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Ben Mulder

Wenn die Nacht schon so richtig übel war, kann der Morgen danach einfach nicht besser sein.

Es gibt Nächte, die Heilung bringen, und, geknüpft an deren Morgen, der Abend zuvor wunderschön und keine Verschwendung war.

Doch so ein Morgen war dieser Morgen nicht. Keine Heilung. Kein wunderschöner Abend. Nichts zum Schönreden. Nur Schmerzen, Übelkeit und Reue.

Wenn ich trinke, schlafe ich mies. Das ist einfach so. Zuerst falle ich in eine Art Koma. Doch irgendwann in der Nacht wache ich auf, gequält von Müdigkeit und den Folgen des Alkoholkonsums. Kämpfe mit dem Kater, gegen das Kotzen und mein Herz legt Doppelschichten ein, um mich rein zu waschen. Ich spüre den Pulsschlag in jeder kleinsten Ecke meines Körpers.

Es ist die Hölle.

Jedes Mal.

Wenn ich mit der Nacht durch bin und der Morgen sich gnädig zeigt, pelle ich mich aus dem Bett, dankbar, dass es vorüber ist, und zugleich fluchend, dass keine weitere Zeit für Erholung bleibt. Meine ersten Gedanken sind dann nicht „Nie wieder", diesen Selbstbetrug habe ich schon lange aufgegeben. Nein, die ersten Verknüpfungen kümmern sich darum, wie ich den Tag bis zum Abend ordentlich hinter mich bringen kann. Denn die Erfahrung sagt mir, ab Mittag wird es noch mal richtig schlimm. Dann kommt der Einbruch und die Übelkeit, Hand in Hand mit einer hinterhältigen Müdigkeit, wie dunkle Schatten in eine schmale Häusergasse, und mit ihnen die folgenschwere Entscheidung, die Qualen wie ein Mann auszutragen oder eben mit Alkohol und Tabletten zu überbrücken, um am nächsten Tag von vorne zu beginnen.

Raten Sie mal, wie das ausgeht.

Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf und beginne den Tag pünktlich, und wissen Sie, warum? Weil ich meine Arbeit liebe und das bisschen Selbstachtung, welches ich noch besitze, mir klar vor Augen führt, dass dies der einzige Grund ist, um nicht komplett im Delirium zu verschwinden.

Ich bin Polizist.

Mit Leib und Seele.

Morduntersuchungskommission Ostberlin. Oder kurz: MUK.

Das war ich nicht immer. Ich stand auch schon mal ein paar Stufen höher auf der Leiter der Befehlskette, aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht für später.

Jedenfalls quälte ich mich auch an diesem Morgen mit krampfendem Magen und schmerzenden Beinen aus dem Bett.

Im Nachhinein sei gesagt, dass ich mir das an diesem Tag ausnahmsweise einmal hätte sparen sollen. Es war eine folgenschwere Entscheidung, die ich traf, aber das konnte ich natürlich noch nicht wissen.

Also stolperte ich quer durch meine Wohnung bis ins Badezimmer. Fluchend über mein verdammtes Pflichtbewusstsein fiel ich dort vor der Schüssel auf die Knie, um sie ordentlich anzubrüllen. Einer hatte es schließlich auszubaden.

Meinen ganzen verdammten Frust der versoffenen letzten zwei Tage brüllte ich ihr entgegen und als ich fertig war mit Brüllen, setzte ich mich neben sie, erschöpft und leer, schaute durch das runde Dachfenster in den Himmel und sah die Sonne durch einen kleinen Riss im tiefen Grau kurz in mein Bad hineinkieken. Es war wunderschön. Ich mag Wolkenspiele und Weitblick. Deshalb lebe ich in einer Dachwohnung.

Eine heiße Dusche ist so eine Art schwereloser Raum für Befindlichkeiten. Alles, was sich unter ihr abspielt – wie gut man sich auch immer fühlt – es zählt nicht für außerhalb. Sie täuscht über die Tatsachen hinweg wie eine magische Käseglocke und es ist wichtig, das zu wissen, dann ist die Enttäuschung später nicht so groß, wenn man merkt, dass man sich doch noch so richtig kacke fühlt und der Tag noch eine Ewigkeit dauern wird.

