Читать книгу Vieles scheint unmöglich, bis du es schaffst! - Dirk Leonhardt - Страница 8
Mein Weg zum Ultrasportler
ОглавлениеGroße Leistungen werden stets im Kopf entschieden. Persönliche, berufliche, aber allen voran sportliche Leistungen. Das Absolvieren einer Ultrastrecke ist folglich immer ein Zusammenspiel von mentaler und körperlicher Kraft. Neben: „Wie schafft man das nur?“, ist von Außenstehenden die meistgestellte Frage jedoch: „Warum tust du dir das an?“ Was bei anderen eher Fassungslosigkeit oder auch pures Entsetzen auslöst, ist mein ureigener Antrieb. Oder nennen wir es eher: mein kleiner persönlicher Spleen. Ich motiviere mich, indem ich mir Ziele setze, die eigentlich unerreichbar scheinen. Denn, wäre es einfach, wüsste ich, dass ich es schaffen kann und hätte keine Motivation mehr, es auszuprobieren.
Doch das war nicht immer so. Meine Leidenschaft für den Ausdauersport begann 2003 mit dem Zieleinlauf meines ersten Halbmarathons. Ich ging ziemlich unvorbereitet an den Start. Meine Füße steckten nicht in Laufschuhen, sondern in Sportschuhen vom Discounter. Ohne Laufuhr am Arm spulte ich in meiner Unerfahrenheit viel zu schnell die ersten Laufkilometer herunter, bis bei Kilometer 18 die Kraft dann endgültig versagte. Und so schleppte ich mich mehr schlecht als recht über die restliche Strecke, bevor ich auf dem Marktplatz angekommen mit einem letzten Aufbäumen im Sprint ins Ziel rannte. Die Zuschauer schrien und klatschten begeistert – gefühlt nur für mich. Das war der Wahnsinn! Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der festen Überzeugung, dass Sport nichts für mich sei und ich genetisch bedingt in dieser Hinsicht eben eher zu den Untalentierten gehörte. Ich war als Kind leicht übergewichtig, hatte im Sportunterricht stets Mühe, am Schuljahresende die Note drei zu erreichen, konnte schlecht Schneebälle werfen und wurde bei Mannschaftssportarten meist als Letzter ins Team gewählt. Dass ich mit 21 Jahren meinen ersten Halbmarathon ins Ziel gebracht hatte, war für mich ein großer persönlicher Erfolg. Dass ich zuvor zur Teilnahme überredet, ja fast genötigt worden war, war nun nicht mehr wichtig. Aber dass ich danach eine Woche lang kaum noch Treppensteigen und mir nicht mehr selbst die Schuhe binden konnte, brachte mich dann doch recht schnell zu der Erkenntnis: einmal und nie wieder. Niemals mehr würde ich mir in meinem Leben eine solche Extremleistung antun.
Der gefasste Vorsatz hielt immerhin ganze zwei Jahre. Dann lockte der Frankfurt Marathon. Ich hatte noch immer das Bild vor Augen, wie ich beim Halbmarathon unter dem Applaus der Menge ins Ziel sprintete und spürte nach wie vor den unbändigen Stolz in meiner Brust, dass ich etwas geschafft hatte, das ich mir vorher selbst nicht wirklich zugetraut hatte. Die vielen Momente des Schmerzes waren in meiner Erinnerung verblasst und hatten für mich keine Bedeutung mehr. Dass ich mir damals geschworen hatte, nie wieder einen solchen „Blödsinn“ zu unternehmen, war mit einem Mal völlig unbedeutend. Viel wichtiger war jetzt diese Aufbruchstimmung in mir. Wenn ich einen Halbmarathon ohne Vorbereitung geschafft habe, dann schaffe ich doch sicher auch einen Marathon, wenn ich ausreichend dafür trainiere!? Also meldete ich mich für den Frankfurt Marathon an und hatte schon bei der Anmeldung die Bilder im Kopf, wie ich mit einem breiten Grinsen durch die Hochhausschluchten laufe. Ich trainierte nun regelmäßig und kaufte mir mein erstes Paar Laufschuhe. Knapp 100 Euro gab ich dafür aus und war begeistert, wie leichtfüßig man darin joggen konnte. So kam der Tag im Oktober 2005, an dem ich mich tatsächlich im riesigen Starterfeld des Frankfurt Marathons befand. Unmittelbar vor mir war ein Mann mit Luftballon, auf dem die Zeit 3:59 Stunden aufgemalt war. Ich war total motiviert, und die ersten zehn Kilometer fühlten sich echt toll. Bei der Halbmarathon-Marke – an der ein Bus wartete, um die Abbrecher zur Messehalle zurückzufahren – war ich dann aber schon ziemlich fertig, doch ich lief weiter. Ab Kilometer 30 hatte ich so starke Schmerzen, dass ich mich sehr dazu zwingen musste, nicht einfach in einen Gehschritt zu wechseln. Ein Freund lief einige Kilometer neben mir her und redete ständig auf mich ein: „Dirk, du darfst jetzt nicht stehenbleiben! Du musst weiter joggen. Egal wie.“ Ich quälte mich immer weiter, und es schien mir, als ob jeder Kilometer länger und länger würde.
