Читать книгу Eisnächte - Ditte Birkemose - Страница 6

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Ein Stück von der Villa entfernt hatte ich mein weißes Wohnmobil abgestellt. Marie schlief auf dem Vordersitz, aber als ich die Tür öffnete, sprang sie auf, wedelte eifrig mit dem Schwanz und leckte mir übers Gesicht.

»Verrückte Töle.« Ich lachte, streichelte sie und griff zur Leine.

Ein Stück weiter entfernt kam eine ältere Frau mit einem Pudel auf uns zu. Sie wurde langsamer und musterte uns besorgt.

Ich war daran gewöhnt, dass Maries Größe auf viele beängstigend wirken konnte, aber sie war der friedlichste Hund der Welt, wie die meisten Broholmer.

»Sie tut nichts«, versicherte ich beruhigend.

Wir blieben einen Moment stehen, damit die beiden Hunde einander beschnüffeln konnten, ehe wir weitergingen.

Kaum hatte Marie ihr Geschäft erledigt, da setzte ich mich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr zum Nærum Camping, wo ich von März bis Oktober wohnte. Im Winter hieß mein Aufenthaltsort Camping Absalon in Rødovre.

Abgesehen von Marie, war ich wieder allein. Vielleicht war das in Wirklichkeit das, wozu ich mich am besten eignete? Allein zu sein. Ich wusste es nicht. Damals hatte ich voll und fest daran geglaubt, hatte ihm jede Chance und noch mehr gegeben. Wir hatten sogar geheiratet und überhaupt. Irgendwann hatte ich dann auch, aus Notwendigkeit, meine zweifelhafte Karriere als Privatdetektivin an den Nagel gehängt und war in die Welt der weißen Kittel zurückgekehrt, als Nachtwache in einem Pflegeheim. Denn mein damaliger Mann, er hieß Frans, und ich hatten ein Haus in Bagsværd gekauft.

Bagsværd! Meine Güte, man konnte doch schon hören, dass etwas daran nichts Gutes verhieß. Und so war es dann auch gewesen. Trotzdem hatte es fast sieben Jahre gedauert, bis es mir wie Schuppen von den Augen gefallen war. Vielleicht, weil ich die ganze Zeit noch gehofft hatte, dass es irgendwann besser werden würde. Dass hinter der nächsten Straßenecke Friede, Freude, Eierkuchen warteten. Deshalb gab ich mir solche Mühe, dass ich mich unterwegs selbst verloren hatte. Was immer es gewesen sein mag, was ich so unbedingt beweisen wollte, weiß ich wirklich nicht. Aber jedenfalls hatte ich feststellen können, dass ich eine gute Köchin bin, und das kann mir niemand wegnehmen.

So sieht es jedenfalls aus, wenn ich es mal positiv betrachten will.

Denn die Wahrheit klingt nicht gut, vor allem nicht, wenn sie uns selbst trifft. Ich musste dennoch der Tatsache in die Augen schauen, dass ich auf eine seltsame Weise von Gefallsucht überwältigt werde, wenn ich mit einem Mann zusammen bin. Ein Leiden, das weit zurückreichende Wurzeln hat, aber so ist es ja meistens. Jedenfalls werde ich so hellhörig, was noch seine geringsten Bedürfnisse angeht, so dass ich meine ganz vergesse. Und das ist nicht gut, weder für ihn noch für mich. Denn es geht so natürlich nicht weiter, und der arme Mann erleidet einen Schock, wenn das brave Mädchen gefühlsmäßig so ausgehungert ist, von der Arbeit am Projekt Liebe, dass die Hexe plötzlich erwacht und ihre Forderungen geltend macht. Natürlich ging es schief. Es ging sogar zum Teufel, und eines Abends war ich allein und verweint in einem Hotel mit Blick auf eine Optikerwerbung, »Ihr Alter als Rabatt«, und eine unmittelbar bevorstehende Scheidung.

Ich war vierundvierzig und kam mir vor wie ein Fiasko. In einer Zeit, wo viele meiner Altersgenossinnen so etabliert waren, dass sie in luxuriöse Häuser in den warmen Ländern investierten, war ich unbehauster denn je, und Frans und ich mussten bald begreifen, dass ein Haus im Tusindfrydvej in Bagsværd nicht die allerattraktivste Adresse ist, die man sich wünschen kann. Trotz des neuen Daches und allerlei anderer kostspieliger Verbesserungen machten wir beim Hausverkauf keinerlei Gewinn.

Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, und das Wohnmobil wurde meine Rettung.

Nachdem ich rasch im Supermarkt eingekauft hatte, fuhr ich weiter, bog in Skodsberg ab und nahm die Straße durch den Wald. Es regnete nicht mehr. Ab und zu kam die Spätnachmittagssonne hinter einer Wolke hervor und warf ihr rotgoldenes Licht über die Landschaft.

Ich fuhr durch das Tor auf den Campingplatz. Zwar war es erst Mitte August, aber der Vogelgesang war fast verstummt, und viele Sommergäste hatten die Gegend bereits verlassen. Harry, ein pensionierter Volksschullehrer von Ende sechzig, saß vor seinem Wohnwagen und genoss ein Bier. So wie ich war er seit dem März hier, und wenn der Campingplatz Ende Oktober für den Winter dichtmachte, würde auch er zum Absalon Camping in Rødovre übersiedeln. Ich winkte ihm zu, fuhr weiter zu meinem festen Platz und hielt an. Dann öffnete ich die Tür, streckte mich und ließ Marie herausspringen. Sie lief umher und schnupperte am Gras, blieb aber wie immer in der Nähe des Wohnmobils.