Ich drehte die Dusche auf heiß, so richtig heiß, stieg hinein, stützte mich an der Wand ab und pinkelte. Hab mal gelesen, das würde Wasser sparen, und ja, warum eigentlich nicht.

Ich blieb unter der Dusche, bis mein Kreislauf stotterte.

Stieg aus der Dusche und stellte mich dampfend vor das Waschbecken. Die Zahnbürste in der rechten Hand haltend, schaute ich auf meine neblige Silhouette im beschlagenen Spiegel. Hob langsam die linke Hand, um die Feuchtigkeit vom Spiegel zu wischen, stockte kurz, denn ich wusste, dass mir nicht gefallen würde, was ich gleich sah. Presste dann meine platte Hand auf den Spiegel und zog sie quer hinüber.

Und ja, Volltreffer.

Diese Ränder ...

Die Falten sind mir egal. Auch mit den feinen geplatzten Äderchen auf meiner Nase und den Wangen kann ich leben. Rote Augen, die werden bald wieder weiß sein. Aber die Ränder unter meinen Augen, die werden bleiben und jeder wird sie sehen. Und jeder wird denken, wie übel ich aussehe. Und ich hasse das. Ich will nicht, dass irgendjemand glaubt, mir ginge es nicht gut. Ich will nicht, dass sich irgendjemand überhaupt Gedanken darüber macht, wie es mir geht.

Damit kann ich so gar nicht mit umgehen: eigene Schwächen!

Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel, die Narbe über dem rechten Auge. Ich konnte mich schon lange nicht mehr daran erinnern, wie ich ohne ausgesehen hatte.

Seit Tagen nicht rasiert und ich hätte fast alles an diesem Morgen lieber getan, als mich zu rasieren.

Also ließ ich es sein.

Freute mich stattdessen auf die Sprüche im Büro und beschloss einfach, dass ich heute Morgen nicht zum Chef gerufen werden würde.

Ich ging näher an den Spiegel heran und suchte in meinem grauen Haar nach meiner eigentlichen Haarfarbe, schwarz. Hier und da noch zu entdecken, aber im Gesamtbild nicht mehr zu erkennen.

Ich war alt. Aber das scherte mich nicht. Solche Eitelkeiten waren mir schon vor langer Zeit abhandengekommen. Ich hatte andere.

Jeans, schwarzer Rollkragenpullover und ab in die Küche, die zwar sehr klein war, aber ich fand sie urgemütlich. Links Kühlschrank, Gasherd und Spüle, rechts ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und geradeaus eine Glastür mit schmaler Terrasse dahinter.

Zwei Tassen ganz starker Kaffee mit reichlich Zucker, dazu zwei Titretta im Wasserglas und Bisoprolol in fast vorgeschriebener Menge. So langsam kam ich in Tritt.

Schwarze Lederjacke, schwarze Lederstiefel, einen Toast mit Marmelade auf die Hand, so schlug ich die Eingangstür hinter mir zu und stieg die ausgetretenen und quietschenden Holztreppenstufen der Haustreppe von meiner Dachwohnung bis runter auf die Straße.

Dietrich-Bonhoeffer-Straße 14

Im Eingangsbereich blieb ich kurz stehen.

Toast war weg, Zeit für eine Kippe.

Ich kramte in meiner Jackentasche und fand ein zerknautschtes Päckchen mit zwei Zigaretten darin. Die erste hatte einen Riss. Heiland, bitte nicht. Die zweite war ebenso ramponiert wie die erste, ich strich sie vorsichtig glatt und, Themis sei Dank, sie war in Ordnung.

Ist das normal, solch eine Erleichterung wegen einer Kippe?

Ich zog mein silbernes Benzinfeuerzeug aus der rechten Hosentasche und zündete mir die Zigarette an. Dabei schaute ich auf die Klingeln neben der Haustür und auf die Namensschilder all der Personen, die im Haus lebten.

Ich ging die Namen von oben an nach unten durch.

- Mulder

- Schneider

- Garetzki

- Schuhmann

Schuhmann ... hhhmmm!!