Ich wusste am Ende nicht, wie, aber irgendwann hatte ich Kilometer 40 tatsächlich erreicht, und die letzten zwei Kilometer fielen mir wie durch ein Wunder plötzlich viel leichter. Als ich dann endlich in der Festhalle und somit im Ziel ankam, spürte ich erneut diese enorme Erleichterung, darüber, dass es endlich vorbei war, doch zugleich war ich überglücklich und unendlich stolz. Ich legte mich irgendwo auf den Fußboden, schaute an die Decke und hatte ein seliges Lächeln auf dem Gesicht. Ich war mit meiner Zielzeit von 4:11:49 Stunden mehr als zufrieden. Ich hatte Platz 5.009 von 8.842 Läufern belegt und fühlte mich dennoch wie ein Sieger. Allerdings wurde dieses grandiose Gefühl schnell von den Schmerzen eingeholt. Meine Beinmuskulatur erinnerte mich noch tagelang daran, dass ich besser doch nur zehn Kilometer locker durch den Wald gelaufen wäre, anstatt einen Marathon zu rennen.
Vom Halbmarathon zum Ironman.
Wieder sagte ich mir, dass es nun genug sei, mit solch ungesunden Aktionen. Einen Marathon schafft ja nicht jeder. Jetzt habe ich mir das bewiesen und kann es wieder ruhiger angehen lassen. Aber wieder wollte ich mehr. Denn ich hatte bemerkt – oder vielmehr erstaunt festgestellt –, dass mir solche Ausdauerleistungen regelrecht Spaß machten und ich sehr lange danach immer noch davon zehren konnte. Auch wenn es äußerst strapaziös war – das konnte man nicht leugnen –, war es doch immer eine besondere Herausforderung, und das Überqueren der Ziellinie löste jedes Mal ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir aus. So war es für mich auch irgendwie total logisch, dass ich drei Jahre nach meinem Marathondebüt beim Ironman in Frankfurt an den Start ging. Die weltberühmte Langdistanz über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen war mein erster Triathlon überhaupt. Ich hatte noch nicht einmal ein Startnummernband und fuhr auf einem alten Tomassini-Rennrad mit Rahmenschaltung und ohne Auflieger. Aber ich erreichte die Ziellinie und war überglücklich. Ich hatte ein tolles Rennen, und gerade dieses etwas Planlose und Unkalkulierbare über solch eine lange Strecke war es, was es für mich so besonders machte. Ich glaube, hätte ich vorher schon mehrere Triathlons bestritten, wäre ich viel „verkopfter“ gewesen, vielleicht mehr auf irgendwelche Zeiten ausgerichtet, und hätte mit Sicherheit weniger Spaß gehabt. Und all das, obwohl der Ironman, auf den ich mich ein ganzes Jahr vorbereitet hatte, auf der ersten Radrunde für mich schon fast vorbei gewesen wäre.
Am bekannten Heartbreak Hill in Bad Vilbel, dem letzten knackigen Anstieg vor Frankfurt, fuhr ich zur Verpflegungsstation, um mir eine neue Trinkflasche zu greifen. Vor mir kam plötzlich ein anderer Starter aus dem Tritt und blieb abrupt stehen. Da ich alles im Blick hatte, konnte ich noch rechtzeitig bremsen. Nicht jedoch der Athlet hinter mir. Er fuhr mir mit vollem Karacho ins Rad und stürzte. Allerdings schien er sich nicht verletzt zu haben, denn er stand direkt wieder auf und fuhr weg – ohne mir weitere Beachtung zu schenken. Das war sportlich mehr als unfair, denn durch den Aufprall hatte er mein hinteres Laufrad komplett zerstört. Das Rad war so verbogen, dass an ein Weiterfahren nicht zu denken war. Vor lauter Wut warf ich mein Rennrad in den Straßengraben und war den Tränen nah. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf den mobilen Reparaturservice des Veranstalters zu warten – doch das konnte dauern... Mein Rennen schien gelaufen und ich war super enttäuscht. Das sollte es nun also gewesen sein? Nach einiger Zeit am Streckenrand stand plötzlich mein Mitbewohner Marian mit seinem Rennrad vor mir. „Hey, Mensch, was ist denn los?“, fragte er mich bestürzt. Und als ich ihm das Malheur erklärte, wurde auch er stinksauer. Er blieb an meiner Seite und wartete mit mir darauf, dass der Servicewagen eintraf. Dabei mussten wir zusehen, wie viele dutzende Athleten an uns vorbei fuhren. Doch während ich so am Rand stand und dumm aus der Wäsche guckte, kam mir die zündende Idee: Ich könnte ja Marians Hinterrad ausbauen und bei mir einsetzen. Er willigte sofort ein, und so war mein Rennrad nach einigen Minuten bereits wieder fahrtauglich. Es funktionierten zwar nur noch drei Gänge, und auch die hintere Bremse zog nicht mehr richtig, aber ich konnte wenigstens weiterfahren. Marian musste danach allerdings sein Rad samt meinem verbogenen Laufrad etwa zehn Kilometer nach Hause tragen, aber er hatte das Rennen für mich gerettet – und dafür bin ich ihm ewig dankbar. Total aufgewühlt, mit einer Mischung aus Frust aber auch purer Freude, fuhr ich die letzten 90 Kilometer des Rennens bis zum Ende, und selbst der abschließende Marathon war kein großes Problem mehr für mich. Nach 12 Stunden, 42 Minuten und 35 Sekunden lief ich auf dem Römerberg in Frankfurt überglücklich ins Ziel. Dieser Moment wird mir immer als einer der schönsten meines Lebens in Erinnerung bleiben.
