Читать книгу Kehrtwende - Dirk Bierekoven - Страница 12
ОглавлениеEva Schulte
Der Dezember war ein einziger verschwommener Albtraum, dessen Tage nur gleichbleibende Einheiten meines Zerfalls waren, wild übereinandergestapelt. Mit anderen Worten, ich erinnere mich an so gut wie gar nichts. Die gesamtdeutsche Euphorie und Aufbruchsstimmung, alle Ängste, alle Hoffnungen, der Westen ... der heilige Westen, endlich war er da und ich hing in einer delirischen Endlosschleife und bekam von alldem nichts mit.
Der 24. Dezember.
Schatten von Erinnerungen.
Nicht Herr meiner Taten und Bewegungen, strauchelnd über die Straße, fiel ich hin, übergab mich und rollte mich auf einen Bahnsteig. Halb auf den Gleisen liegend und halb auf dem Bahnsteig sitzend sprach mich eine junge Frau an, zog mich hoch und setzte mich auf eine Bank, kurz bevor die Straßenbahn einfuhr.
Ich schaute ihr in die Augen und sah Mitleid, Angst und Ekel.
Kann man noch tiefer sinken?
Ja, kann man, denn es machte mir nichts aus.
Sie drehte sich um und ging und ich schaute ihr hinterher, gleichgültig wie ein Psychopath auf sein hilfloses Opfer, ohne Empathie oder Zweifel.
Ich war am Ende meines Weges angekommen, hatte die Grenzmauer meines persönlichen Schamgefühls längst durchbrochen und weit hinter mir zurückgelassen und lebte gut damit. Es war einfach, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Und so kraftlos, wie ich war, konnte ich mir eh nicht vorstellen, jemals den Weg zurückzufinden, und alleine schon zweimal nicht.
Ich saß noch lange auf der Bank und sah der jungen Frau hinterher, auch wenn sie längst in der nächsten Straße verschwunden war.
So sollte es nicht sein.
Ich wusste es, ich fühlte es, es nagte in mir, zuerst ganz tief unten, nur ein wenig, wie ein leichtes Jucken, doch je länger ich ihr nachschaute immer höher und störender.
So sollte es nicht sein.
Ich sollte so nicht sein.
Ich sollte keine jungen Frauen zum Mitleid zwingen.
Es nagte in mir.
Doch ich verdrängte es, vorerst, sagte mir, würde mich später damit beschäftigen und dann die Welt retten. Doch wem machte ich was vor? Raffte Kräfte zusammen und beschloss, den Geburtstag des Heilands mit einem Schnaps für jedes seiner wenigen Lebensjahre zu begießen.
Siebenundzwanzig?
Zog mich hoch und sah mich um nach dem kürzesten Weg zur nächsten Kneipe. Ein Polizist kreuzte meinen Blick und schaute. Neigte seinen Kopf, um mich zu mustern. Es wurde Zeit zu verschwinden. Ich torkelte in entgegengesetzter Richtung über den Platz, in die Littenstraße hinein. Blieb kurz stehen und sah nach dem Polizisten. Er folgte mir. Ich schlurfte weiter die Littenstraße runter bis zur Waisenstraße. An der Ecke schaute ich erneut, der Polizist war noch da. Ganz unverhohlen lief er mir nach. Ich hätte stehen bleiben und ihn zur Rede stellen können, ich hatte nichts verbrochen, außer am helllichten Tag sternhagelvoll durch die Stadt zu wanken. Doch ich hatte keine Lust, blöde Fragen zu beantworten, mich zu streiten und in der Ausnüchterung zu landen. Ich lief die Waisenstraße weiter bis zu einer Kneipe mit Namen „Zur letzten Instanz“.
Mann, ich schwöre bei meinem verschrumpelten, schwarzen Herzen, dass ich ausgerechnet diese Kneipe an diesem Tag aufsuchte, ließ mich, entgegen meiner sonstigen Überzeugung, für einen kurzen Moment tatsächlich an so etwas wie Schicksal glauben. Der Name war auf so vielen Ebenen gerade Programm. Und alleine des Namens willen hatte ich diese Kneipe seit Wochen umkurvt und gemieden. Jetzt aber erste Anlaufstelle, keine Zeit für Ängste oder Eitelkeiten.
Sah mich auf der Schwelle noch einmal um, der Polizist war weg.
Zweifelte kurz, ob er überhaupt je da gewesen war, dann:
Tür auf und hinein.
Nur drei Kerle waren zu sehen, inklusive Schankwirt.
Sie hockten zusammen gleich links an der Theke, stoppten kurz ihre Unterhaltung, um zu sehen, welch gottlose Gestalt sie an diesem heiligen Tag begleiten würde, und sprachen weiter.
