Читать книгу Kehrtwende - Dirk Bierekoven - Страница 15
ОглавлениеBrunnen der Fruchtbarkeit
Am nächsten Morgen wachte ich um sieben Uhr auf und fühlte nichts.
So absolut gar nichts.
Keine Euphorie, keine Angst, keinen Drang zur Droge, nichts.
Ich lag im Bett, starrte an die Decke und wusste nicht, was ich tun sollte.
Wieder versuchte ich meine Gedanken auf Max Schultes Tod zu lenken, aber es gelang mir nicht, er war mir egal.
Er war tot. Was kümmerte mich, wer ihn getötet hatte, er war tot und nur das zählte.
Hatte ich gesagt weniger Alkohol?
Kacke.
Ich bezweifelte, dass das funktionierte.
Lag im Bett und mir fiel kein Grund ein aufzustehen.
Hatte aber auch keinen, liegen zu bleiben. Ich hing völlig in der Luft und fand keinen Haltegriff, um mich hoch- oder runterzuziehen. So lag ich ein paar Stunden. Wie ein Pantoffeltierchen auf dem Rücken, das aufgegeben hatte.
Dann musste ich aufs Klo.
Es war nicht mehr einzuhalten und wenn ich nicht in meiner eigenen Pisse liegen wollte, war der Zeitpunkt gekommen, mich zu bewegen.
Ich weiß nicht, ob mir je etwas schwerer fiel. Ich musste meine gesamte Kraft zusammennehmen, um aus diesem tiefen schwarzen Loch hervorzukriechen. Es war wie eine riesige Gummiwand, die ich zu durchbrechen hatte, und das Einzige, was mir die nötige Kraft gab, war mein letzter Funken Selbstachtung.
Ich stand auf und erleichterte mich. Sah die Dusche und wusste: Da geht es mir besser.
Stellte mich darunter.
Einen Schritt nach dem anderen.
Danach Kaffee und Medizin.
Schlurfte mit meinem Kaffee in der Hand zurück ins Schlafzimmer. Stellte mich ans Fenster und sah die Straße hinunter.
Schnee.
Der erste Schnee in diesem Winter.
Dick und schnell fallend.
Würde nicht liegen bleiben, leider.
Zu nass.
Zu warm.
Ich mochte es, dem Schnee beim Fallen zuzuschauen. Es gab mir Ruhe und ein wohliges Gefühl. Ich war froh, hier zu Hause zu sein, hinter meinem Fenster, im Warmen und nicht auf einer Parkbank, mit einem Mörderkater.
Ich sah in Richtung Park.
Das Grün war weiß bedeckt, aber die Straßen und Gehwege nur nass.
Ich schaute auf das weiß bedeckte Grün und genoss den klaren Moment und die alten Gefühle, die er mit sich brachte.
Es ging mir besser.
War lange her.
Ich fühlte mich ein wenig einsam, aber das tat nicht wirklich weh.
Es war ruhig und das war gut so.
Ich genoss die Ruhe. Sie kam ganz unerwartet und dann ganz schnell.
Es war schwer, nicht gleich wieder den Halt zu verlieren. Es war schwer, dem Drang zu widerstehen, den schönen Moment noch künstlich aufzupushen.
Ich versuchte noch einmal an Max Schulte und an seinen Henker zu denken, und jetzt sammelte sich Adrenalin in meinem Magen und der Kitzel, wissen zu wollen, was geschehen war, begann das Schwarze in mir zu ertränken.
Ich stand eine ganze Weile am Fenster, sah hinaus und dachte nach.
Der Schnee fiel jetzt dichter.
Ich bekam Hunger und freute mich auf einen Toast mit Ei.
Das war endlich mal wieder eine natürliche Regung und ich gab ihr glücklich nach.
Danach fühlte ich mich noch ein Stück besser.
Ich lief ins Bad und sah mich an, im Spiegel der Unbarmherzigkeit, und mein zartes Hochgefühl bekam einen Leberhaken. Ich musste mir eingestehen, ich sah aus wie mein Vater nach einer seiner Eskapaden.
Kein Vertun.
Ich konnte kaum mehr wegsehen.
Gott, wenn ich eines im Leben nicht sein wollte, dann wie mein verdammter Vater. Und wenn es auch nur sein Antlitz im Spiegel war.
Rolli und Jeans drüber.