Ich blieb eine Weile sitzen und entspannte mich, während ich dem Specht zuhörte, der in der Nähe an einem Baum herumhämmerte. Als Notlösung war der Campingplatz wirklich nicht die schlechteste, die man sich vorstellen konnte. Ich war gern in der Natur unterwegs, und von meinem Platz in einer ein wenig abgelegenen Ecke am Zaun konnte ich jeden Morgen eine kleine Rehfamilie zwischen den Bäumen äsen sehen.

Offiziell wohnte ich bei meinem Sohn Benjamin, der verheiratet war und eine große Wohnung in Frederiksberg besaß. Anfangs hatte er sich übergroße Sorgen gemacht. »Du kannst doch nicht in einem Wohnwagen leben«, hatte er mir vorgehalten, als ich ihm nach der Scheidung meine Pläne offenbart hatte.

»Ich rede nicht von einem Wohnwagen, sondern von einem Wohnmobil«, erklärte ich.

Er machte eine Handbewegung und verdrehte die Augen. »Ist ja wohl dasselbe«, meinte er.

Egal, welche guten Argumente ich ihm auch vortrug, er ließ sich nicht überzeugen. Anders als sein sechs Jahre alter Sohn Sigge. »Spitze, Oma«, jubelte er und sah mich mit strahlenden Augen an.

»Ja, das ist super«, stimmte seine vierjährige Schwester Ursula zu. Sie lächelte selig und strich ihr Kleid glatt. Und meine Schwiegertochter Joan nickte nachdenklich. »Klingt gar nicht so blöd«, gab sie zu.

Mein Magen knurrte vor Hunger. Ich ging in die Küche, leerte meine Einkaufstüten aus und packte alles in den Kühlschrank. Dann verquirlte ich Eier für ein Omelett, zerschnitt einen Salatkopf und öffnete eine Flasche Rotwein.

Beim Essen kreisten meine Gedanken um Julie. Ich legte ihr Bild vor mich auf den Tisch, betrachtete sie eingehend und nippte am Rotwein. Ihr Blick und ihr Lächeln ließen sie selbstsicher wirken. Oder vielleicht eher kompetent? Jedenfalls sah sie aus wie eine Frau, die ihren Wert kennt und mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Sie brauchte sicher auch eine gute Portion Selbstbewusstsein, um als Freie arbeiten zu können, und wenn ich ihre Eltern richtig verstanden hatte, fehlte es auch nicht an Aufträgen, also leistete sie sicher gute Arbeit. Vielleicht war sie sogar eine Fighterin? Sie war fünfunddreißig und hatte zweimal abtreiben lassen. Vielleicht wegen der Karriere? Wollte sie einfach keine Kinder, oder ...

»Wer bist du?«, murmelte ich und ließ den Zeigefinger über das Foto gleiten.

Die himmelblauen Augen sahen mich an. Ich stand für den Moment mit leeren Händen da, konnte mich nur an meine Intuition halten, hoffte aber, die Teile des Puzzles, die ein Bild von ihr ergeben sollten, würden sich bald zusammenfügen.

Ich legte Messer und Gabel hin und nagte nachdenklich an meiner Lippe. Wer war wohl der Vater des Kindes, das sie sich kürzlich hatte wegmachen lassen? Der Jazzmusiker in Amsterdam? Carel? Oder vielleicht ein ganz anderer? Tja ... es ließ sich auch nicht ausschließen, dass ihr Streit bei den Eltern mehr bedeutet hatte, als Kirsten zugeben mochte. Ich hörte ihre Stimme wie ein Echo in meinem Kopf. »Es war eher eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter«, hatte sie sehr praktisch gesagt. Aber im Grunde hatte sie wohl kein Recht, sich auf diese Weise in Julies Leben einzumischen. Julie hatte sicher ihre Gründe, und es war verständlich, wenn sie wütend und verletzt reagiert hatte. Verhielt es sich so, und hatten Bo und Kirsten deshalb nichts von ihr gehört? Ich überlegte. Nein, das ergab keinen Sinn. Denn auf irgendeine Weise hatte ich das Gefühl, dass Julie immer »Papas Mädchen« gewesen war, und wenn das stimmte, dann hätte sie nie und nimmer seinen Geburtstag versäumt.

Marie, die unter dem Tisch lag und fast allen Platz in meiner bescheidenen Behausung mit Beschlag belegte, erhob sich und sah mich fragend an. Es war sieben Uhr, und sie hielt offenbar die Zeit für den Abendspaziergang für gekommen.

»Bin gleich so weit«, murmelte ich, kraulte sie hinter dem Ohr und schaute dann wieder auf das Foto. Und plötzlich überkam mich ein seltsames, beunruhigendes Gefühl. Ich blieb noch zwei Sekunden sitzen. Dann stand ich auf, räumte Teller und Besteck in die Spüle und griff zur Hundeleine.

Eisnächte

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