Ich sah mir den Wirt genauer an. Kann nicht schaden zu wissen, wer einen später rauswerfen wird und ob sich wehren lohnt.
Würde es nicht.
Er war ein großer, massiger Kerl mit kahl rasiertem Schädel, tief einliegenden Augen und Händen so groß wie Bettpfannen. Er sah nicht aus wie ein Mann mit viel Humor, oder Geduld, also besser gleich verschwinden, wenn er´s sagt, und nicht prügeln!
Durch die kleinen gerahmten Fenster fiel kaum Tageslicht in den Ausschank. Im Halbdunkel erkannte ich gleich vor mir, am Ende des Raumes, einen riesigen grünen Kachelofen, weihnachtlich mit Tannenzweigen und einer Lichterkette geschmückt, in den eine kleine Sitzbank eingearbeitet war. Sicher urgemütlich für ein Paar. Rechts eine schwarze Wendeltreppe aus geschmiedetem Stahl, die wohl zu weiteren Räumlichkeiten im Obergeschoss führte. Und dahinter, zwei Stufen runter, ein Séparée, mit einigen wenigen Tischen. Die Wände waren ringsum mit dunklen Holzvertäfelungen beschlagen, welche den letzten sich durch Winkel und Ecken gekämpften Tageslichtstrahlen endgültig den Garaus machten. Ich blieb im Hauptraum. Ich wollte zwar alleine sein, aber im Séparée würde der Wirt mich wahrscheinlich vergessen und die Regelmäßigkeit des Nachschubs wäre sicher weitläufig unterbrochen worden. Vier einfache Holztische mit Stühlen standen da. Setzte mich an den hintersten Tisch mit nur einem Stuhl daran, wartete, dass der Wirt kurz schaute, und bestellte Bier und Schnaps. Glaubte, hinter dem bunten Fenster gleich neben mir aus den Augenwinkeln das Gesicht des Polizisten kurz gesehen zu haben, tat es aber als Verfolgungswahn ab.
Puhdys aus der Musikbox, klar, was sonst.
„Kleiner Planet“
Scheiße, das brachte mich jetzt wirklich fast zum Kotzen. Geht´s ein bisschen weniger pathetisch? Zum Glück hatte ich nur die letzten Takte zu ertragen.
Aber was dann kam, haute mich um. Klänge, die so gar nicht in diesen Schuppen passten. Verdammt rockig, richtig gut. Ich bin ehrlich kein Rock-Fan, aber das hatte etwas. Gutes Timing, gute Geschwindigkeit, guter Sound. Dreckig und einfach heraus, mit einer überraschenden Steigerung, wirklich gut.
Bis der Gesang begann.
Heiland, wieder die Puhdys. Wie hieß das Stück?
„Neue Helden!“
Jesus bewahre.
Da saß ich dann, auf einem harten Holzstuhl, zur letzten Instanz. Meine Arme verschränkt auf dem klebrigen, stinkenden Tisch vor mir und den Kopf darauf abgelegt. Ein volles Bier und ein voller Schnaps gleich neben mir. Unfähig, eines davon zu heben und zu trinken. Ich driftete weg.
Meine rechte Arschbacke schlief ein, so lange saß ich dort reglos, und als die Taubheit unerträglich wurde und langsam zu schmerzen begann und ich mich gerade dazu entschlossen hatte, mal mein Gewicht zu verlagern, da geschah es: mein Weihnachtswunder!
Ich hörte eine Stimme über mir, die sprach.
Eine weibliche Stimme, zart und weich, und sie sagte:
„Mein Gott, sind Sie das, Mulder? Ist ja widerlich!“
Ich war wirklich fest entschlossen, meinen Kopf unten zu halten und nicht zu schauen, wer mich da mit diesen treffenden Worten erkannte. Ich hegte, nicht unglücklich dabei, kurz den Gedanken, es sei vielleicht ein Engel, der da sprach, und der die Anweisung bekommen hatte, mich auf meinem letzten Weg zu begleiten, dem dann allerdings schlagartig klar wurde, dass er irgendwann, irgendwo, irgendwie einmal verdammten Mist gebaut haben musste.
Doch dann wurde, laut schlurfend, ein Stuhl von einem anderen Tisch an meinen herangezogen und zweifellos setzte sich jemand gleich mir gegenüber.
Ich schnellte hoch und war nicht weniger überrascht, als hätte der heilige Bimbam persönlich vor mir gesessen.
Eine Frau in den Fünfzigern.
Schwarzes, glattes, volles Haar.
Topgepflegt.
