Читать книгу Eisnächte - Ditte Birkemose - Страница 11

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Obwohl es, gelinde gesagt, ungelegen kam, musste ich jetzt für das Abendessen sorgen, denn ich hatte Harry bereits am Vortag zu Gulasch mit Kartoffelbrei eingeladen.

Anders als sonst kochte ich das Essen in der Gemeinschaftsküche, das war einfach leichter so. Dort hatte ich Ellbogenfreiheit und brauchte nicht im Bratengeruch zu schlafen. Während ich mit Kochen beschäftigt war, lag Marie vor der Tür und ließ sich von Vorübergehenden bewundern. Ihre Größe lud nicht zu kleinen Liebkosungen ein, und das war ja auch nur gut so.

»Sieh dir die an.« Eine grauhaarige Frau mit Pagenfrisur und großem Bernsteinschmuck um den Hals, die gerade Frikadellen briet, schaute aus dem Fenster und lachte. Mit lautem Gejohle übten zwei junge Männer auf dem Rasen vor der Gemeinschaftsküche das Laufen auf Stelzen.

Ich lächelte.

»Stell dir vor, jetzt ist der Sommer schon vorbei. Gestern Abend war es hundekalt, aber das lag wohl vor allem am Wind.« Seufzend wendete sie die Frikadellen. »Aber es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung, wie mein Mann immer sagt. Und solange es einigermaßen trocken bleibt, können wir uns doch nicht beklagen, oder? Aber ich finde es einfach schrecklich, wenn es Bindfäden regnet, so wie heute Morgen.« Sie schnaubte und warf erneut einen Blick aus dem Fenster. Obwohl gerade die Sonne schien, ballten sich am Horizont düstere Wolken zusammen.

»Wie lange bist du eigentlich schon hier?«, wollte sie wissen.

»Seit dem Frühling«, antwortete ich und legte den Deckel auf den Topf.

»Ich hatte doch das Gefühl, dich schon mal gesehen zu haben. Vor allem der Hund fällt auf. Mein Mann und ich waren zu Pfingsten hier.« Sie wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Aber dann sind wir zum Gardasee gefahren. Ich kann dir sagen, da haben wir einen wunderbaren Campingplatz gefunden, gleich beim See, wir fahren jedes Jahr wieder hin, und inzwischen kennen wir da eine Menge Leute.« Sie spülte das Hackbrett unter dem Wasserhahn ab. »Und da ist es fast, wie nach Hause zu kommen, wenn du verstehst. Wir machen Ausflüge miteinander und so, und abends grillen wir und spielen Karten. Das ist genau das Richtige für meinen Mann, mir haben solche Spiele noch nie gelegen. Ich meine, ich kann das schon, aber mir ist Trivial Pursuit lieber. Warst du schon mal am Gardasee?«

»Ist jetzt schon einige Jahre her.«

»Du solltest es dir aber überlegen, du würdest es nicht bereuen, das kann ich dir sagen, und ich kann dir sagen, wie der Platz heißt.« Die Wörter strömten in einem offenbar endlosen Strom aus ihr heraus. »Aber mein Mann kann den Weg besser erklären als ich, das ist Männern wohl angeboren. Du kannst doch heute Abend mal reinschauen, wir sind gleich bei den Hütten, ich kann es dir zeigen, wenn wir hier weggehen, und dann kannst du auch einige von den Bildern sehen, die wir gemacht haben, wir haben nämlich in Deutschland eine Digitalkamera gekauft, in Goslar war das, aber ich weiß wirklich nicht, ob es billiger ist, jedenfalls macht es Spaß, man kann die Bilder sofort sehen ...«

»Leider«, sagte ich bedauernd. »Ich bekomme Besuch, und da ...«

»Aber morgen vielleicht? Wir haben eine Flasche Campari, was hältst du davon? Wir haben auch Grappa, falls das ...«

»Im Moment habe ich schrecklich viel zu tun.« Ich ergriff den Topf. »Das ist sehr nett von dir, aber ich muss leider Nein sagen.«

»Aber es war ja eigentlich vor allem deinetwegen«, meinte sie und kniff die Lippen zusammen.