Defektes Hinterrad beim Ironman 2008.
Danach hatte ich immer weniger Ehrfurcht vor langen Distanzen und testete meine Form bei mehreren 24-Stunden-Rennen. Erst auf der 25-Meter-Bahn im Schwimmbad. Dann beim 24-Stunden-Radrennen auf dem Nürburgring. Danach kam ein 24-Stunden-Lauf an die Reihe. Doch neben den offiziellen Wettkämpfen war für mich das, was heute Bikepacking genannt wird, eigentlich mit das Reizvollste. So fuhr ich, gemeinsam mit einem Freund, den kompletten Rennsteig, die Werra und Weser entlang bis nach Cuxhaven oder von Prag bis nach Hamburg, immer an der Moldau und der Elbe entlang. Gemeinsam mit meiner Frau fuhr ich auf dem Tandem von Frankfurt bis Den Haag und vom Bodensee den Rhein entlang bis nach Frankfurt. 2015 radelte ich mit meinem Freund und Arbeitskollegen Thomas 3.000 Kilometer von Frankfurt bis nach Istanbul. Bis heute sind das die Erlebnisse und Bilder, die mich immer noch in ihren Bann ziehen und die ich als perfekte Abenteuer bezeichnen würde. Bei diesen selbst organisierten Projekten, aber auch bei den offiziellen Wettkämpfen, war es für mich unglaublich spannend, die Grenzen meiner eigenen Leistungsfähigkeit auszutesten. Da es dabei gar nicht so sehr darum ging, muskuläre Höchstleistungen zu erbringen, sondern eher Disziplin und Willenskraft notwendig waren, musste ich auch nicht so intensiv trainieren, um meine Ziele zu erreichen. Bei der Wahl zwischen „Höher-Schneller-Weiter“, habe ich mich stets für das „Weiter“ entschieden. Damit kann ich meinen Rhythmus finden und die jeweilige Herausforderung nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten.
Die Erinnerungen an jeden einzelnen Wettkampf und jedes dieser Abenteuer habe ich immer im „Gepäck“ und kann sie bei aktuellen Herausforderungen abrufen. Frei nach dem Motto: „Oh, es schmerzt zwar gerade am linken Zeh, aber beim 24-Stunden-Lauf vor zwei Jahren war es noch viel schlimmer...“ Durch diese persönlich erfahrene Relativierung verschiebt sich die eigene Einschätzung davon, was man zu leisten imstande ist, immer weiter. Stück für Stück. Jahr für Jahr. Und auf einmal überlegt man sich, ob man nicht vielleicht einen dreifachen Langdistanz-Triathlon absolvieren könnte. Dreifach, das heißt: 11,4 Kilometer Schwimmen, 540 Kilometer auf dem Rad und 126,6 Kilometer Laufen. Das Ganze in weniger als 58 Stunden, also zweieinhalb Tagen. Doch wie kam ich auf eine solch verrückte Idee? Meine Überlegungen hierzu waren folgende:
Ich bin schon mal 42,2 Kilometer an einem Tag geschwommen, dagegen wären 11,4 Kilometer doch echt wenig!?
Ich bin schon mal 140 Kilometer an einem Tag gelaufen, da wären drei Marathons doch eigentlich machbar!?
Und die 540 Kilometer auf dem Rad? Dafür hatte ich 27 Stunden Zeit. Das wäre eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h. Das sollte doch wohl kein großes Problem sein, oder?