Читать книгу Kehrtwende - Dirk Bierekoven - Страница 5

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10. November 1989

Heute wird es enden, dachte er. Nach so vielen Jahren wird es tatsächlich heute Nacht enden, so oder so.

Seine Hand entspannte sich für einen kurzen Moment und der Griff ums Messer löste sich leicht, doch nur um gleich danach umso fester wieder zuzupacken.

Er hielt sich das Messer eng an seine Brust gepresst.

Er musste seine Nähe spüren.

Er brauchte gerade ein wenig Halt.

Viel zu früh war er da gewesen und bereute dies nun.

Zweifel krochen in ihm hoch wie eine verdammte Schmarotzerranke an einem alten Baum.

So viel Zeit war vergangen, seit alles begonnen hatte. So viel Zeit, dass er schon fast gelernt hatte, damit zu leben. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Gestern war er noch einsam und unsichtbar eine Million Lichtjahre von seiner Vergangenheit entfernt, um sich nun, einen Tag und einen Anruf später, mitten in ihr wiederzufinden.

Und er war so aufgeregt gewesen, dass er es nicht abwarten konnte und zu früh gekommen war, was er jetzt bereute. Zu viel Zeit zum Nachdenken.

Alles hatte er damals aufgegeben und war weggerannt. Es gab nichts mehr, was er hätte tun können. In diesem Land war er nicht nur von dicken Mauern aus Beton und hohen Zäunen aus Stahl umgeben gewesen, sondern auch in einem undurchdringlichen Geflecht von Korruption und Vertuschung gefangen.

Deshalb war er fortgelaufen, sonst hätte es ihn seinen Verstand gekostet. Hatte alles, was er noch liebte, aufgegeben und war an einem neuen Ort in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Und er hatte überlebt. Getragen von der Hoffnung auf Vergeltung überlebte er die Jahre. Doch die Zeit heilt nun einmal die Wunden, und der Wunsch nach Rache verblasste allmählich unter einer stetig wachsenden Kruste aus Normalität.

Dann kam der Anruf und die Kruste juckte wie ein Sack voll Krätze. Und er kratzte sie auf und all der Hass und die Verzweiflung quoll wieder hervor, wie stinkender Eiter. Blanke Wut packte ihn und trieb ihn zur Eile an.

So kam er unverzüglich hierher.

Ohne richtigen Plan. Ohne einen Moment innezuhalten, um einen klaren Gedanken daran zu fassen, was er tat und was dies für den Rest seines Lebens bedeuten würde. Keinen Gedanken daran, ob er das, was er vorhatte, tatsächlich wird ausführen können, denn Vergleichbares hatte er nie zuvor getan. Keinen Gedanken, bis eben.

Und ihm war kalt.

Seine Knie zitterten und seine Füße waren fast taub. Er presste die Nachtluft bibbernd in seine Lungen und wieder hinaus.

Er trat auf der Stelle leise von einem Fuß auf den anderen, bewegte seine Zehen in den Schuhen, um sie ein wenig warm zu halten, und er fürchtete, sich kaum mehr bewegen zu können, wenn es losging. Seine kalte Hand umschloss zwar noch die lange Klinge. Doch seine Kraft ließ langsam nach. Vielleicht hätte er doch eine Schusswaffe nehmen sollen, dachte er. Es wäre einfacher gewesen und schneller. Doch einfach wollte er es ja nicht, er wollte es von Angesicht zu Angesicht und er wollte es fühlen. Fühlen wie der Stahl in ihn dringen und der Hauch des Lebens aus ihm schwinden würde.

Er schüttelte sich. Schüttelte die zweifelnden Gedanken aus seinem Kopf und seine Gliedmaßen ein wenig warm.

Nein, es gab kein Zurück mehr. Kein Leben für ihn morgen, wenn er dies heute nicht zu Ende bringen würde.

Ja, es war ein Fehler gewesen, so früh zu kommen, aber er hatte unter keinen Umständen den Moment verpassen wollen. Er wollte ihn auskosten, solange es ging. Er wollte den Augenblick tief in sich spüren, endlich einmal wieder etwas spüren, und wenn es nur die Vorfreude auf den Tod war.

Wo blieb der verdammte Mistkerl nur, dachte er und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. Kurz nach 22 Uhr. Jetzt musste er gleich kommen, wer weiß, ob ihn seinerseits nicht schon ein Anwohner entdeckt hatte und beobachtete.