Ich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Das ist sehr nett von dir«, wiederholte ich, aber sie kehrte mir den Rücken zu, machte sich mit ihrem Abwasch zu schaffen und gab keine Antwort.

Ein wenig benommen verließ ich die Küche. Marie erhob sich und trottete hinter mir her zum Wohnmobil.

»Das ist doch sonnenklar.« Harry legte Messer und Gabel beiseite und nickte. »Natürlich gibt es Dinge, über die du nicht so einfach sprechen kannst. Ich meine, du stehst doch sicher auch unter einer Art Schweigepflicht, oder?«

»So kannst du das nennen.« Ich unterdrückte ein Lächeln. Harry trank einen Schluck Wein, nickte wieder und sah nachdenklich aus.

Ich reichte ihm die Schüssel mit dem Kartoffelbrei. »Nimm doch noch was.«

Er hob abwehrend die Hände. »Es gibt selbst bei Bettlern eine Grenze, aber ...« Er schwieg einen Moment, dann zwinkerte er mir zu. »Schmeckt doch einfach zu gut«, sagte er glücklich und klatschte sich einen großen Löffel voll mitten auf den Teller.

Wie immer wollte er wissen, wie mein Tag verlaufen war, und natürlich interessierte er sich vor allem für Julie, aber ich war mit meinen Auskünften ein wenig zurückhaltend gewesen. Trotzdem ließ er das Thema nicht los.

»Es hat also mit Grönland zu tun«, schloss er.

»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte ich verblüfft.

»Ja, siehst du.« Er lachte gelassen. »Ich weiß doch, dass du dich mit diesem Journalisten treffen wolltest. Ballum, heißt er nicht so? Jedenfalls hast du erzählt, dass er mit Julie in Grönland war. Und dann kann man doch wohl annehmen, dass die Lunte da oben brennt?« Er ließ sich im Sessel zurücksinken und war überaus zufrieden mit sich.

»Was soll ich denn nun antworten?« Ich lächelte resigniert. »Du bist einfach unmöglich, Harry.«

»Aber ich habe vielleicht recht?«

»Vielleicht.«

»Also habe ich recht. Ist sie wieder hochgefahren? Allein?«

Ich ignorierte diese Frage, stand auf und trug Schüssel und Teller zum Spülbecken. »Zum Nachtisch gibt es Eis und Obstsalat«, verkündete ich honigsüß.

Als Harry weg war und ich den Abwasch hinter mich gebracht hatte, ging ich mit Marie los. Wir nahmen den Weg, der an der Eisenbahn entlangführt. Die Luft war feucht und drückend, wie vor einem Gewitter. Am Himmel hingen schwere Wolken, ab und zu kam der Mond hervor und warf einen silbrigen Schimmer über die Landschaft, ansonsten war es stockfinster.

Wir waren seit einer Viertelstunde unterwegs, als Marie plötzlich stehen blieb und anfing zu knurren. Ich schaute auf. Über meinem Kopf rauschten die Flügel eines großen Vogels, der vorüberjagte und als dunkler Schatten hinten im Wald verschwand. Marie riss an der Leine.

»Das ist doch nur ein Vogel«, beruhigte ich sie und streichelte sie.

Wir gingen weiter bis zu dem Zaun, wo der Weg sich vor dem See teilt, dann wurde die Mückenplage zu arg, und wir kehrten um.