Ich entschloss mich zu einem kleinen Spaziergang im Schnee. Zog mir Jacke und Schuhe an, griff mir Kippen und Schlüssel und stapfte durch den Schneematsch in Richtung Park. Die frische, kalte Luft tat mir gut. Ausnahmsweise war sie mal keine zu verfluchende Seuche, vor der ich mich nur zu schützen suchte, um nicht im Dreck zu erfrieren. Sie war Leben und sie war zum Reinwaschen.
Ich schritt durch den Park, atmete bewusst tief ein und aus und genoss jeden Lungenzug bis an die hintersten Bläschen meiner Lebenspumpe. Ich umrundete das rote Denkmal mehrmals und besah mir die dargestellten Figuren. Es ergab keinen Sinn. Das ganze hässliche Scheißding ergab keinen Sinn. Ich war neugierig auf die Erklärungen für den riesigen Brunnen, in diesem mickrigen Park, und nahm mir fest vor, das irgendwann einmal zu erkunden.
Als ich zurück im Hausflur war, kam mir Frau Schuhmann aus dem zweiten Stock entgegen und meine Eier schrumpelten auf die Größe von Erbsen. Ich kannte sie nun seit fast drei Jahren und seit fast drei Jahren raubte sie mir den Atem, wenn wir uns begegneten. In meinen Träumen hatte ich sie bereits eine Million Mal ausgeführt und verführt. Ich hatte sie zum Lachen gebracht, sie aus misslichen Lagen gerettet, sie befriedigt, wie nur ich in der Lage wäre, sie zu befriedigen. Alles in meinen Träumen. Denn sie war verheiratet.
Wie im Tunnel sah ich sie auf mich zuschweben. Das Treppenhaus um uns herum verlor sich in einem Wurmloch. Mein Puls schnellte hoch und Nervosität trat an die Stelle von Entspanntheit.
Ein Freund sagte mir mal zu einer ähnlichen Situation: „Mann, genieß das. Dies sind die Momente, in denen man wirklich merkt, dass man noch lebt!“
Drauf geschissen.
„Guten Tag“, sagte sie und lächelte mich an.
Sie war umwerfend schön. Für mich zumindest. Und schwierig in Einzelheiten zu zerpflücken, was mir an ihr den Atem raubte. Es waren ihre blonden wilden Locken, die in gleicher Länge von ihrem Kopf in alle Himmelsrichtungen abstanden und die nur rechts, oberhalb ihrer Stirn, mit einer einzelnen Haarklammer ein Stückchen weit gebändigt wurden. Ihr schmales, reines Gesicht, mit einem kleinen Muttermal links unter ihren feinen Lippen. Die hohen Wangenknochen, die perfekt mit ihrer schmalen, Kleopatra-gleichen Nase abschlossen. Und, vor allen Dingen, ihre Augen. Hellblau, wie Eis, aber nicht kalt. Durchdringend und immer ein wenig traurig, als würde sie permanent grübeln oder leiden, bis sie einen sah und anstrahlte, voller echter Freude, voller Hoffnung, worauf auch immer. Jedes Mal, wenn ich sie sah, hatte ich das große Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, sanft zu drücken und ihr fest zu versprechen, dass alles gut werden würde.
Jedes Mal, wenn ich sie sah, war ich wie betäubt, stotternd und nicht ich selbst.
„Tag“, sagte ich und wir schritten aneinander vorüber. Mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte, also lief ich weiter nach oben.
„Es ist schön, dass es ihnen besser geht“, sagte sie hinter mir und ich drehte mich auf meinem Absatz um. Sie sah zu mir herauf und lächelte immer noch. Ging dann weiter die Treppe hinunter und ich schaute ihr stumm hinterher.
„Es ist schön, dass es ihnen besser geht ...“
Sie hatte über mich nachgedacht.
Wow.
Ich war ihr nicht egal.
Oh, Mann.
Moment, im Umkehrschluss hieß das ja aber, dass sie mich auch schon anders gesehen hatte.
So eine verdammte Mistkacke.
Wie denn bloß?
Ich schämte mich zu Tode, wie hatte sie mich bloß erleben müssen?
Es war zum Kotzen.
Aber sie freute sich zu sehen, dass es mir besser ging. Das, sagte ich mir, war, was zählte.
Ich kam in die Wohnung zurück und es war früher Nachmittag. Ich wurde verdammt müde, legte mich in mein Bett und schlief mit Gedanken an Frau Schuhmann ein.