Читать книгу Eisnächte - Ditte Birkemose - Страница 5

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Ein gealtertes Puppengesicht, so sah ich sie.

»Noch Tee?« Sie hob die Teekanne, schaute mich fragend an.

Ich legte die Hand über die Tasse, schüttelte den Kopf.

»Nein, danke.«

Sie ließ die Teekanne sinken und räusperte sich. Ganz offensichtlich fühlte sie sich peinlich berührt. Meine letzte Frage hing noch immer unbeantwortet in der Luft: »Könnte es eine natürliche Erklärung dafür geben, dass Sie seit über einem Monat nichts von Ihrer Tochter gehört haben?«

»Durchaus nicht«, sagte sie endlich. »Auch, wenn die Polizei das so darzustellen versucht.« Sie wischte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackenärmel. »Wirklich, Julie und ich hatten zwar eine kleine Meinungsverschiedenheit, aber ...«

»Müssen wir das erwähnen?«, fiel er ihr ins Wort und sah sie aus schweren Augen an. Er war blass vor Sorge und Schlafmangel.

»Es ist wichtig, dass Sie mir alles erzählen«, sagte ich in meinem pädagogischsten Tonfall.

»Aber das hatte wirklich keine Bedeutung.« Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen und verschwand in einer hilflosen Grimasse. »Es war eigentlich eher so eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter.«

»Hör jetzt auf, Kirsten.« Er seufzte. »Du hast ihr wegen der Abtreibung Vorwürfe gemacht ...«

»Abtreibung?« Ich hob die Augenbrauen.

Ein wenig Tee schwappte auf die Untertasse, als sie mit einer heftigen Bewegung die Tasse wegstellte.

»Das war ein andermal«, erklärte sie. »Und ich finde es einfach übel.« Sie ließ sich auf dem Sofa zurücksinken und schaute hinaus in den Garten. »Ich bin zwar für Abtreibungsfreiheit, aber ich finde auch, dass man zu einem gewissen Zeitpunkt Verantwortung übernehmen sollte.« Ihre Stimme war ein wenig unsicher geworden. Sie räusperte sich und schob ihre Haarspange gerade. »Verstehen Sie, was ich meine?« Sie schaute mich an.

Wir saßen im Gartenzimmer des Ehepaars Kirsten und Bo Dam Sørensen in einer Villa in Dalby. Am Vortag hatten sie sich an mich gewandt, da sie sich Sorgen machten, weil sie seit etwas über einen Monat nichts mehr von ihrer Tochter Julie, ihrem einzigen Kind, gesehen oder gehört hatten. Sie war nicht in ihrer Wohnung, und die Eltern hatten nicht die geringste Vorstellung, wo in aller Welt sie stecken könnte. Natürlich waren sie längst bei der Polizei gewesen, die offenbar glaubte, dass Julie sicher ihren Freund, einen gewissen Carel, besuchte, der in Amsterdam wohnte, und wenn nicht, dass sie dann wohl beruflich irgendwo im Ausland unterwegs sei.

Das glaubte das Ehepaar jedoch nicht. Nicht zuletzt, weil Bo vor einer Woche sechzig geworden war, und es sah ihrer Tochter einfach nicht ähnlich, zu diesem Fest nicht zu erscheinen. So war sie nicht. So war sie ganz einfach nicht. Julie war fünfunddreißig und arbeitete als feste freie Fotojournalistin für eine große Kopenhagener Tageszeitung. Und ihren Eltern zufolge war sie eine äußerst pflichtbewusste und verantwortungsvolle Frau. Abgesehen offenbar von der Sache mit der Abtreibung ...

Ich fing Kirstens Blick ein. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich und streckte die Hand nach meinem Notizblock aus. Es war ein kompliziertes Thema, und ich war nicht hergekommen, um darüber zu diskutieren.

»Ansonsten haben Julie und ich doch miteinander gesprochen«, räumte Kirsten jetzt ein. »Am Telefon meine ich. Wir sind also nicht zerstritten oder so.«

»Ihr wart auch im Café«, warf er ein.

»Ja ...«

»Weißt du noch, wann das war?«

»Nein.« Sie kratzte sich nachdenklich am Arm. »Aber ich glaube, es war an einem Sonntag.«

»Das stimmt«, bestätigte er und streckte die Beine aus. »Es war Sonntag, der Dreizehnte. Ich war nämlich bei einer Versammlung im Golfclub.«

Ich blätterte in meinem Kalender.