Weißer Teint, rote Lippen, perfekt geschminkt, streifte ihren Pelzmantel von den Schultern auf die Rückenlehne ihres Stuhles. Und unter dem Pelzmantel ein stilvoller schwarzer Blazer mit weißer Bluse darunter. Die oberen zwei Knöpfe geöffnet. Dazu passend einen kurzen schwarzen Rock. Sie sah aus, als wäre diese Garderobe für sie erfunden worden.
Ihr Haar war gewellt und offen auf den Schultern liegend.
Schwarze Nylonstrümpfe in schwarzen Hochhackigen.
Es kribbelte im Sack, und das kam nicht von der Arschbacke.
Hatte ich lange nicht mehr.
Sie war umwerfend.
Sie war ... beängstigend.
Nicht beängstigend schön, eher beängstigend beängstigend.
Es war in ihren Augen gewesen. Eine Kälte, die durch ihren ersten Blick huschte, als ich hochgeschnellt war und sie unvermittelt angesehen hatte, die aber sofort wieder verschwand, als sie sich gefasst hatte. Aber sie war da gewesen und ich hatte sie gesehen und sie hielt mich fest und aufmerksam, soweit mein Zustand das zuließ.
Ich kannte sie, mir wollte nur zum Verrecken nicht einfallen, woher.
Mann, ich war echt im Arsch.
Wenn du eine Sache als Bulle benötigst, dann ist es ein gutes Gedächtnis und ich verlor meines gerade.
Sie sprach: „Sie erinnern sich an mich?“
Ich konnte sie bloß anschauen.
Sie sprach wieder: „Mann, Sie sind wirklich kaputt.“
Sag ich ja!
„Ich habe Sie gesucht, schon eine ganze Weile. Ich war bei Ihnen zu Hause.“
Sie wusste, wo ich wohne?
„Da waren Sie nicht, zumindest nicht, wenn ich da war. Wann waren Sie das letzte Mal zu Hause, haben geduscht, etwas gegessen?“
Ich hatte verdammt noch mal keine Ahnung.
Gestern?
Heute Morgen?
Wie spät war es?
Ich schaute aus dem Fenster und sah Zwielicht. Es war Dezember, also noch recht früh am Abend.
Sie schnipste mit ihrem Mittelfinger und Daumen vor meiner Nase.
„Sind Sie hier, Mulder?“
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und bekam langsam Panik.
Schlief ich?
Träumte ich?
Verdammt, wer war sie?
„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“, fuhr sie fort. „Ich suche Sie schon seit einer Weile. Ich war in jeder Spelunke zwischen hier und Köpenick, unfassbar, wie viele kaputte Leute es gibt, war das schon immer so? Kein Wunder, dass das Land vor die Hunde gegangen ist, und unglaublich, wie viele von den kaputten Typen sagen, dass sie Sie kennen.“
Sie sah mich an und wartete offensichtlich auf eine Reaktion von mir, nur auf welche? Hatte sie einen Scherz gemacht, den ich verpasst hatte?
„Okay“, fuhr sie fort, „mein Name ist Eva Schulte“, und sah mich an.
Ich begriff immer noch nicht.
Sie seufzte, offensichtlich genervt davon, dass es nicht gleich „klick“ bei mir gemacht hatte.
„Ich bin Max Schultes Mutter. Wir sind uns schon begegnet, drei-, viermal, auf der Polizeiwache, und Sie waren bei uns zu Hause, können Sie sich erinnern?“
Ich schwöre beim Jesuskindlein: Was dieser Satz in mir auslöste, hatte ich nie zuvor für möglich gehalten. Es war, als würde ein Männlein in meinem Hirn den Außenborder anschmeißen, dreimal dran gezogen, stotter, stotter, stotter und ich war da.
Selbstverständlich, Max Schultes Mutter.
Das war verdammt noch mal Max Schultes Mutter, die da vor mir saß.
Ich lächelte sie an, freute mich für einen Moment aufrichtig, sie zu sehen, ein Gesicht aus besseren Zeiten. Hob meinen Zeigefinger, deutete auf sie und krächzte: „Ja!“ Zu mehr war ich zunächst nicht fähig, meine Hirn-Sprech-Synapsen waren noch betäubt.
Sie lächelte und nickte im Takt zu meinem Finger, wie man es mit Bekloppten macht.
Sie hatte mich gesucht. Wie hatte sie mich gefunden? Und was zum Henker wollte sie von mir? Ich ließ meinen Finger sinken, und nuschelte; „Was zum Henker wollen Sie von mir?“
Ihr Lächeln verschwand und sie antwortete.
