Читать книгу Der strafprozessuale Zugriff auf Inhaltsdaten in der Cloud - Dirk Meinicke - Страница 24
b) Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot im Verfahrensrecht
ОглавлениеDas sog. Gesetzlichkeitsprinzip des § 1 StGB, das in Art. 103 Abs. 2 GG mit Verfassungsrang ausgestattet ist, wird nach herkömmlichem Verständnis in vier unterschiedliche Ausprägungen unterteilt: das Verbot unbestimmter Strafgesetze, das Rückwirkungsverbot, das Verbot strafbegründenden oder strafschärfenden Gewohnheitsrechts sowie das Analogieverbot. Andere Autoren lehnen diese Unterteilung konstruktiv ab und fassen das Gesetzlichkeitsprinzip insgesamt als einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt auf.218 Es sprechen jedoch beachtliche Gründe dagegen, Art. 103 Abs. 2 GG im Strafverfahrensrecht unmittelbar anzuwenden.219 Selbst wenn der Wortlaut eine gegenteilige Auslegung wohl zuließe, streitet nicht zuletzt die historische Entstehung des Gesetzlichkeitsprinzips gegen seine Übertragung auf das Verfahrensrecht.220
Hintergrund des in Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes ist insbesondere die generalpräventive Funktion des materiellen Strafrechts, für die es im Bereich des Prozessrechts keine unmittelbare Entsprechung gibt. Insbesondere der Begriff der „Strafe“, welcher als „missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten“221 aufgefasst wird, zeigt, dass es sich bei materiellem Strafrecht um eine hoheitliche „Missbilligung“ menschlichen Verhaltens handelt, so dass der Strafe ein unmittelbarer, wertender Zugriff auf das Persönlichkeitsrechts des Bürgers zu Grunde liegt, verstärkt durch den Begriff der Schuld,222 wodurch sich das materielle Strafrecht erheblich von anderen hoheitlichen Eingriffen unterscheidet und daher die besondere Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf andere Eingriffssysteme außerhalb des materiellen Strafrechts anzuwenden ist. Aus diesem Grund ist Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht lediglich eine Bestätigung der allgemeinen Eingriffslehren, sondern bezieht sich stringent auf die einzigartige Besonderheit des materiellen Strafrechts innerhalb der allgemeinen hoheitlichen Eingriffsbefugnisse.223
Darüber hinaus dient das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG dazu, zu gewährleisten, dass der Gesetzgeber die Entscheidung zu treffen hat, ob und mit welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts zu verteidigen ist.224 Rechtsanwender dürfen diese Entscheidungen nicht ignorieren oder korrigierend eingreifen.225 Der Vorschrift kommt daher eine freiheitsgewährleistende und kompetenzwahrende Doppelfunktion zugute, welche ihrerseits – strukturell durchaus parallel zum verfassungstheoretischen Hintergrund der bereits skizzierten Wesentlichkeitstheorie – die Aspekte aus Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip berücksichtigen und ihre Gültigkeit im materiellen Strafrecht gewährleisten. Insofern bezieht sich die Vorschrift nur auf die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit und der Strafandrohung,226 so dass sich direkt aus Art. 103 Abs. 2 GG nach vorzugswürdiger Auffassung keine Konsequenzen für die Reichweite strafprozessualer Eingriffsnormen herleiten lassen.
