Читать книгу Vieles scheint unmöglich, bis du es schaffst! - Dirk Leonhardt - Страница 9
Was ist ein Ultratriathlon?
ОглавлениеDer Ultratriathlon ist eine Triathlon-Disziplin, bei der man ein Mehrfaches der klassischen Langdistanz (Ironman) zurücklegt. Weltweit finden Wettkämpfe im Double (2x), Triple (3x), Quintuple (5x) und Deca (10x) Ultratriathlon statt. In Mexiko gibt es sogar regelmäßig den Double Deca – also die 20-fache Langdistanz.
Der Ultratriathlon ist am Stück zu absolvieren, also im „Continuous“-Modus. Dabei muss erst die gesamte Strecke geschwommen werden, bevor es auf die Radstrecke geht, und auch erst nach dem letzten Radkilometer beginnt das Laufen.
Im Gegensatz dazu gibt es die „One per day“-Variante, bei der täglich aufs Neue eine Langdistanz absolviert und die Zeitmessung nach dem Ende eines jeden Einzeltriathlons gestoppt wird, um am folgenden Morgen erneut zu beginnen. Die beiden Varianten des Ultratriathlons sind hinsichtlich ihrer Belastungen und der Zeitmessung schwer zu vergleichen.
Langdistanz | Double | Triple | Quintuple | Deca | Double Deca | |
SWIM | 3,8 km | 7,6 km | 11,4 km | 19 km | 38 km | 76 km |
BIKE | 180 km | 360 km | 540 km | 900 km | 1.800 km | 3.600 km |
RUN | 42,2 km | 84,4 km | 126,6 km | 211 km | 422 km | 844 km |
Die Strapazen aller vorherigen Rennen waren längst vergessen, denn ich hatte ja vor allem die positiven Erinnerungen und Emotionen gespeichert. Dass ich immer wieder zu kämpfen und meinen Körper starken Strapazen ausgesetzt hatte, war in meinen Erinnerungen ganz tief vergraben. Einmal diese Überlegungen zur dreifachen Langdistanz angestellt, verfolgte mich der bohrende Gedanke an ein solches Rennen Tag und Nacht. „Melde dich einfach an und mach das Ding!“, säuselte diese kleine Stimme unermüdlich in meinem Kopf. Schließlich wurde sie immer lauter und meine Bedenken immer schwächer. Also schickte ich eines Tages kurzerhand die Anmeldung ab und überwies das Startgeld an den Veranstalter.
Der Triple Ultratriathlon in Lensahn an der Ostsee war für mich ein wichtiger Meilenstein. Ich war fest davon überzeugt, dass dieser Wettkampf das Krasseste sei, das ich jemals absolvieren würde. Denn ich war mir im Vorfeld sehr unsicher, ob ich das Ziel überhaupt erreichen würde, hatte ich doch noch nie zuvor einen Ultratriathlon bestritten. Doch ich war im Nu extrem begeistert von der Ultratriathlon-Family. Hier läuft alles viel familiärer und entspannter ab als bei einer einfachen Langdistanz. Durch den überschaubaren Teilnehmerkreis und die lange Wettkampfzeit entsteht eine sehr enge Verbindung zwischen den Athleten und ihren jeweiligen Teams. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig. Man fiebert mit jedem einzelnen Sportler mit. Bei einem Triathlon über die Langdistanz gehen schnell mal 2.000 oder mehr Athleten an den Start – beim Triple in Lensahn sind es gerade einmal 30 bis 50. Diese Diskrepanz bei den Starterzahlen machte mir deutlich, dass ein Ultratriathlon nicht jedermanns Sache ist. Mit großem Respekt und überaus vorsichtig startete ich neben all den anderen Ultrasportlern am Freitagmorgen um sieben Uhr in den Wettkampf.
Startnummernausgabe beim Triple Ultratriathlon in Lensahn 2017.
Bis ich diesen Triathlon nach zweieinhalb Tagen finishen konnte, ging ich durch einige Tiefen. Ich hatte die 678 Kilometer Gesamtdistanz irgendwie durchgestanden, hatte zwei Nächte mit insgesamt nur einer Stunde Schlaf hinter mir und war nun ganz offiziell ein Ultratriathlet. Die Aufnahmeprüfung in diesen erlesenen Kreis war durchaus nicht einfach. Bereits beim Schwimmen hatte ich Magenprobleme und war längst nicht so schnell, wie insgeheim erhofft. Die anderen Athleten auf meiner Bahn beendeten alle deutlich vor mir die Distanz, während ich weiterhin meine Runden ziehen musste. Als ich nach mehr als vier Stunden aus dem Wasser stieg, waren meine Augen von der Schwimmbrille total geschwollen. Auf dem Rad kamen dann Sturm und Starkregen dazu, und nach 400 Kilometern war ich bereits völlig entkräftet. Selbst die wenigen leichten Steigungen und Hügel auf der Radstrecke fühlten sich wie richtig hohe Berge an. Als ich dann endlich als Vorletzter auf die Laufstrecke wechselte, stellte ich erstaunt fest, dass fast die Hälfte der anderen Athleten, die im Ranking weit vor mir gewesen waren, bereits aufgegeben hatte. So lag ich bei 34 Starterinnen und Startern auf einmal auf Platz 21. Das motivierte mich ungemein. Knapp 100 Runden mit je 1,4 Kilometern Länge mussten noch absolviert werden, was ich in einer Art Automatikmodus dann auch schaffte. Die Devise lautete: Nicht jammern, laufen! Und mit zunehmender Laufdistanz auch: Gehen, aber Hauptsache nicht stehen! So kam ich dem Ziel Stück für Stück immer näher, bis ich auf den letzten Kilometern noch einmal alle Kräfte mobilisieren konnte und einen Endspurt hinlegte – bis heute bleibt mir völlig schleierhaft, wo ich plötzlich diese Energie hernahm.