„Ich suche Sie jetzt seit fast zwei Wochen. In jeder Kneipe, in der ich war, gab es zwar immer mindestens einen kaputten Typen, der Sie zwar kannte, der mir aber maximal nur eine weitere Kneipe nennen konnte, in der ich Sie vielleicht finden würde. Die Kneipen wurden immer schäbiger und die Typen immer verschlossener. Also öffnete ich weitere Kanäle, um Sie zu finden, und lande schließlich hier.“ Sie schaute sich um, verzog leicht ihren Mund und den Ekel nahm ich ihr echt ab.
Ich erinnerte mich an den Polizisten, der mir gefolgt war. Ist er einer ihrer weiteren Kanäle? Wahrscheinlich.
Ich sagte: „Nur Typen, keine einzige Frau?“
„Was?“
„Es waren immer nur Typen, die mich kannten, keine einzige Frau?“
Sie verstand mich nicht.
„Das ist aber frustrierend“, sagte ich.
Der Wirt kam und fragte nach ihrem Wunsch. Sie bestellte Kaffee und er sah mich so an.
Ich zuckte mit den Schultern und wir beide wussten, zum Verrecken würde sie den nicht trinken.
Er ging.
Drei Augenzwinkern später war er wieder da mit dem Kaffee.
Konnte unmöglich für den Kaffee sprechen.
Sie fuhr fort und begann mir einen Vortrag darüber zu halten, was sich alles in unserem Leben nun ändern würde, da die Mauer gefallen war. Dass wir doch alle jetzt im selben Boot sitzen würden und auf irgendeine vollkommen schräge Art zusammenhalten müssten.
Ich verstand kein Wort.
Max Schultes Mutter saß vor mir und erzählte mir was vom Goldenen Kalb. Ich konnte ihr nicht folgen und in meinem Kopf drehte sich alles.
Was wollte diese Frau von mir, hier und jetzt?
Und sie redete immer weiter, bis ich endgültig ganz abschaltete. Weder wollte ich weiter zuhören, noch konnte ich.
Das Bier auf dem Tisch, mittlerweile schal und schaumlos, traurig anzusehen.
Der Schnaps, ebenfalls unberührt, in einem kleinen, trüben Tulpenglas.
Beide standen sie da und warteten mit Hundeaugen auf ihren Einsatz, doch ich schaute sie nur an und bewegte mich nicht. In dem klaren Schnaps spiegelten sich die Augen des Mädchens der Bahnhaltestelle wider und ich schämte mich noch immer.
Erleichtert stellte ich fest, das Entsetzen des Mädchens, es machte mir sehr wohl etwas aus. Und ich beschloss, es zu ändern.
So sollte es nicht sein.
Hier würde sie enden, meine Selbstzerstörung, zumindest die schnelle Variante würde hier und jetzt enden.
Ich sah die beiden Lieblichen an.
Das eine groß und blond mit feinen Perlen auf der Haut und das andere kühl und klar, und alles in mir schrie; „Nimm sie dir!“ Doch ich ließ es sein.
Hier und jetzt war Ende.
Ich musste an Frida denken.
Aus einem anderen Leben, einer anderen Zeit, so weit weg wie der Mars, aber ebenso immer da und in meinen Gedanken.
Mai ´66 bis Oktober ´66.
Ich habe vorher und nachher auch geliebt, aber Frida in diesem Sommer, sie hatte mein Leben verändert und auf ewig ein brandmark in meinem Hippocampus hinterlassen.
Vom Jungen zum Mann: So war das, das hatte sie aus mir geformt. Es war die Zeit nach der Schule und vor dem Studium. Ein ganzer Sommer und das erste Mal überhaupt frei. Ohne Eltern, ohne Verpflichtung und ohne Zwang. Sorglos, wie es nur die Jugend zulässt. Sie und ich und ein paar Freunde, am Meer. Kein Geld, vier Zelte und Ängste unbekannt. Und sie, Frida, war so voll mit Leben, pure Leidenschaft und einschüchternd klug.
Sie war Esmeralda und ich der Bucklige.
Sie war wunderschön, neunzehn Jahre jung, bronzene, samtweiche Haut, kurz geschnittene schwarze Haare, braune Augen, kleine, feste Brüste und einen makellosen runden Po.
Ich war ihr vollkommen verfallen.
Sie trat in mein Leben und entschied, da zu bleiben.
Es gab keine Zweifel in ihrer Welt, keine Furcht, keine schlechte Erfahrung trübte ihre Sicht. Sie kam aus gutem Hause, wohlbehütet und machtvoll. Sie war eine pure, klare Seele, so wie es sein sollte. So wie wir es vielleicht alle gewesen wären, wären wir alle in ihrer Welt aufgewachsen. Neugierig, schlau und mutig, die perfekte Kombination für den Start in das Leben.