Indes wäre es mehr als voreilig, wenn man daraus schließen würde, eine praeter legem stattfindende Anwendung solcher Eingriffsnormen im Wege der Analogie sei ohne weiteres zulässig.227 Denn auch wenn das für das materielle Strafrecht konzipierte Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht unmittelbar zur Anwendung gelangt, ist doch in der Ausformung der Konsequenzen, die sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergeben, namentlich mit Blick auf das Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafgesetzen, die nicht durch analoge oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung umgangen werden dürfen,228 im Ergebnis weitgehend übereinstimmt mit den Anforderungen, die sich aus den allgemeinen Grundsätzen zum Gesetzesvorbehalt ergeben. Denn die Zulassung der analogen Anwendung strafprozessualer Eingriffsnormen hätte die Missachtung sowohl der rechtsstaatlichen als auch der demokratietheoretischen Komponente des Gesetzesvorbehalts zur Folge,229 da unter diesen Umständen die gebildeten Regeln nicht auf einer parlamentarischen Entscheidung beruhen würden, sondern auf derjenigen des Rechtsanwenders. Diese Einschätzung ist nachfolgend näher zu begründen:
Die analoge Anwendung strafprozessualer Eingriffsnormen stellt einen Verstoß gegen die rechtsstaatliche Komponente des Gesetzesvorbehalts dar, weil die allgemeinen Grundsätze zur Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Eingriffshandelns in Grundrechte nicht gewährleistet wären, könnten die Exekutivorgane oder die Judikative außerhalb des Anwendungsbereichs der gesetzlichen Regelungen in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreifen. Die demokratietheoretische Komponente wäre betroffen, weil es im Falle der analogen Anwendung von Eingriffsnormen nicht der vom Volk legitimierte Gesetzgeber wäre, der darüber entscheidet, unter welchen Voraussetzungen die Einschränkung von Grundrechten zulässig ist, sondern allein die Strafverfolgungsbehörden bzw. der Ermittlungsrichter. Damit folgt, unbeschadet der Nichtanwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG im Verfahrensrecht, aus dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Prinzip des Gesetzesvorbehalts ein Verbot der analogen Anwendung strafprozessualer Ermächtigungsnormen.230 Einer entsprechenden Anwendung von Regeln, die für den Betroffenen günstig sind und daher nicht in Grundrechte eingreifen, ist insofern allerdings dogmatisch zulässig.231
Doch erschöpfen sich die Parallelen zwischen Gesetzesvorbehalt im Verfahrensrecht und Gesetzlichkeitsprinzip im materiellen Strafrecht nicht im Verbot belastender Analogien. Auch hinsichtlich der Bestimmtheit einschlägiger Normen gelten für materielles wie für formelles Strafrecht im Ergebnis vergleichbare Grundsätze.232 Im materiellen Strafrecht soll das Verbot unbestimmter Strafgesetze sicherstellen, dass für die Normadressaten klar erkennbar ist, welches Verhalten mit Strafe bewährt ist und welches nicht. In der jüngeren Vergangenheit hat das BVerfG darüber hinaus das materiellrechtliche Bestimmtheitsgebot auch auf die Judikative erstreckt, die insbesondere bei unbestimmten Gesetzen zu einer konkretisierenden und präzisierenden Auslegung angehalten ist.233
Ähnliches gilt aufgrund des Gesetzesvorbehalts in jeglichem Eingriffsverhalten des Staates in Grundrechte und daher auch unweigerlich und insbesondere im Verfahrensrecht mit seinen teilweise erheblichen Eingriffen.234 Für den Bürger soll prinzipiell aufgrund der gesetzlichen Eingriffsnorm vorhersehbar sein, unter welchen Voraussetzungen er mit Beeinträchtigungen seiner subjektiven (Grund-)Rechtspositionen zu rechnen hat.235 Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung anerkannt, dass das materielle Grundrecht auch Maßstäbe für eine Verfahrensgestaltung setzt, welche einen effektiven Grundrechtsschutz ermöglicht.236 Insbesondere bei heimlichen Ermittlungsmethoden, bei denen ein Betroffener im Regelfall allenfalls im Rahmen einer nachträglichen Offenlegung Rechtsschutzmöglichkeiten nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erfährt, ist dieser Verfahrensschutz von erheblicher Bedeutung. Der Gesetzgeber muss durch eine hinreichend klare und präzise Normgestaltung dafür Sorge tragen, dass insbesondere bei solchen heimlichen Maßnahmen eine effektive und vorbeugende Kontrolle stattfindet.237