Hier blieb mein Blick hängen und ein kleines Kribbeln machte sich in meinen südlichen Gefilden breit.

Nein, so weit südlich nicht, mehr in Höhe meines Magens. Ein warmes, schönes Kribbeln, ein echtes Gefühl.

Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und trat auf die Straße.

Es regnete.

Bindfäden im Winkel von sechsunddreißig Grad.

Ich sah die Straße hinunter.

Am Horizont gossen sich die weichen Linien des wolkengrauen Himmels über die scharfkantigen Schattierungen der Stadt und verschluckten ihre Tiefe.

Es sah aus wie ein Bild von Emil Nolde. Ein bisschen weniger bunt vielleicht.

Der kalte Regen drang in alle ungeschützten Ritzen meiner Kleidung ein.

Ich schritt zu meinem Wagen und seufzte laut.

Jaaahh, mein Wagen, mein Baby!

Ich stieg ein, drehte den Zündschlüssel, und es folgte ein motzendes rööhhr, rööhhr, rööhhr, was zu erwarten war.

Ich liebe mein Auto, wirklich, ich liebe es sehr, aber es ist halt eine Französin und offensichtlich im Süden Frankreichs geboren und aufgewachsen. Es hasst Kälte und Feuchtigkeit.

Aber es ist mein ganzer Stolz. Ein schwarzer Citroën CX. Und ist dies nicht schon außer- gewöhnlich genug, ist es ein Citroën CX Prestige, eine Luxuslimousine, ganz in Schwarz.

Wie ich zu diesem Auto gekommen bin, hier in diesem Land? Wie die Jungfrau zum Kinde. Dieses Auto ist mein ganzer Stolz. Meine Insel der Freiheit inmitten versperrter Wege. Meine direkte Verknüpfung zum Außergewöhnlichen, zum Besonderen, zum heimlichen Protest. In ihm hebe ich mich vom Rest um mich herum ab.

Scheiße, ich weiß, das klingt arrogant, aber es ist viel mehr als Arroganz. Für mich ist es ein Grund. Ein Grund, nicht zu viel über mein Leben außerhalb der Arbeit nachzudenken. Ein Grund, all die Einschränkungen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht zu analysieren, warum ich wieder allein bin. Ohne mein Auto wäre ich nichts anderes als ein weiteres dunkles Partikel in einer schwarzen Masse.

Ich brauche keinen Urlaub am Meer in Bulgarien, mir reicht es, hin und wieder unbedacht mit meiner sanften Französin über die einsamen Feldwege im Norden zu schweben, die weichen Stoßdämpfer unter meinem Arsch und John Coltrane im Ohr.

Und ja, mein Auto ist eine Sie.

So glitt ich auch diesen Morgen über die nassen Straßen Ostberlins dahin.

Dietrich-Bonhoeffer-Straße bis zum Arnswalder Platz, mit seinem monumental hässlichen Stierbrunnen oder auch Fruchtbarkeitsbrunnen. Furchteinflößend. Am Platz rechts, in die Bötzowstraße, beidseitig flankiert von Altbauten aus der Jahrhundertwende, wunderschön und großzügig angedacht, jedoch sah man ihnen ihr Alter exakt auf den Tag genau an. Abgeplatzter Putz, bröckelnder Stuck, leider keine Ausnahmeerscheinung. Hier kümmerte man sich einen Scheiß um seine Gebäude, oder Straßen, oder ..., ach hören wir auf damit. Bötzowstraße bis zum Ende, und dann rechts abbiegen in die Straße Am Friedrichshain. Vorbei am großen Bunkerberg im Volkspark, und von dort bis zur Ecke Greifswalder Straße, dann links abbiegen, und immer geradeaus bis zur Hans-Beimler-Straße. Hier wurde die Straße schon fast verschwenderisch breit.

An Ampeln, an denen ich hielt, lugten die Menschen unter ihren Regenschirmen hervor und warfen Blicke auf meine Süße, aber das war ich gewohnt. Männlein wie Weiblein schauten immer, wenn wir vorfuhren, meistens allerdings mit Argwohn.

Kehrtwende

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