Zu Hause machte ich mir eine Tasse Tee, blätterte in Science und fand Arthur Reddingtons Artikel. Ich las ihn sorgfältig. Reddington war offenbar Physiker und angestellt bei einer Firma in den USA, wo er ein großes Projekt leitete. Es ging um die Konstruktion eines von einem Teilchenbeschleuniger betriebenen Thoriumreaktors. Das Projekt wurde zusammen mit einer australischen Gesellschaft entwickelt und würde, so Arthur Reddington, für Jahrtausende CO2-neutrale Energie liefern. Thorium an sich war jedoch nicht spaltbar und sollte deshalb durch Bestrahlung im Reaktor in das spaltbare U-233 umgewandelt werden. Bei diesem Projekt gab es gewisse Probleme, eins davon war die hohe Radioaktivität von U-233. Dennoch betonte Reddington, ein Thoriumreaktor würde unter allen Umständen weitaus weniger Atommüll liefern als ein uranbetriebener. Derzeit sei es jedoch noch nicht möglich, eine laufende Atomkernspaltung mit Thorium beizubehalten. Eine der Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, wäre die Vermischung von Thorium mit Uran und Plutonium. Aber es gebe andere und bessere Methoden. Ohne zu verraten, von welchen Methoden hier die Rede war, bezeichnete Arthur Reddington seine Forschungsergebnisse als überaus verheißungsvoll und die Zukunft als licht. Dennoch meinte er, man müsse auch die vierte Generation der konventionellen Reaktoren entwickeln, die sogenannten Schnellen Brüter.

Nach einiger Zeit konzentrierten Lesens legte ich die Zeitschrift seufzend beiseite. Ich trank einen Schluck Tee und schaute nachdenklich vor mich hin. Vieles in diesem Artikel war für mich einfach unverständlich. Es handelte sich offenbar um die Entwicklung eines neuen Typs von Atomkraftwerken. Aber was in aller Welt hatte das mit Julie zu tun?

In meiner Überzeugung, einer falschen Fährte gefolgt zu sein, machte ich mich langsam bereit zum Schlafengehen. Ich spülte meine Teetasse unter dem Wasserhahn ab, blies die Teelichter aus und öffnete die Tür des Wohnmobils. Die frische Nachtluft strömte herein, und ich fröstelte. Irgendwo in der Ferne schrie eine Eule, ansonsten war alles still. Ich gähnte, wartete zwei Minuten und schloss dann die Tür.

Ich putzte mir gerade die Zähne, als mir ein Gedanke kam. Grönland! Mir schwebte vor, dass ich irgendetwas über Thoriumfunde in Grönland gelesen hatte. Wenn das zutraf, konnte das der Zusammenhang sein, den ich suchte.

Eifrig klappte ich den Laptop auf, durchforstete das Internet und hatte sofort Glück. In einem Artikel von einem Geologen namens Emil Jessen stand unter anderem, dass die Umgebung des Kvanefjeld bei Narsaq in Südgrönland eins der weltweit größten Thoriumvorkommen aufwies ...

Ich ließ mich im Sessel zurücksinken, während sich in mir das Gefühl ausbreitete, etwas Wichtiges gefunden zu haben. Dann schaute ich auf die Uhr. Es war halb zwei, zu spät, um David anzurufen. Verflixt! Ich hätte ihm nur zu gern meine Überlegungen mitgeteilt, aber das musste warten. Dennoch hatte ich jetzt eine vorläufige Theorie, die in aller Schlichtheit darauf hinauslief, dass es zwischen Julie und Arthur Reddington eine Verbindung gab, deren Schnittpunkt Grönland sein musste.

Mit einem Schlag war alle Müdigkeit aus meinem Körper verschwunden, ich war gelinde gesagt hellwach und schenkte mir deshalb einen beruhigenden Whisky als Schlummertrunk ein. Und zum Gott weiß wievielten Male betrachtete ich Julies Foto. »Wo bist du?«, murmelte ich, aber die himmelblauen Augen gaben mir keine Antwort.

Nach einem weiteren Glas wollte ich nun endlich ins Bett gehen. Ich war mit dem Ertrag des Tages zufrieden. Natürlich hatte ich nicht gerade überwältigend viel gefunden, aber ich war doch einen Schritt weitergekommen. Die ganz große und unbeantwortete Frage war noch immer, weshalb Julie von der Erdoberfläche verschwunden war, aber obwohl ich in gewisser Weise weiterhin im Dunkeln tappte, stand ich doch nicht mehr mit leeren Händen da.

Eisnächte

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