Und sie verschwand aus meinem Leben so schnell, wie sie eingetreten war.
Sechs Monate, in denen sie meine Welt komplett auf den Kopf gestellt hatte. Nie mehr wieder hatte ich in so kurzer Zeit so viel gelernt. Nie mehr wieder habe ich einen Menschen getroffen, der so unbefleckt und rein war. Ich hatte sie nie vergessen, auch später nicht, als Charlotte noch da war.
Dieser Sommer und Frida, das war die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Nie zuvor und nie mehr danach habe ich mich so frei und gedankenlos gefühlt.
Und dieses Mädchen an der Bahnhaltestelle, sie war Frida, die Frida von damals – und ich, ich war ich.
Heute.
Zweiundvierzig Jahre. Alkoholiker und Verlierer. Und sie hatte Angst vor mir und ekelte sich. Was hatte ich wohl in ihr zerstört? Welche Selbstverständlichkeit in Frage gestellt? Ich fühlte mich hundeelend.
Eva Schulte schnippte wieder mit ihrem Mittelfinger und Daumen vor meiner Nase.
„Hey, Mulder! Sind Sie hier? Hören Sie mir überhaupt zu?“
Am liebsten hätte ich ihr ihre Finger gebrochen. Wer macht denn so etwas, mit den Fingern vor der Nase rumschnippen?
Und das gleich zweimal!
„Kommen Sie zur Sache“, nuschelte ich, während ich mir meinen Nacken massierte und versuchte, mich zu konzentrieren. „Was wollen Sie?“
Sie seufzte übertrieben genervt, sah mich wütend an, offensichtlich sauer, dass sie ihre zurechtgelegten Sätze nicht vollenden konnte, und fuhr fort: „Nun gut, keine Umschweife, ich verstehe.“
Wird Zeit, Schätzchen, dachte ich mir, nahm das Bier in die Hand, überlegte kurz und stellte es zurück.
„Wie ich gehört habe, sind Sie ein vortrefflicher Polizist geworden, nachdem man Sie ...“ Sie stockte.
Ich sah ihr scharf in die Augen.
„… ääh, nachdem Sie eine neue Karriere begonnen haben.“
Gut gerettet.
„Nun, ich bin hier, um Sie zu engagieren, also vorausgesetzt, Sie sehen sich überhaupt in der Lage zu arbeiten. Was meinen Sie?“
Doch ich verstand zunächst nicht.
„Was meine ich wozu?“ fragte ich.
„Wozu?“, fragte sie zurück. „Herrje. Hören Sie mir überhaupt zu? Dazu, dass ich Sie engagieren möchte. Sie sollen für mich arbeiten.“
Ich schnallte es immer noch nicht.
„Entschuldigung“, antwortete ich, „aber ich verstehe nicht.“
„Was verstehen Sie denn daran nicht? Also ehrlich, Mulder, ich mache mir langsam Sorgen, ob Sie überhaupt der richtige Mann für mich sind. Also gut, jetzt noch einmal für Blöde", sagte sie, verdrehte kurz ihre Augen, kam noch ein Stück näher heran, blickte mich direkt an und fuhr fort: „Ich möchte, dass Sie sich jetzt konzentrieren, Ihren Hintern hochkriegen, nüchtern werden und dann für mich den Mörder meines Sohnes finden!“
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Dauerte ne Weile, bis es bei mir ankam und dann:
Poff! Wie ein Tiefschlag in die Magengrube.
„Sie wollen, verdammte Scheiße, bitte schön was?!“, blaffte ich und lachte hysterisch auf.
Sie schreckte leicht zurück.
Der Barmann und die zwei Gestalten schauten auf, aber das interessierte mich nicht.
Ich schnappte nach Luft. Rang nach den richtigen Worten. Nahm meinen Kopf zwischen die Hände und versuchte, mir klar zu werden, ob ich möglicherweise doch träumte.
„Mann, jetzt beruhigen Sie sich wieder, alle schauen bereits her.“ Sie packte mich beim Arm und ich schreckte zurück.
Ich schaute an die Theke. Die drei Affen gafften mich an. In den Augen des Wirtes konnte ich lesen, dass er mit sich rang, ob er eingreifen müsse.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um zu verstehen, was hier gerade passierte. Ich sah Eva Schulte an und hoffte, in ihrem Gesicht eine Antwort zu finden. Vermochte ich aber nicht. Sie war ganz ruhig.