Zieleinlauf nach mehr als 54 Stunden Wettkampf.
Das Gefühl, das mich im Ziel überkam, war dann aber unerwartet neutral. Keine Freudentränen – kein Jubelschrei. Natürlich war ich irgendwie stolz und auch glücklich, es geschafft zu haben, aber – vielleicht auch aufgrund des Schlafdefizits – ich war längst nicht so euphorisch, wie ich erwartet hatte. In diesem Moment konnte ich gar nicht richtig begreifen, welche Strecken ich überhaupt zurückgelegt hatte und wie ich diese Leistung einordnen sollte. Ich war ja nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt angekommen, an dem ich zwei Tage zuvor ins Wasser gesprungen war. Das fühlte sich irgendwie skurril an. Dennoch: Dieser Wettkampf war für mich eine Reifeprüfung. Und ich hatte sie bestanden.
Bereits kurz nach meinem Zieleinlauf beim Triple Ultratriathlon in Lensahn, kam mir der Gedanke, irgendwann einmal einen Triple Deca Continuous zu absolvieren. Das war im Juli 2017. Gleichzeitig war zu diesem Zeitpunkt die Italienerin Ilaria Corli in Deutschland unterwegs und lief sich mit dem längsten Triathlon ins Guinness Buch der Rekorde. Mitte August kam sie in Italien an, wo sie zuvor 190 Kilometer geschwommen war, dann mit dem Rad etwa 4.400 Kilometer über Frankreich bis nach Deutschland gefahren und danach noch knapp 1.080 Kilometer wieder zurück in ihr Heimatland gelaufen war. Ich verfolgte gebannt ihren Rekordversuch und dachte mir damals schon, dass die täglichen Distanzen, die Ilaria bewältigte, eigentlich auch für mich im Bereich des Möglichen lagen... Dennoch war ich total begeistert von dieser epischen Reise und vom Durchhaltewillen, den die Sportlerin zeigte. Doch ich dachte nicht weiter daran, eine solche Aktion wirklich ernsthaft in den Fokus meiner eigenen Planungen zu nehmen. Die Idee wurde also in der Schublade mit „Interessanten Dingen, über die man später mal nachdenken kann“ abgelegt. Denn nach meinem Ultratriathlon-Finish hatte ich erst einmal keine große Lust mehr auf Sport, und im Oktober begann ich zudem ein mehrjähriges Fernstudium an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Bis zur Verteidigung meiner Masterarbeit im Oktober 2019 stand ein regelmäßiges Training nicht auf meiner Top-10-Liste. In der wenigen Freizeit, die mir neben Arbeit, Studium und Familie blieb, stieg ich wieder beim Einsatztauchen der DLRG ein und war ausdauersporttechnisch eher faul.
Der Weltrekord über den längsten Nonstop-Triathlon kam mir erst wieder ernsthaft in den Sinn, als sich in Deutschland auf einmal alles nur noch um Corona zu drehen schien. Ich war zu dieser Zeit im Corona-Krisenmanagementteam meines Dienstherrn, der Deutschen Bundesbank, aktiv und bereitete mich seit Oktober 2019 auf eine Radtour quer durch Europa vor, die für den Sommer 2020 geplant war. Ich wollte mit dem Rad vom Nordkap in Norwegen bis nach Tarifa in Spanien fahren – vom nördlichsten bis zum südlichsten Punkt des europäischen Festlands. 6.000 Kilometer in weniger als drei Wochen. Nach den sportfreien Jahren hatte ich dafür von Anfang Juli bis Mitte August meinen Jahresurlaub geplant, auch weil die Schließtage der Kita meiner Kinder einen so langen Urlaub notwendig machten. Meine Frau Ilsa und die Kinder sollten dann auf der zweiten Hälfte der Radtour, von Deutschland bis nach Spanien, im Begleitfahrzeug mitfahren. In meiner Vorstellung hätte ich somit nicht ganz so lange komplett auf meine Familie verzichten müssen. Ich war mir auch sicher, dass die Kinder mit ihren vier und sechs Jahren sicherlich Spaß an so einem Wohnmobil-Abenteuer gehabt und ihren Papa auch gerne angefeuert hätten.