Und dann sah er, wie im Hausflur gegenüber das Licht anging.

Er hielt den Atem an und Adrenalin schoss ihm ins Herz, dass es ihn fast von den Füßen riss. War ihm tatsächlich eben kalt gewesen?

Er sah, wie die Haustür aufging und ein Mann auf die Straße trat. Er sah, wie der Mann kurz stehen blieb, sich umsah, den Kragen seines Mantels hochschlug und die Straße hinunterging, fort von ihm.

Er wartete, bis Max Schulte sich ein paar Meter vom Haus entfernt hatte, und trat dann aus seinem Versteck heraus.

Nicht zu früh, warnte er sich. Schulte musste weit genug weg sein von diesem Haus, jemand könnte aus dem Fenster schauen und ihn beobachten.

Als er sich in Bewegung setzte, merkte er erst, wie steif er tatsächlich vom unbewegten Warten in der Kälte geworden war. Er bekam seine Beine kaum vernünftig voreinander, und der Bürgersteig war nass und rutschig.

Er war zu langsam, verlor den Abstand zu seinem Opfer und hatte auch noch die Straße zu überqueren, die zwischen ihnen lag.

Vor Panik wurde er unvorsichtig, beschleunigte seinen Schritt und es hallte von den Wänden wider.

Warum war es nur so verdammt ruhig hier.

Langsam kam er ihm wieder näher. Er trat auf die Straße, doch das Kopfsteinpflaster war zum Teil schon überzogen mit gefrierender Nässe, sodass er ausrutschte und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte.

Hatte er dabei gestöhnt?

Schulte beschleunigte seinen Schritt, er hatte ihn bemerkt, zweifellos. Er wurde zu schnell für ihn und in Panik rief er nach ihm. Es war eine völlig unsinnige Idee, doch er wusste sich nicht anders zu helfen. Zweimal, dreimal rief er seinen Namen und tatsächlich, überraschenderweise blieb Schulte stehen.

Verdutzt stoppte er ebenfalls und haderte einen Moment. Mit dieser Reaktion Schultes hatte er nicht gerechnet, eher schon mit Flucht. Und für den Moment hielt die Welt den Atem an, gespannt auf die Explosion. Dann besann er sich, stürmte auf ihn zu und in dem Moment, als er bei ihm war, drehte sich Max Schulte zu ihm um.

Sie standen Aug in Aug.

Es war eine völlig skurrile Situation für ihn, unwirklich, wie ein nachwirkender Traum am frühen Morgen, gleich nach dem Erwachen.

Sie starrten sich an und Schulte stand die Frage im Gesicht geschrieben: Wer zum Henker bist du denn?

Wie hypnotisiert hob er das Messer, das er fest in seiner Hand hielt, bis in Bauchhöhe von Schulte – und stach zu.

Langsam, eher zögerlich.

Er spürte den Widerstand der Bauchdecke und nach ein wenig mehr Druck, wie er brach und seine Hand tief in den Leib seines Opfers fiel. Er sah ihm dabei fest in die Augen und suchte nach dem Moment, in dem Schulte klar wurde, wer sein Henker war und warum er jetzt zu sterben hatte. Er drehte das Messer um hundertachtzig Grad, drückte es nach unten, zog es langsam wieder heraus und durchschnitt ihm dabei abermals Magen und Gedärm. Warmes Blut lief über seine kalte Hand.

Schultes Mund öffnete sich, doch sein Schrei blieb stumm. Seine weit aufgerissenen Augen, voller Angst und Schmerz, sahen hilfesuchend wild umher.

Dann stach er kopflos auf sein Opfer ein. Wutentbrannt und mit blinder Raserei. Bauch, Hals, Nacken und Rücken. Fünfmal, zehnmal, er wusste es nicht mehr. Warme Tränen liefen ihm über sein Gesicht, und als er fertig war, stand er auf und sah auf sein Opfer hinab. Ein lebloser, verstümmelter Körper. Die Gliedmaßen weit von sich gestreckt. Der Kopf fast abgetrennt.

Er erbrach sich gleich neben ihm.

Er spürte keine Angst, setzte sich erschöpft auf die Bordsteinkante und wollte nur noch dort sitzen bleiben und sich erholen. Was würde jetzt kommen?

Kehrtwende

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