„Wollen Sie mich fertigmachen?“, fragte ich dann. „Dafür hätten Sie den langen Weg nicht auf sich nehmen müssen, das bekomme ich schon gut alleine hin.“
„Beruhigen Sie sich bitte“, wiederholte sie, „es ist alles gut. Ich verstehe, dass Sie verwirrt sind. Vielleicht trinken sie erst einmal einen Kaffee.“ Sie winkte zum Wirt und rief: „Noch einen Kaffee bitte“, und drehte sich wieder um, starrte mir ernst in die Augen und sah ehrlich betroffen aus. Sie schaute mich an, wie sie wahrscheinlich einen Verrückten ansehen würde. Ein bisschen mit Bedauern, ein wenig ängstlich.
Der Wirt kam mit dem Kaffee, knallte ihn vor mir auf den Tisch, blickte mich schief an, und schlich sich wieder.
Unvorsichtigerweise nahm ich einen Schluck und musste würgen.
Sie glaubte wohl, ich hätte mich nur verschluckt, und tätschelte meine Hand.
„Geht es wieder?“, fragte sie.
Ich war mir nicht sicher, was ich antworten sollte – oder wollte.
Mann, ich war echt verwirrt.
„Also, so wie ich das sehe, Mulder, sind Sie ja wohl ziemlich am tiefsten Punkt angekommen.“
Ich war mir nicht sicher, ob das so war, ich hatte das Gefühl, da ging noch was. Aber ich musste eingestehen, für sie wird es wohl so ausgesehen haben.
„Ich verschaffe Ihnen einen Neustart. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Ich gebe Ihnen eine Aufgabe und bezahle Sie dafür hiermit.“ Und schob einen Umschlag über den Tisch. Ich ließ ihn liegen, öffnete ihn nur mit Daumen und Zeigefinger und sah Geld.
Westmark.
Hundertmarkscheine.
Ich brauchte nicht zu zählen, es war eine verdammte Menge an Geld.
„Ich schätze, das können Sie über kurz oder lang gut gebrauchen. Sie sind suspendiert. Schauen Sie nicht so überrascht, natürlich weiß ich das. Also, Sie sind suspendiert und haben keine Ahnung, wie es mit Ihnen weitergehen wird. Sie haben einen Oberst des Staatssicherheitsdienstes angegriffen. Glauben Sie ernsthaft Sie werden hier je wieder als Polizist arbeiten dürfen? Nehmen wir mal an, und ich spekuliere jetzt nur mal so, ohne wirklich etwas zu wissen ...“, zog die linke Augenbraue hoch und ließ mich, damit Rätsel raten, wie viel sie wirklich wusste, „… nehmen wir mal an, die BRD und die DDR werden zu einem großen Deutschland wiedervereint. Glauben Sie, dass dort für einen versoffenen Ex-Polizisten aus dem „besiegten“ Osten, der zu Wutausbrüchen neigt, Platz sein wird?“ Sie lehnte ihren hübschen Kopf leicht zur Seite und sah mich mit fragenden Augen an.
Mir wurde mulmig.
Nicht, dass sie mir Neues erzählte, aber es ausgesprochen aus dem Mund eines Zweiten zu hören, war dann doch noch mal etwas anderes.
Sie fuhr fort: „Nehmen Sie das Geld, Mulder. Es verschafft Ihnen Zeit. Und wenn Sie zu meiner Zufriedenheit arbeiten, gibt es noch einmal so viel, das sollte Ihnen erst einmal weiterhelfen.“
Ich sah auf den prall gefüllten Umschlag hinab. Sie verstand das fälschlicherweise als unentschlossenes Zögern und schob deswegen schnell nach: „Hören Sie, Mulder, es ist doch unverkennbar, dass Sie völlig orientierungslos sind. Ich glaube, eine neue Aufgabe könnte Ihnen helfen, Ihren Weg wiederzufinden und einen klaren Kopf zu bekommen.“
Und damit traf sie einen blitzeblanken Nerv.
Eine neue Aufgabe, und das auf meinem Spezialgebiet, davon hatte ich nicht einmal zu träumen gewagt und ich fühlte, wie allein der Gedanke daran meinen Panzer langsam von innen heraus zum Schmelzen brachte und meine Lebensgeister erregte. Das Geld konnte sich sehen lassen und würde mir Zeit verschaffen, meine Scheiße auf die Kette zu bekommen.
Ein wirklich unmoralisches Angebot.
Doch ich konnte nicht verdrängen, um wen es sich hier handelte. Max Schulte! Warum wollte sie den Mörder ihres Sohnes finden? Mit Sicherheit, um Rache zu nehmen, und hierbei konnte ich unmöglich Pate spielen. Und das wollte ich auch nicht. Ich war dankbar, dass Schulte tot war. Ich begrüßte, wie Schulte umgekommen war – erstochen, bestialisch, und nicht von einem Bus überfahren, bumm und aus. Ich spürte, wie jeder weitere Gedanke mich innerlich wieder erkalten ließ, und das machte mir Angst, doch ich konnte das nicht so einfach tun.