»Also im Juli?«

»Ja.«

Wir schwiegen für einen Moment.

Ich betrachtete das Foto von Julie. Sie hatte lange blonde Haare, blaue Augen und hohe Wangenknochen. Ich hätte sie nicht unbedingt als Schönheit bezeichnet, aber sie war anziehend. An einer Goldkette um ihren Hals hing ein kleines emailliertes Dagmarkreuz.

»Das Bild ist vor einem halben Jahr aufgenommen worden«, schaltete Bo sich ein. »Heute hat sie ganz kurze Haare.«

»Ja?« Kirsten seufzte. »Ich finde das wirklich schade.«

Ich unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte selbst lange blonde Haare, die sie zu einer gewollt achtlosen Frisur fast mitten auf dem Kopf zusammengebunden hatte.

»Und welchen Eindruck hatten Sie bei Ihrem letzten Gespräch?«, wollte ich wissen. »Kam sie Ihnen traurig vor oder ...«

»Überhaupt nicht.« Kirsten nahm sich ein Schnittchen und schob die Platte zu mir herüber. »Nun greifen Sie doch endlich zu.«

»In letzter Zeit war sie einfach in ihre Arbeit vertieft. Es war irgendwas mit dieser Umweltorganisation ...« Bo runzelte die Stirn. »Wie heißt die doch noch gleich?«

Kirsten zuckte mit den Schultern.

Er überlegte kurz, fuhr sich gedankenverloren mit den Fingern über den Nasenrücken. »Na, jedenfalls war das so, seit sie aus Grönland zurückgekommen ist.«

»Grönland?« Ich sah ihn aufmerksam an. »Wann war das denn?«

»Das muss jetzt so ungefähr ein halbes Jahr her sein. Sie war mit einem Kollegen dort oben.«

»David.« Kirsten fegte einige Krümel in ihre Hand, und ihr Armband klimperte dabei. »Sie war mit einem Journalisten namens David Ballum da oben. Das weiß ich noch, weil er eines Nachmittags aufgetaucht ist, als ich bei ihr war, um für Vorhänge Maß zu nehmen.« Ihre Augen funkelten ein wenig, und die Andeutung eines Lächelns huschte über ihre Lippen. »Eigentlich ein sehr sympathischer Mann«, fügte sie hinzu. »Das war jedenfalls mein Eindruck.«

Ich machte mir einige Notizen. »Und was wollten sie in Grönland?«, hakte ich nach.

»Sie hat mir nicht sehr viel erzählt, aber ...« Bo, der eine Weile an seiner Packung Cecil herumgespielt hatte, griff jetzt nach dem Feuerzeug, zündete sich eine Zigarette an und machte einen Lungenzug. »Es ging wohl um diese CIA-Flugzeuge, die da oben zwischenlanden.«

Kirsten musterte ihn missbilligend, dann stand sie auf und öffnete ein Fenster. »Es ging um irgendwelche Gefangene«, sagte sie über die Schulter hinweg.

»Terroristen, es waren Terroristen, die in unterschiedliche Gefängnisse gebracht werden sollten.« Er streifte die Asche ab.

»Aber das war doch geheim«, erwiderte sie. »Das stand so in der Zeitung. Und es war doch auch ungesetzlich?« Sie blickte mich fragend an.

»Es waren Terroristen«, wiederholte er und zog wieder an seiner Zigarette.

»Ja, was weiß ich.« Sie schüttelte den Kopf und ließ sich wieder auf das Sofa sinken. »Es passiert ja so viel ...« Sie verstummte abrupt, und ihre Augen wurden blank. »Das Schlimmste ist die Ungewissheit«, fügte sie leise hinzu.

Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und legte seine Hand auf ihre. »Jetzt wollen wir mal den Teufel nicht an die Wand malen. Vielleicht hat die Polizei recht und sie hat irgendeinen Auftrag angenommen, wäre nicht das erste Mal.« Er zögerte. »Oder sie ist in Amsterdam. Ihr Auto ist doch da unten, und das könnte darauf hinweisen ...«

»Aber sie hätte uns etwas gesagt.« Kirsten wurde lauter. »Sie ruft immer an und sagt Bescheid, ehe sie verreist. Immer!« Ihre Lippen zitterten. »Und sie würde nicht im Traum auf die Idee kommen, deinen Geburtstag zu verpassen, Bo.«

Sein Gesicht verdüsterte sich. Er öffnete den Mund, blieb aber stumm.