Als klar wurde, dass mein geplantes Sportprojekt aufgrund von Corona nicht realisierbar war, beschäftige ich mich mit möglichen Alternativen. Aufgeben und sich über die Situation beschweren, liegt mir nicht. Ich gestalte lieber und besprach daher mit meiner Frau Ilsa, dass ich statt der Radtour gerne eine 30-fache Langdistanz in Eigenregie absolvieren würde. „Was willst du?“, sie starrte mich entgeistert an. Ihre erste Reaktion war zwar nicht ganz wie erhofft, aber zumindest so, wie ich vermutet hatte. Ich erklärte ihr mein Vorhaben, doch ich spürte ihre immer stärker werdende Ablehnung, je mehr ich ihr von meiner Planung erzählte. Ich weiß, dass sie es mir am liebsten verboten hätte, denn sie kennt mich zu gut und weiß auch, wie extrem ich während Ultrasport-Events leiden kann. Sie hat stets den uneingeschränkten Blick von außen, und als Sportler nehme ich ja eher verzerrt wahr, was genau passiert. Ilsa sieht an meiner Haltung, Gestik und Mimik ganz genau, wie es mir geht – was sie natürlich nicht unberührt lässt. Meiner Frau war wohl von Anfang an klar – noch bevor ich es überhaupt realisierte – was eine solche Aktion für uns als Familie bedeutete und wie anstrengend es sein würde. „Du immer mit deinem Optimismus!“, warf sie mir ein ums andere Mal vor. Ilsa ist eher der Realist und ich der Optimist, der zunächst alle Probleme ausblendet. Auf der anderen Seite wusste sie natürlich auch um meine brennende Leidenschaft für solche Sportprojekte und wie glücklich sie mich stimmten. „Und schau, die Sache hat auch einige Vorteile“, wollte ich ihr den Triathlon schmackhaft machen. So stieg damit zwar der notwendige Zeitbedarf im Vergleich zur Radtour, dafür aber sank das nötige Budget. Ich plante den Triathlon auf Rundstrecken um unseren Wohnort Bruchköbel und brauchte dadurch weder Hotel noch Begleitfahrzeug. Und so entstand in kurzer Zeit das Gerüst für den weltweit längsten Triathlon und den ersten Triple Deca Ultratriathlon Continuous überhaupt. Am Ende war ich bei der folgenden Planung angelangt:
114 Kilometer Schwimmen
5.400 Kilometer Radfahren
1.266 Kilometer Laufen
Das sollte das Sportprojekt meines Lebens werden! Für die Radtour hatte ich etwa 23 Tage eingeplant. Für den Triathlon würde ich mindestens 37 Tage benötigen, wenn alles perfekt lief… Dafür müsste ich aber auch innerhalb der einzelnen Distanzen täglich 30 Kilometer schwimmen, 360 Kilometer Radfahren und zwei Marathons laufen. Bei dieser Rechnung war mir relativ früh klar, dass ich sehr wahrscheinlich länger unterwegs sein würde, als das, was sehr optimistisch von mir kalkuliert worden war. Ich hatte ja keinerlei Vergleichsgrundlage, welches Tagespensum ich dauerhaft leisten könnte.
„Na, gut“, lenkte Ilsa schließlich ein, weil sie meine Begeisterung spürte und das Leuchten in meinen Augen nicht länger ignorieren konnte. „Zieh das durch!“ Doch sie machte zur Bedingung, dass ich zur Einschulung unseres älteren Sohnes mit dem Triathlon-Projekt fertig sein musste. Das wären dann insgesamt 45 Tage Zeit. Die acht Tage „Puffer“ erschienen mir vollkommen ausreichend – und so hatten wir einen Deal.
Ich weiß, dass meine Entwicklung zum Ultratriathleten nur möglich war, weil meine Frau mich stets dabei unterstützte und während aller Höhen und Tiefen immer an meiner Seite stand. Dafür bin ich ihr sehr dankbar! Während der Wettkämpfe ist sie stets das Rückgrat des Teams und meine wichtigste Stütze. Ilsa hat viel Freude am Wettkampferlebnis, doch oft kommt sie dabei selbst ins Schwitzen, denn der Support bei Ultrarennen ist meistens ähnlich anstrengend wie der Wettkampf selbst. Auch meine Kinder fiebern kräftig mit mir mit, und ich merke, dass mein Sport auch ihren Spaß an der Bewegung fördert. Da kann es schon mal vorkommen, dass die beiden Jungs einen Triathlon im Wohnzimmer nachspielen und Runden um den Esstisch rennen, mit imaginärem Helm auf der Radetappe unterwegs sind und mit Neoprenanzug „schwimmen“.