„Warum? Warum wollen Sie, dass ich den Mörder Ihres Sohnes finde? Wollen Sie Rache, das kann nicht Ihr Ernst sein. Ihnen muss doch klar sein, dass mir der Tod Ihres Sohnes nicht nur einfach am Arsch vorbeigeht, sondern eine extreme, äußerst tiefgründige Befriedigung ist.“
Mann, war die danach angepisst. Doch sie sammelte sich schnell. Bedenklich schnell. Keine Ohrfeige, kein Bier landete in meinem Gesicht. Sie schluckte meine Äußerung wie einen Klumpen verfaultes Fleisch herunter, was mir zeigte, wie verzweifelt sie mich brauchte. Nur wofür wirklich? Sie schüttelte sich und fuhr fort.
„Mir ist klar, was Sie denken und wie Sie über meinen Sohn und seinen ...“, hier stockte sie kurz, zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen, Mann, sie war wirklich gut, „... seinen Tod denken. Aber versetzen Sie sich mal in meine Lage. Nach allem, was passiert ist, komme ich ausgerechnet zu Ihnen, um nach Hilfe zu bitten. Denken Sie ernsthaft, dass mir das leichtfiel? Glauben Sie, dass ich nicht tausend Alternativen vorher durchgegangen bin, bevor ich mich dazu entschloss, diesen Gang zu leisten? Glauben Sie, ich hatte keine Angst? Aber trotzdem bin ich hier, und zwar nur weil ich weiß, dass Sie gut sind, wahrscheinlich sogar der Beste. Und ich will den Besten hierfür. Und wen sollte ich sonst auch fragen? Die Polizei ist zurzeit viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
Während sie sprach, blickte sie durchgehend auf das Taschentuch in ihren Händen, an dem sie rumzupfte. Dann sah sie auf und sagte: „Ich bin nicht wegen Rache hier, Mulder. Ich möchte, dass Sie verstehen, und ich möchte Ihnen nichts vormachen.“
Daraufhin traten ihr Tränen in die Augen, doch mich ließ das immer noch völlig kalt. Sie hatte früher schon gelogen, perfekt gelogen. Polizisten und Anwälten glatt ins Gesicht gelogen, ohne Skrupel, eiskalt, ohne einen leisesten Zweifel in Stimme oder Gestik erkennen zu lassen, vorgetragen und bis zum Ende durchdacht, durchgezogen. Die Frau wusste genau, was sie wann zu tun hatte.
Sie trocknete ihre Augen, räusperte sich, setzte sich wieder aufrecht hin und fuhr fort:
„Nichts, wirklich nichts auf dieser Welt schmerzt so sehr wie der Verlust des eigenen Kindes. Sie haben keine Kinder, Sie können das nicht verstehen, man kann jemandem, der keine Kinder hat, nicht erklären, was es bedeutet, Kinder zu haben. Keine Liebe ist vergleichbar. Keine Liebe ist so existentiell, so wahr und unzerrüttbar, so unantastbar und einzigartig und so unzweifelhaft auf ewig. Und diese Liebe ist zeitlebens an ein Versprechen geknüpft – das Versprechen, alles Frauenmögliche dafür zu tun, dass dem eigenen Kind nichts Böses widerfährt.“
Sie schnäuzte sich die Nase und ich dachte: Das klingt ja alles ganz rührend, hilft mir aber nicht. Alles, was du sagst, ist ein Plädoyer dafür, warum ich dir auf keinen Fall helfen sollte. Alles, was du sagst, schreit nach Rache.
Sie fuhr fort und ich hielt still. Wollte hören, wo das noch hinführte, denn tief in mir wusste ich, ich brauchte diese Chance. So kaputt war ich.
Sie steckte das Taschentuch in ihren Ärmel zurück und sprach leise weiter.
„Ich habe nicht auf ihn aufgepasst, wie ich das, hätte tun sollen. Ich habe ihn im Stich gelassen und das Mulder, wird mich mein Leben lang nicht mehr loslassen. Ich werde nie wieder unbeschwert leben können. Ich stehe morgens mit dem Gedanken auf und gehe abends mit ihm ins Bett. Ich träume von und mit ihm und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Ich brauche einen Grund für seinen Tod. Einen Grund, mit dem ich leben kann. Ein Schicksal, das mir hilft zu verstehen, warum er getötet wurde, vielleicht, nur vielleicht, wird mir das ja helfen, ein wenig Seelenfrieden zu finden, wenn ich einen klaren Grund dafür bekommen kann, warum jemand zur Mörderei getrieben wurde und warum mein Sohn das verdient hat.“
Sie sah mich an, doch ich sagte nichts, ließ keine Wimper zucken. Das reichte mir noch nicht.