»Und die Polizei unternimmt nichts.« Sie rang auf ihrem Schoß die Hände.

»Haben Sie den Schlüssel zu ihrer Wohnung?«, fragte ich vorsichtig.

Sie erhob sich. »Der hängt im Schrank in der Diele. Möchten Sie den haben?«

»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern ...«

»Natürlich«, unterbrach sie mich, und beide nickten.

Er setzte sich anders und starrte vor sich hin. »Das ist doch klar«, murmelte er und versank in Gedanken.

»Wann waren Sie zuletzt in der Wohnung?«

Sie schien zu zögern. »Das weiß ich nicht mehr«, sagte sie dann und pustete sich eine Locke aus der Stirn. »Wir waren nur einmal da. Aber in letzter Zeit haben wir jeden Tag telefoniert, morgens, mittags und abends ...«

Um mir einen Eindruck zu verschaffen, wer diese Julie eigentlich war, stellte ich alle möglichen Fragen, die mir gerade in den Sinn kamen. Und die beiden antworteten bereitwillig. Irgendwann holte Kirsten dann auch einige Alben und zeigte mir Fotos von der Konfirmation ihrer Tochter, von ihrer Abiturfeier und ihrer Hochzeit.

»Wie lange war sie verheiratet?«, fragte ich.

»Das hat nur drei Jahre gehalten.« Kirsten seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber wir mochten ihn nicht, und da ...« Sie reckte das Kinn.

»Ach, ich weiß nicht.« Bo griff wieder nach den Zigaretten. »Henrik konnte durchaus auch sympathisch sein ...« Er klang nachsichtig.

»Ach, du nun wieder!« Sie kicherte und schaute ihn an. »Ich muss schon sagen, es wurden andere Saiten aufgezogen ...«

Sie wechselten Blicke, und Bo schmunzelte.

Ich spürte zwischen ihnen einen Funken und dachte, dass sie sich trotz der langjährigen Ehe und der Unterschiede, die sofort ins Auge sprangen, noch immer erotisch zueinander hingezogen fühlten. Inzwischen waren sie nicht mehr so angespannt wie zu Beginn meines Besuchs, und ich glaube, sie hatten irgendwie das Gefühl, dass Julie während unseres Gesprächs näher kam, fast so, als sei sie mit uns hier im Wohnzimmer. Deshalb fühlten sie sich sicherer. Aber Angst und Anspannung kehrten in dem Moment zurück, in dem ich mich zum Aufbruch bereitmachte.

»Möchten Sie nicht noch eine Tasse Tee?« Kirsten blickte mich flehend an.

Eine Welle von Mitleid durchflutete mich. Kinder sind immer die Achillessehne der Eltern, egal, wie erwachsen sie auch sein mögen. Trotzdem musste ich ihr Angebot ablehnen. Marie wartete draußen im Auto, es ging auf fünf Uhr zu, und ich musste noch einkaufen.

Neben einem Foto und Julies Wohnungsschlüsseln bekam ich die Telefonnummern von einigen Freunden und Kollegen. Leider wussten die Eltern nicht viel über den Liebhaber Carel. Nur, dass er Jazzmusiker war und am Stadtrand von Amsterdam wohnte.

»Sie kennen sich ja noch nicht mal ein Jahr«, erklärte Kirsten, »und wir sind ihm noch nie begegnet.«

Ein Schatten glitt über Bos Gesicht. »Er hätte zu meinem Geburtstag kommen sollen«, fügte er mit einer vor Sorge gepressten Stimme hinzu.

Ich nickte und sah ihn teilnahmsvoll an. Dann stand ich auf und griff nach meiner Tasche. »Vielleicht weiß jemand von ihren Kollegen, wo er wohnt«, sagte ich und reichte ihnen zum Abschied die Hand.

»Rufen Sie sofort an, wenn Sie etwas herausfinden.« Kirsten sah mich mit unruhigen Augen an.

Bo legte ihr den Arm um die Schultern.

Es nieselte, und in der Luft hing der Geruch von nasser Erde. Ich schüttelte mich und schob die Hände in die Jackentaschen. Auf der Straße fuhr ein Moped vorüber, und aus einem Garten in der Nachbarschaft war eine Motorsäge zu hören. In Gedanken verloren ging ich über den Plattenweg. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass es ein arbeitsreicher Fall werden würde.

Eisnächte

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