlte war schrecklich und so wiederholte ich meine Exploration mehrmals. Was ich da fühlte oder besser vor meinem geistigen Auge sah, war unvorstellbar. Da, wo ich eigentlich den Uterus als großen hohlen Sack erwartete, war nichts. Nichts, war eigentlich falsch. Besser war, es war nicht das zu fühlen, was ich erwartet hatte. Statt ein, zwei oder gar drei Lämmern fühlte ich ein großes Loch. Mir kam es damals so vor als ob das Loch größer als die Ziege war. Dann konnte ich die Därme fühlen und zwar nicht die Därme der Lämmer. Nein es waren die Därme des Muttertieres. Ich konnte immer noch nicht begreifen, was ich hier fühlte also tastete ich mich weiter vor. Jetzt noch vorsichtiger. Ich ertastete die Nieren, den Pansen und die Bauchwand von innen. Erst nach längerem Suchen fühlte ich unten im Abdomen das einzige große Lamm. Es war tot. Oh je, das war ein aussichtsloser Fall. Es war unmöglich das tote Lamm über den natürlichen Geburtsweg zu entbinden. Auch war nicht auszumachen, was, außer der Uteruswand noch alles zerrissen war. Es gab nur die Möglichkeit, die Ziege Einzuschläfern oder zu schlachten. Andernfalls wäre sie an einer schweren Infektion im Bauchraum verstorben. Nun war es an mir, der versammelten Familie das Ende ihrer Ziege zu verkünden. Der Ziege, die nicht im Stall sondern im Zimmer im Haus war. Übrigens habe ich nie herausbekommen, ob dieser Aufenthaltsort der Ziege wegen mir oder der Ziege so exklusiv war. Ich zog meinen Arm aus dem Leib des Tieres und wusch mich. Meine Gedanken kreisten nur um die nun folgende Diskussion. Als ob ich neben mir stünde, hörte ich mich irgendetwas stammeln. Ich war mir sicher diese Uterusruptur nicht verursacht zuhaben, aber glaubte mir auch Frau Schwade? „Können sie mir das garantieren, was sie da sagen?“ Ich nickte betrübt und ging traurig nach hause. Am nächsten Tag stand Frau Schwade vor unserer Haustür. In der Hand hatte sie ein Päckchen. „Ich habe nicht geglaubt, dass sie Recht haben. Sie sind doch noch so jung!“ Dann drückte sie mir das Päckchen in die Hand und ging mit Tränen in den Augen weg. Das Fleisch war alles, was von der geliebten Ziege im Wohnzimmer übriggeblieben war.

Erna geht zu Fuss

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