„Sehen Sie, Mulder“, fuhr sie fort, „versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um meinen Sohn handelt. Versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um mich handelt. Sie sollen mir keinen Gefallen tun. Sehen Sie das Ganze zuerst einmal als einen Job an, den Sie zu erledigen haben, einen Job, der gut bezahlt wird. Und Sie sollen jemanden retten. Den Täter. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt. Das war kein Profikiller, Mulder, das glaube ich nicht. Ich glaube, er ist ein Getriebener, der jetzt da draußen rumläuft, alleine, ängstlich, verzweifelt, und Hilfe braucht. Ich möchte, dass Sie ihm helfen und ihn finden, bevor es jemand anderes tut.“ Sie nahm meine Hand. „Ernsthaft, Mulder, ich will nur mit ihm reden.“ Sie sah mich mit großen Augen an.
Verdammt, jetzt hatte sie mich.
Glaubte ich den Schmu?
Einen Scheiß tat ich.
Aber ich glaubte, dass der Täter dringend Hilfe benötigte, ganz dringend, sonst waren seine Stündlein gezählt. Die Tat war nicht gut geplant, eher hektisch und kurzfristig ausgeführt. Der Ort war schlecht gewählt und er hatte pures Glück gehabt, dass ihn keiner gesehen oder überrascht hatte. Das wirre und ungezielte Einstechen auf den Körper sprach eindeutig mehr für einen emotionalen Wutabbau als für ein gezieltes Töten.
Das war kein Profi gewesen.
Und das war mein Aufhänger. Damit konnte ich die Scham übertünchen. Ich rette diese arme, verirrte Seele und beschütze den Attentäter vor sich selber, der Polizei und vor Eva Schulte, denn das würde ich auf keinen Fall tun – ihn ihr ausliefern. Sollte sie doch verrecken mit ihren verkackten Schuldgefühlen und ihrer beschissenen Trauer. Sollte sie doch ihr verdammtes Leben lang kein Auge mehr schließen, das war mir scheißegal. Sie hatte es verdient. Ich wollte nicht wissen, wie viele Menschen wegen ihrer Sippe nicht schlafen konnten und immer noch nicht können. Ich hatte diesen armen Kerl zu retten. Ich spürte, wie es im Magen zu kribbeln und meine Schale weiter zu schmelzen begann. Das war perfekt. Es fügte sich perfekt ineinander. Eine vollkommen unerwartete Wendung, mit der ich in hundert Jahren nicht gerechnet hätte und die all meine Sorgen, Ängste und momentanen Unzulänglichkeiten auf einen Schlag ad acta legen würde.
Es war perfekt.
So weit der Plan.
Meine Euphorie revitalisierte meine Kräfte.
Ich würde alles wieder unter Kontrolle bringen.
Das Adrenalin bahnte sich seine Wege und ich konnte dies kaum verstecken. Ich versuchte es, sagte kein Wort und ließ sie scheinbar zappeln, aber ich war so aufgeregt, das musste sie spüren, das war nicht anders möglich.
Sie stand auf, zog ihren Mantel an, schmiss zehn Westmark auf den Tisch, nahm ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Handtasche und kritzelte etwas auf den Zettel. Hielt ihn mir hin und sagte:
„Überlegen Sie es sich, Mulder. Ich gebe Ihnen zwei Tage Zeit. Hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben.“
Sie sah auf den Umschlag und fuhr fort: „Behalten Sie das Geld, egal wie Sie sich entscheiden.“
Sie blieb weiter stehen und sah mich an. Sie wollte noch etwas loswerden, wusste aber offensichtlich nicht, wie, bis sie wieder ansetzte.
„Es tut mir leid, was Ihnen zugestoßen ist, Herr Mulder ...,“
– Herr Mulder? –
„... es tut mir leid, dass wir an Ihrer Situation mit Schuld tragen. Aber bitte versuchen Sie es für den Moment zu vergessen und helfen Sie einer verlorenen Seele.“
Dann drehte sie sich um und verschwand durch die Tür in den kalten, dunklen Abend.
Für mich war die Sache längst klar. Ich hatte meinen Anker gefunden und würde ihn werfen.
Von neuem Mut erfüllt, nahm ich den kurzen Klaren und schmiss ihn hinter die Binde. Löschte mit dem hellen Braunen und orderte nach.
Morgen würde ich beginnen.
Gleich morgen früh würde ich mich der Sache annehmen.